Ein Festival der Entdeckungen im großen Format |
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Starker Kurzfilm: We lived our ordinary Lives von Daya Cahen |
Von Dieter Wieczorek
Es ist schon ein Vergnügen, ein großzügig subventioniertes Festival zu erleben. Es ist noch ein weit größeres, wenn dieses Festival eine deutliche Tendenz zum innovativen und unabhängigen Filmschaffen aufweist, an Neuendeckungen interessiert ist und ästhetische Risiken nicht scheut. Durch sein Konzept wie seinen Umfang ist das Breslauer Festival New Horizons unter den europäischen Festivals nur vergleichbar mit Rotterdam. Es bietet einen 500 Seiten umfassenden Katalog, der eine umfassende Rückschau auf die aktuell und historisch signifikante Weltkinoszene wirft.
Auch an technischer Perfektion mangelt es hier nicht. Tickets sind bequem ohne Warteschlangen zu buchen. Nach den Projektionen organisiert das Festival regelmäßig Gespräche mit den Filmemachern. Allein acht Spielstätten sind in einem Multiplexkino untergebracht, zwei weitere in einer etwa 15 Minuten entfernten Spielstätte. Hinzu kommt die große Open-Air-Leinwand im Zentrum der mit Flussläufen umgebenden idyllischen Stadt Breslau, die allnächtlich Hunderte Besucher anlockt. Bei diesem Angebot wird die Wahl zur angenehmen Qual.
Weiterhin bietet das Festival für die Gäste jeden Abend auf einem großzügig angelegten Terrain Konzerte und weiträumige Begegnungsstätten. Kurz, New Horizons ist ein (nicht hinreichend bekanntes) Megafestival, das in wenigen Absätzen kaum zu beschreiben ist.
Die internationale Wettbewerb, mit zwölf Filmen eher klein gehalten, bietet kein spektakuläres, sondern ein sensibles Kino. In Dominga Sotomayor Castillo Thursday till Sunday etwa verdichten sich marginalen Ereignisse eines Ausfluges im Norden Chiles zu einem komplexen Porträt einer Kleinfamilie und ihrer internen Konflikte, allein durch Beobachtungen ohne jeden Kommentar oder distanzierten Blick. In der nur scheinbar naiven Kinderperspektive, die Sotomayor Castillo als Form wählt, kristallisieren sich Dissonanzen und der Versuch, sie zu kaschieren, nur umso spürbarer.
Eine weitere Sektion war Filmen über oder in Bezug auf internationale Kunst gewidmet. Mit nur wenigen Hundert Dollar realisiert, offeriert der in Neuseeland lebende Florian Habicht in Love Story eine romantisch-realistische, fiktional-dokumentarische Traumfahrt durch New York, eine Geschichte über mögliche Liebe und ihrer Transformation durch ihre Medialisierung, einen Film folglich, der über sich selbst spricht und das, was er verändert und unzugänglich macht, beginnt die Kamera zu laufen, und auf der anderen Seite einen Film voller poetischer Ideen und überraschenden Szenen, offen für Interventionen aller Art, von zufällig befragten Straßenpassanten bis zum großen Veto der Protagonistin und Geliebten. Die verschiedenen Dimensionen und Konzepte, was Liebe sein kann und will, werden hier tragikkomisch durchgespielt im Konflikt mit dem Willen zur künstlerischen Produktion.
Michael Palm kulturkritischer Blick auf unsere Sicherheitsgesellschaft und den hohen Preis, der für diese »Sicherheit« zu zahlen ist, dechiffriert den Schlüsselmechanismus der aktuellen Zerstörung des intuitiv vitalen Lebensstiles. Low Definition Control – Malfunctions #0 zeigt eine visuelle Kultur der Fernüberwachung, in der das beobachtete Subjekt per se zur Bedrohung wird. Gleichzeitig wird durch die Ideologie »Antizipation des
Übels« bereits im Ansatz alles spontane Leben und assoziative Bewusstsein unterminiert.
In diese Reihe kultureller Beobachtungen – doch einer ganz andere Perspektive folgend – reiht sich auch Rodney Aschers Dokumentarfilm Room 237 problemlos ein, bietet er ein Potpourri detailliert Analysen über Stainley Kubriks The Shining. In diesem Schlüsselwerk kinematographiescher Hermeneutik, das in keiner
Schulvideothek fehlen sollte, kommen Spezialisten zu Wort, die allesamt ebenso kuriose wie komplexe, ebenso überzeugende wie verblüffende Interpretationen liefern, beruhend auf unglaublichen Detailanalysen, die erst durch ein dutzendfaches Durchsehen eines Films möglich werden. Room 237 ist ein faszinierender Beitrag zur möglichen Komplexität filmischer Meisterwerke.
Dem polnischen Kurzfilme bietet das Festival besonders viel Raum. Sechs fiktionale, drei dokumentarische und zwei Animationsprogramme sind deutliches Zeichen, das New Horizons besonders an neuen, noch nicht vereinnahmten Talenten interessiert ist, die hier ihre erste Chance bekommen, sich einem internationalen Publikum zu stellen. Hinzu kommen die europäischen Kurzfilmprogramme. Hier wiederum liegt der Akzent besonders auf dem experimentierenden Filmgeschehen, die mit drei Programmblöcken den umfangreichsten Part stellt, gefolgt von zwei Dokumentar- und einem Animationsprogramm. In der Dokumentarfilmsektion besonders hervorzuheben ist der niederländische Beitrag We lived our ordinary Lives von Daya Cahen, die den Selbstdarstellungen von Kriegsverbrechern aus Sarajevo in den internationalen Gerichtstribunalen nachgeht. Im experimentellen Teil fanden gleich zwei deutsche Arbeiten Eingang: der international überaus erfolgreiche, metaphorisch- enigmatische Meteor des »Altmeisterpaares« Christoph Girardet und Matthias Müller und der mit einer unverständlich fremdlautigen Off-Stimme begleiteten assoziativen Schnellfahrt durch die artifizielle Wirklichkeit einer indischen Metropole. Bernd Lützelers bietet in The Voice of God einen delirierenden Gott, der auf Kommunikation verzichtet und sich seiner eigenen Stimme erfreut.
Umfangreiche Retrospektiven waren Carlos Reygadas (Mexiko), Ulrich Seidl (Österreich), Peter Tscherkassky (Österreich), Dušan Makavejev (Belgrad), einem der Hauptvertreter der in den 60er Jahren beginnenden New-Wave-Bewegung des Balkan-Films, und dem polnischen Animationsfilmer Witold Giersz gewidmet.
Doch wie gesagt, der Katalog umfasst 500 Seiten und eine Reise nach Breslau ist für alle am rebellischen Film Interessierte nur zu empfehlen.