06.06.2013

Ein Festival der Entde­ckungen im großen Format

We lived our ordinary Lives von Daya Cahen
Starker Kurzfilm: We lived our ordinary Lives von Daya Cahen

Das 12. Internationale Film Festival New Horizons in Breslau

Von Dieter Wieczorek

Es ist schon ein Vergnügen, ein großzügig subven­tio­niertes Festival zu erleben. Es ist noch ein weit größeres, wenn dieses Festival eine deutliche Tendenz zum inno­va­tiven und unab­hän­gigen Film­schaffen aufweist, an Neuen­de­ckungen inter­es­siert ist und ästhe­ti­sche Risiken nicht scheut. Durch sein Konzept wie seinen Umfang ist das Breslauer Festival New Horizons unter den europäi­schen Festivals nur vergleichbar mit Rotterdam. Es bietet einen 500 Seiten umfas­senden Katalog, der eine umfas­sende Rückschau auf die aktuell und histo­risch signi­fi­kante Welt­ki­no­szene wirft.

Auch an tech­ni­scher Perfek­tion mangelt es hier nicht. Tickets sind bequem ohne Warte­schlangen zu buchen. Nach den Projek­tionen orga­ni­siert das Festival regel­mäßig Gespräche mit den Filme­ma­chern. Allein acht Spiel­stätten sind in einem Multi­plex­kino unter­ge­bracht, zwei weitere in einer etwa 15 Minuten entfernten Spiel­stätte. Hinzu kommt die große Open-Air-Leinwand im Zentrum der mit Fluss­läufen umge­benden idyl­li­schen Stadt Breslau, die allnächt­lich Hunderte Besucher anlockt. Bei diesem Angebot wird die Wahl zur ange­nehmen Qual.

Weiterhin bietet das Festival für die Gäste jeden Abend auf einem großzügig ange­legten Terrain Konzerte und weiträu­mige Begeg­nungs­stätten. Kurz, New Horizons ist ein (nicht hinrei­chend bekanntes) Mega­fes­tival, das in wenigen Absätzen kaum zu beschreiben ist.

Die inter­na­tio­nale Wett­be­werb, mit zwölf Filmen eher klein gehalten, bietet kein spek­ta­ku­läres, sondern ein sensibles Kino. In Dominga Sotomayor Castillo Thursday till Sunday etwa verdichten sich margi­nalen Ereig­nisse eines Ausfluges im Norden Chiles zu einem komplexen Porträt einer Klein­fa­milie und ihrer internen Konflikte, allein durch Beob­ach­tungen ohne jeden Kommentar oder distan­zierten Blick. In der nur scheinbar naiven Kinder­per­spek­tive, die Sotomayor Castillo als Form wählt, kris­tal­li­sieren sich Disso­nanzen und der Versuch, sie zu kaschieren, nur umso spürbarer.

Eine weitere Sektion war Filmen über oder in Bezug auf inter­na­tio­nale Kunst gewidmet. Mit nur wenigen Hundert Dollar reali­siert, offeriert der in Neusee­land lebende Florian Habicht in Love Story eine roman­tisch-realis­ti­sche, fiktional-doku­men­ta­ri­sche Traum­fahrt durch New York, eine Geschichte über mögliche Liebe und ihrer Trans­for­ma­tion durch ihre Media­li­sie­rung, einen Film folglich, der über sich selbst spricht und das, was er verändert und unzu­gäng­lich macht, beginnt die Kamera zu laufen, und auf der anderen Seite einen Film voller poeti­scher Ideen und über­ra­schenden Szenen, offen für Inter­ven­tionen aller Art, von zufällig befragten Straßen­pas­santen bis zum großen Veto der Prot­ago­nistin und Geliebten. Die verschie­denen Dimen­sionen und Konzepte, was Liebe sein kann und will, werden hier tragik­ko­misch durch­ge­spielt im Konflikt mit dem Willen zur künst­le­ri­schen Produk­tion.

Michael Palm kultur­kri­ti­scher Blick auf unsere Sicher­heits­ge­sell­schaft und den hohen Preis, der für diese »Sicher­heit« zu zahlen ist, dechif­friert den Schlüs­sel­me­cha­nismus der aktuellen Zers­tö­rung des intuitiv vitalen Lebens­stiles. Low Defi­ni­tion Control – Malfunc­tions #0 zeigt eine visuelle Kultur der Fernüber­wa­chung, in der das beob­ach­tete Subjekt per se zur Bedrohung wird. Gleich­zeitig wird durch die Ideologie »Anti­zi­pa­tion des Übels« bereits im Ansatz alles spontane Leben und asso­zia­tive Bewusst­sein unter­mi­niert.
In diese Reihe kultu­reller Beob­ach­tungen – doch einer ganz andere Perspek­tive folgend – reiht sich auch Rodney Aschers Doku­men­tar­film Room 237 problemlos ein, bietet er ein Potpourri detail­liert Analysen über Stainley Kubriks The Shining. In diesem Schlüs­sel­werk kine­ma­to­gra­phie­scher Herme­neutik, das in keiner Schul­vi­deo­thek fehlen sollte, kommen Spezia­listen zu Wort, die allesamt ebenso kuriose wie komplexe, ebenso über­zeu­gende wie verblüf­fende Inter­pre­ta­tionen liefern, beruhend auf unglaub­li­chen Detail­ana­lysen, die erst durch ein dutzend­fa­ches Durch­sehen eines Films möglich werden. Room 237 ist ein faszi­nie­render Beitrag zur möglichen Komple­xität filmi­scher Meis­ter­werke.

Dem polni­schen Kurzfilme bietet das Festival besonders viel Raum. Sechs fiktio­nale, drei doku­men­ta­ri­sche und zwei Anima­ti­ons­pro­gramme sind deut­li­ches Zeichen, das New Horizons besonders an neuen, noch nicht verein­nahmten Talenten inter­es­siert ist, die hier ihre erste Chance bekommen, sich einem inter­na­tio­nalen Publikum zu stellen. Hinzu kommen die europäi­schen Kurz­film­pro­gramme. Hier wiederum liegt der Akzent besonders auf dem expe­ri­men­tie­renden Film­ge­schehen, die mit drei Programm­blö­cken den umfang­reichsten Part stellt, gefolgt von zwei Doku­mentar- und einem Anima­ti­ons­pro­gramm. In der Doku­men­tar­film­sek­tion besonders hervor­zu­heben ist der nieder­län­di­sche Beitrag We lived our ordinary Lives von Daya Cahen, die den Selbst­dar­stel­lungen von Kriegs­ver­bre­chern aus Sarajevo in den inter­na­tio­nalen Gerichts­tri­bu­nalen nachgeht. Im expe­ri­men­tellen Teil fanden gleich zwei deutsche Arbeiten Eingang: der inter­na­tional überaus erfolg­reiche, meta­pho­risch- enig­ma­ti­sche Meteor des »Altmeis­ter­paares« Christoph Girardet und Matthias Müller und der mit einer unver­s­tänd­lich fremd­lau­tigen Off-Stimme beglei­teten asso­zia­tiven Schnell­fahrt durch die arti­fi­zi­elle Wirk­lich­keit einer indischen Metropole. Bernd Lützelers bietet in The Voice of God einen deli­rie­renden Gott, der auf Kommu­ni­ka­tion verzichtet und sich seiner eigenen Stimme erfreut.

Umfang­reiche Retro­spek­tiven waren Carlos Reygadas (Mexiko), Ulrich Seidl (Öster­reich), Peter Tscher­kassky (Öster­reich), Dušan Makavejev (Belgrad), einem der Haupt­ver­treter der in den 60er Jahren begin­nenden New-Wave-Bewegung des Balkan-Films, und dem polni­schen Anima­ti­ons­filmer Witold Giersz gewidmet.

Doch wie gesagt, der Katalog umfasst 500 Seiten und eine Reise nach Breslau ist für alle am rebel­li­schen Film Inter­es­sierte nur zu empfehlen.