Border Gaze: Grenzblick |
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W.R. – Die Mysterien des Organismus |
Von Brigita Malencia
Das Land, das einmal Jugoslawien war, trägt heute viele Namen. Seit über 20 Jahren prägen neue Grenzen und Grenzziehungen diese europäische Landschaft. Hier bilden die Ränder Europas ihre eigene Semiperipherie zwischen EU und Balkan, zwischen mitteleuropäischer und osmanischer Tradition. Mit dem Rücken zum Sozialismus und zum Turbo-Kapitalismus gewandt, werden die Räume zwischen Individuum und Gemeinschaft heute neu verhandelt.
Mitten in Europa brachten in den 1990er Kriege neben traumatisierten Gesellschaften, sieben neue Staaten hervor. Sie scheinen dem westlichen Europa of genug immer noch fern zu sein, trotz EU-Erweiterung. Denn die Grenzen, die unsere europäische Wirklichkeit einhegen, schließen zugleich die Wahrnehmung der kleinen, alltäglichen Geschichten dieser Grenzverschiebungen aus.
»border gaze«, der Grenzblick vergegenwärtigt als deterritorialisierter Blick Veränderungen, Sehnsüchte, Migrationen, Verletzbarkeiten, Widerstände. Er macht aber auch die Stärken der Menschen sichtbar, die mit diesen Brüchen und Grenzen nicht nur zu leben wissen, sondern mit ihrer Geschichte auch Momente der Überwindung schaffen.
Kosovo, Istrien und Bosnien stehen in »border gaze« exemplarisch für die Grenzräume, in welchen intime Beziehungen und soziale Fragen Teil der Grenzziehungen sind. Im Fokus der Reihe steht zudem das Zagreber Produktionshaus »Factum«, das mit seinen Filmen wesentlich zur regen Entwicklung eines unabhängigen Dokumentarfilms in Kroatien beitrug. Alle Filme werden in Erstaufführung in München gezeigt.
Das Werkstattkino ergänzt mit der Spätvorstellung »Balkan Grill« die Reihe »border gaze«. Den Auftakt macht Dusan Makavejevs legendärer W.R. – Die Mysterien des Organismus, der auf 35mm aus dem Fundus des Werkstattkinos stammt.
Ein seltener Glücksfall, einen der Paradefilme der jugoslawischen Schwarzen Welle in München zu sehen. Der Fall Charms (Slucaj Harms) ist ein weitgehend in Vergessenheit geratener jugoslawischer Film aus der Endphase jugoslawischer experimenteller Kulturproduktion (1987). Am russischen Schriftsteller des Absurden, Daniil Charms, zeigt der Regisseur Slobodan Pesic die Absurdität des kommunistischen Regimes.
Als dritter Film führt Wolfgang Staudtes Herrenpartie aus dem Jahr 1964 in die Zeit deutscher Aufarbeitung der NS-Zeit. Ein deutscher Männergesangsverein strandet auf dem Weg an die Adriaküste in einem kleinen Dorf, in dem nur Frauen leben. Es stellt sich heraus, dass ehemalige Wehrmachtsoldaten auf die Witwen jugoslawischer Partisanenkämpfer treffen.
Im Zentrum der einwöchigen, im Werkstattkino präsentierten Reihe steht der Fokus auf dem Zagreber Produktionshaus »Factum«. In seinem mittlerweile über fünfzehnjährigen Bestehen waren es immer wieder Filme von »Factum«, die nicht nur in Kroatien, sondern auch in der Region wichtige Impulse für die gesellschaftspolitische Debatte gaben. 1997 wurde »Factum« vom Regisseur und Produzenten Nenad Puhovksi ins Leben gerufen, mit dem Ziel Dokumentarfilmern in Kroatien eine von
politischen Strukturen unabhängige Finanzierung und Unterstützung zu gewährleisten. Seitdem entstanden rund 60 Filme, die als Kurz- oder Langfilm einen etwas anderen Blick auf die Gesellschaft werfen.
Anfangs war es vor allem der Krieg und seine heroische Huldigung, der mit »Factums« kritischen Filmen hinterfragt wurde. Sie stellten die kroatische Kriegsgewalt in den Vordergrund, die es nach der Meinung vieler Kroaten nicht gab (»Sturm über der Krajina« im Jahr 2001).
Im Fokus finden sich aber auch die stillen Seiten des Alltags wieder, die Verlierer einer im Umbruch sich befindenden Gesellschaft, die von den Gewalttaten, die im Namen der Gemeinschaft verübt wurden, noch immer geprägt wird. Factums Filme zeigen Menschen, die hinter diesen Erfahrungen und Lebenswelten stehen, lassen aber auch die Menschen selbst erzählen, wie den Obdachlosen Cedo. Insgesamt werden an den ersten vier Tagen sieben Filme gezeigt, die von Factum produziert wurden, vier neuere und drei ältere.
Die Autorin ist Organisatorin der Reihe »border gaze«. Mehr Informationen unter www.balkanet.de