Das Internalionale Dokumentarfilm-Festival Marseille (FID) |
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Our Terrible Country – Sieger im internationalen Wettbewerb |
Von Dieter Wieczorek
In neuen Räumlichkeiten, eine einladende weiträumige Terrasse mit weitem Blick auf das Mittelmeer zur Seite, präsentierte sich das Festival in neuen Look. Unter einem Zeltdach mit Bar und Restaurant können kleine Pausen zwischen den oft fordernden Filmen erholsam sein.
Fordernd ist das Internationale Film Festival Marseille (FID). Es zieht aus der Norm schlagende Formate und Ästhetiken vor, scheut das Komplizierte und Individuelle nicht, macht keine Kompromisse an Standards und übliche Erwartungen, und findet doch sein bemerkenswert großes Publikum, das bereits am Nachmittag lockende Sonnenstunden opfert, um einem fremden Blick auf das Reale zu folgen.
Zuweilen ist das FID ganz unmittelbar politisch und aktuell. Syrien ist der Schauplatz Ziad Homsis und Mohammad Ai Atassis Film Our Terrible Country (Unser fürchterliches Land). Auf den Spuren des Dissidenten Yassin Haj Saleh, der 16 Jahre einsass unter dem Regime Hafez Al-Assads und trotzdem in Damaskus als Schriftsteller und Zeitzeuge ausharrte, bis er schliesslich sich gezwungen fand, den unbewohnbar gewordenen Ort zu verlassen. Nach kurzfristigem Aufenthalt in der zunehmend verwaisenden Ortschaft Doula macht er sich zu Fuss auf zu seiner Heimatstadt Ar-Raqqah. Auf dem Weg erfährt er, dass auch diese bereits sich in der Hand extremer Islamiten befindet, der gefährliche Marsch sich folglich als sinnlos entpuppt. Aus der Sicht dieses Mannes wird der politische und kulturelle Verfall des einst reichen Landes schmerzhaft deutlich. Das tägliche Leben als hastige Improvisation unter Lebensgefahr ist hier in Nahansicht zu haben. Our Terrible Country gewann die internationalen Wettbewerb.
Der Film korrespondiert unmittelbar mit FIDs Abschlussfilm Return to Homs (Rückkehr nach Homs) Talal Derkis, einer Reihe von Porträts junger Syrer, die alle um ihre Position ringen, was zu tun und zu lassen sei, kämpfen, stillhalten, fliehen..., nach Homs zurückzukehren. Derkis Film dokumentiert die Unmöglichkeit, richtige Entscheidungen treffen zu können. Er überzeugt durch die Intensität der Selbstdarstellungen.
FISs diesjähriger Focus auf Syrien wurde noch ergänzt durch Liwaa Yazjis Haunted (Verfolgte), der die tägliche nomadische Überlebensimprovisation in den Mittelpunkt rückt. Die syrisch-deutsche Kollaboration erinnert an das Schicksal der tausende ins Exil Getriebenen im Schatten der militärischen Auseinandersetzungen. Ihr Schicksal wird hier durch das Einzelner nachfühlbar, die ihren gesamten Erinnerungs- und Lebensraum verloren haben, zuweilen über Nacht, zuweilen nach langem Zögern, da es auch kein Wohin gibt.
FID zeigt sich offen für mitreissende Einzelschicksale, wie das des US-Amerikaners Chris Kirk, den eine attraktive kolumbianisch-japanische Schönheit derart aus der Bahn wirft, dass er schliesslich zum Drogenhändler wird. In Haft hat er Gelegenheit, seine unglaubliche Geschichte zu erzählen, energisch und humorvoll. Der brasilianische Film Maira Bühlers und Matias Marianis I Touched All Your Staff (Toquei todas as suas coisas) fordert das Imaginationsvermögen des Zuschauers und katapultiert ihn in persönliche Erinnerungen... Meist bleibt die Kamera auf Kirk fixiert, der in einer schlichten Zelle seine Geschichte Revue passieren lässt, selten nur illustriert sie mit Aussenräumen und Aktionsbildern. Aber das Experiment glückt. Der Film ist schlicht mitreissend, eine Ode auf Liebesleidenschaft und Femmes fatales.
Ein von Leidenschaft dahin Gerissener ist auch Flavio de Carvalho, ein anerkannter und erfolgreicher Maler, Plastiker und Architekt, der – Fitzgeraldo zuvor eilend – tief in den Amazone eindringt, um Kontakt mit Ureinwohners für seinen ersten Film aufzunehmen. An Bord des Bootes sind besonders zwei junge Frauen zu bemerken, die sich Hoffnungen auf eine Schauspielkarriere machen. Die Reise transformiert sich in einem Alptraum von Streitigkeiten, Verwerfungen und Eifersüchteleien, der sich zuspitzt zu einer bewaffneten Konfrontation zwischen dem Kapitän und De Carvalhos. Die Brasilianerin Alfeu França kommentiert in Die weiße Göttin (A Deusa Branca) die hinterbliebenen Filmfragmente dieser Reise im Jahr 1958 mit Humor. Sie dechiffriert die Phantasmen der Kolonialisierung und würdigt zugleich einen außerordentlichen Mann, der ruhelos erkunden und verstehen wollte, der den Sprung in ein ihm unbekanntes Metier in einer nicht nur unbekannten, sondern lebensgefährlichen Umgebung wagte.
Noch getopt durch seine Risikoradikalität wird De Carvalho allerdings durch den in Harlem wohnenden Antoine Yates. Der lebte dort in einem mittelgrossen Appartement über Jahre hinweg mit Al, einem etwa vier Meter langem Alligator und Ming, einem ausgewachsenen Tiger. Phillip Warnells dessen Film Outlandish (2009) bereits um Animalität kreiste, rekonstruiert in Ming of Harlem: Twenty One Storys in the Air diese aussergewöhnliche Gemeinschaft und beobachtet den in der nachkonstruierten Wohnung umher schweifen Alligator und Tiger in ihrer unheimlich explosiven Ruhe. Zuweilen nähern sie sich der Kamera und eine gewisse Spannung wird spürbar... Unvorstellbar dieses Zusammenleben, aber doch dokumentiert durch Polizeiberichte und TV-Nachrichten, wie auch durch samt Statements Yates selbst, der vor allem hervorhebt, diese Tiere vor dem Jagd in der »freien Natur« habe schützen zu wollen. Yates wirkt jederzeit luzid, weder fanatisch noch wirr oder verrückt. Das Zusammenleben kam erst ans Licht der Öffentlichkeit, als er von Ming angegriffen wurde, wahrscheinlich aufgrund von Futtermangel. Mein Fehler, sagt Yates. Diese hochspezifische Geschichte gehört ins Guiness-Buch der Extremsituationen. Warnell begnügt sich nicht damit, einen bloss spektakulären Film zu machen, sondern lässt auch Reflexionen des Philosophen Jean-Luc Nancy einfliessen, um sich dem Unglaublichen auch auf diese Weise anzunähern. Warnells Film wurde mit dem Georges de Beauregard Internation Preis geehrt.
In eine licht-, freud-, und farblose Welt, in ein Purgatorium der apathischen Körperexplorationen, Ausdörrungen, Grimassen und Verkrampfungen des Drogen- und Prostitutionsmilieus führt der Franzose Antoine d’Agata in Atlas. Sein Reisejournal ist eine Nahansicht auf Schattenwesen und Borderlineexistenzen, die in Räumen und Zellen ohne jede Öffnung und Alternative zu hausen scheinen. Selbst zu Wort kommend reflektieren diese Existenzen über sich selbst in schmerzvoller Klarheit, offerieren ihre (Ab-)Gesänge aus einer verstossenen Welt.
Eine würdigende Erwähnung im Internationalen Wettbewerb ging an Eduardo Williams für J'ai oublié. Der junge argentinische Filmemacher folgt in Vietnam einer Gruppe junger Männer auf ihren täglichen, oft gefährlichen Körpereinsatz in Kauf nehmenden Abenteuerreisen, hin zu unzugänglichen Orten und Zonen, wie Hausdächer, Bauruinen und leer stehenden Neubauten. In diesem Bewegungsfluss wird ein vitales Gefühl der Freiheit im konkreten Sinn einer Wiederaneignung des eigenen Lebens eingefangen.
FIDs eigentliche Qualität und Besonderheit ist, Risiken nicht zu scheuen und sich formal und thematisch auf Fremdland zu begeben, anders gesagt, Filmen eine Chance zu geben, die nicht an schlichte Identifikationen und Widererkennungsmechanismen appellieren. Einer dieser Filme ist gewiss Jorge Leóns Before We Go. Der im Wettbewerb platzierte belgische Film geht einigen von Todeskrankheiten gezeichnet Menschen nach, die in einem Theaterraum in Form von Bewegung, Tanz und Choreographie neue Erfahrungen machen und zu einer neuen Intimität mit ihrem eigenen Körper finden, wie zu anderen Körpern. Einige dieser Szenen berühren stark durch diese erstmals erlebte Glückserfahrung, mit dem anderen Körper spielerisch und leicht lustvoll umzugehen. León wählt eine Mischtechnik eher dokumentarischer und deutlich arrangierter fiktiver Szenen, bis zur Bereitstellung eines Orchesters. Das Brüsseler Opernhaus ist gewiss der geeignete Platz hierfür. Dieser befremdliche Tanz mit dem Tod bezieht Ängste wie Todesauflehnung in sich ein. Er ist ein herausforderndes Spiel mit der Zeit. Es ist das Ringen um einen noch möglichen Glücksaugenblick, das diesen Film so (ein)dringlich macht. Die vom Tod herausgeforderte Kunst beginnt ihren Seiltanz.
Noch einmal: das FID ist eines der wenigen Festivals, das Filmen ohne Marktchancen zu einem sichtbaren Leben verhilft. Diese wenigen, derart radikalen Festivals lassen bestimmte, abweichende Film erst entstehen, und verschaffen ihnen dann ein Forum zur Begegnung mit dem Publikum. Die Wette gilt, die Wette wurde erneut gewonnen. Eine differente Kultur ist die eigentliche Kultur. Der Rest ist Selbstbestätigungsarrangement.