01.08.2014

Das Inter­na­lio­nale Doku­men­tar­film-Festival Marseille (FID)

Our Terrible Country
Our Terrible Country – Sieger im internationalen Wettbewerb

Das Festival mit dem anderen Blick

Von Dieter Wieczorek

In neuen Räum­lich­keiten, eine einla­dende weiträu­mige Terrasse mit weitem Blick auf das Mittel­meer zur Seite, präsen­tierte sich das Festival in neuen Look. Unter einem Zeltdach mit Bar und Restau­rant können kleine Pausen zwischen den oft fordernden Filmen erholsam sein.

Fordernd ist das Inter­na­tio­nale Film Festival Marseille (FID). Es zieht aus der Norm schla­gende Formate und Ästhe­tiken vor, scheut das Kompli­zierte und Indi­vi­du­elle nicht, macht keine Kompro­misse an Standards und übliche Erwar­tungen, und findet doch sein bemer­kens­wert großes Publikum, das bereits am Nach­mittag lockende Sonnen­stunden opfert, um einem fremden Blick auf das Reale zu folgen.

Zuweilen ist das FID ganz unmit­telbar politisch und aktuell. Syrien ist der Schau­platz Ziad Homsis und Mohammad Ai Atassis Film Our Terrible Country (Unser fürch­ter­li­ches Land). Auf den Spuren des Dissi­denten Yassin Haj Saleh, der 16 Jahre einsass unter dem Regime Hafez Al-Assads und trotzdem in Damaskus als Schrift­steller und Zeitzeuge ausharrte, bis er schliess­lich sich gezwungen fand, den unbe­wohnbar gewor­denen Ort zu verlassen. Nach kurz­fris­tigem Aufent­halt in der zunehmend verwai­senden Ortschaft Doula macht er sich zu Fuss auf zu seiner Heimat­stadt Ar-Raqqah. Auf dem Weg erfährt er, dass auch diese bereits sich in der Hand extremer Islamiten befindet, der gefähr­liche Marsch sich folglich als sinnlos entpuppt. Aus der Sicht dieses Mannes wird der poli­ti­sche und kultu­relle Verfall des einst reichen Landes schmerz­haft deutlich. Das tägliche Leben als hastige Impro­vi­sa­tion unter Lebens­ge­fahr ist hier in Nahan­sicht zu haben. Our Terrible Country gewann die inter­na­tio­nalen Wett­be­werb.

Der Film korre­spon­diert unmit­telbar mit FIDs Abschluss­film Return to Homs (Rückkehr nach Homs) Talal Derkis, einer Reihe von Porträts junger Syrer, die alle um ihre Position ringen, was zu tun und zu lassen sei, kämpfen, still­halten, fliehen..., nach Homs zurück­zu­kehren. Derkis Film doku­men­tiert die Unmög­lich­keit, richtige Entschei­dungen treffen zu können. Er überzeugt durch die Inten­sität der Selbst­dar­stel­lungen.

FISs dies­jäh­riger Focus auf Syrien wurde noch ergänzt durch Liwaa Yazjis Haunted (Verfolgte), der die tägliche noma­di­sche Über­le­bens­im­pro­vi­sa­tion in den Mittel­punkt rückt. Die syrisch-deutsche Kolla­bo­ra­tion erinnert an das Schicksal der tausende ins Exil Getrie­benen im Schatten der militä­ri­schen Ausein­an­der­set­zungen. Ihr Schicksal wird hier durch das Einzelner nach­fühlbar, die ihren gesamten Erin­ne­rungs- und Lebens­raum verloren haben, zuweilen über Nacht, zuweilen nach langem Zögern, da es auch kein Wohin gibt.

FID zeigt sich offen für mitreis­sende Einzel­schick­sale, wie das des US-Ameri­ka­ners Chris Kirk, den eine attrak­tive kolum­bia­nisch-japa­ni­sche Schönheit derart aus der Bahn wirft, dass er schliess­lich zum Drogen­händler wird. In Haft hat er Gele­gen­heit, seine unglaub­liche Geschichte zu erzählen, energisch und humorvoll. Der brasi­lia­ni­sche Film Maira Bühlers und Matias Marianis I Touched All Your Staff (Toquei todas as suas coisas) fordert das Imagi­na­ti­ons­ver­mögen des Zuschauers und kata­pul­tiert ihn in persön­liche Erin­ne­rungen... Meist bleibt die Kamera auf Kirk fixiert, der in einer schlichten Zelle seine Geschichte Revue passieren lässt, selten nur illus­triert sie mit Aussen­räumen und Akti­ons­bil­dern. Aber das Expe­ri­ment glückt. Der Film ist schlicht mitreis­send, eine Ode auf Liebes­lei­den­schaft und Femmes fatales.

Ein von Leiden­schaft dahin Geris­sener ist auch Flavio de Carvalho, ein aner­kannter und erfolg­rei­cher Maler, Plastiker und Architekt, der – Fitz­ge­raldo zuvor eilend – tief in den Amazone eindringt, um Kontakt mit Urein­woh­ners für seinen ersten Film aufzu­nehmen. An Bord des Bootes sind besonders zwei junge Frauen zu bemerken, die sich Hoff­nungen auf eine Schau­spiel­kar­riere machen. Die Reise trans­for­miert sich in einem Alptraum von Strei­tig­keiten, Verwer­fungen und Eifer­süch­te­leien, der sich zuspitzt zu einer bewaff­neten Konfron­ta­tion zwischen dem Kapitän und De Carvalhos. Die Brasi­lia­nerin Alfeu França kommen­tiert in Die weiße Göttin (A Deusa Branca) die hinter­blie­benen Film­frag­mente dieser Reise im Jahr 1958 mit Humor. Sie dechif­friert die Phan­tasmen der Kolo­nia­li­sie­rung und würdigt zugleich einen außer­or­dent­li­chen Mann, der ruhelos erkunden und verstehen wollte, der den Sprung in ein ihm unbe­kanntes Metier in einer nicht nur unbe­kannten, sondern lebens­ge­fähr­li­chen Umgebung wagte.

Noch getopt durch seine Risi­ko­ra­di­ka­lität wird De Carvalho aller­dings durch den in Harlem wohnenden Antoine Yates. Der lebte dort in einem mittel­grossen Appar­te­ment über Jahre hinweg mit Al, einem etwa vier Meter langem Alligator und Ming, einem ausge­wach­senen Tiger. Phillip Warnells dessen Film Outlan­dish (2009) bereits um Anima­lität kreiste, rekon­stru­iert in Ming of Harlem: Twenty One Storys in the Air diese ausser­ge­wöhn­liche Gemein­schaft und beob­achtet den in der nach­kon­stru­ierten Wohnung umher schweifen Alligator und Tiger in ihrer unheim­lich explo­siven Ruhe. Zuweilen nähern sie sich der Kamera und eine gewisse Spannung wird spürbar... Unvor­stellbar dieses Zusam­men­leben, aber doch doku­men­tiert durch Poli­zei­be­richte und TV-Nach­richten, wie auch durch samt State­ments Yates selbst, der vor allem hervor­hebt, diese Tiere vor dem Jagd in der »freien Natur« habe schützen zu wollen. Yates wirkt jederzeit luzid, weder fanatisch noch wirr oder verrückt. Das Zusam­men­leben kam erst ans Licht der Öffent­lich­keit, als er von Ming ange­griffen wurde, wahr­schein­lich aufgrund von Futter­mangel. Mein Fehler, sagt Yates. Diese hoch­spe­zi­fi­sche Geschichte gehört ins Guiness-Buch der Extrem­si­tua­tionen. Warnell begnügt sich nicht damit, einen bloss spek­ta­ku­lären Film zu machen, sondern lässt auch Refle­xionen des Philo­so­phen Jean-Luc Nancy einfliessen, um sich dem Unglaub­li­chen auch auf diese Weise anzu­n­ähern. Warnells Film wurde mit dem Georges de Beau­re­gard Inter­na­tion Preis geehrt.

In eine licht-, freud-, und farblose Welt, in ein Purga­to­rium der apathi­schen Körper­ex­plo­ra­tionen, Ausdör­rungen, Grimassen und Verkramp­fungen des Drogen- und Prosti­tu­ti­ons­mi­lieus führt der Franzose Antoine d’Agata in Atlas. Sein Reise­journal ist eine Nahan­sicht auf Schat­ten­wesen und Border­line­e­xis­tenzen, die in Räumen und Zellen ohne jede Öffnung und Alter­na­tive zu hausen scheinen. Selbst zu Wort kommend reflek­tieren diese Exis­tenzen über sich selbst in schmerz­voller Klarheit, offe­rieren ihre (Ab-)Gesänge aus einer verstos­senen Welt.

Eine würdi­gende Erwähnung im Inter­na­tio­nalen Wett­be­werb ging an Eduardo Williams für J'ai oublié. Der junge argen­ti­ni­sche Filme­ma­cher folgt in Vietnam einer Gruppe junger Männer auf ihren täglichen, oft gefähr­li­chen Körper­ein­satz in Kauf nehmenden Aben­teu­er­reisen, hin zu unzu­gäng­li­chen Orten und Zonen, wie Haus­dächer, Bauruinen und leer stehenden Neubauten. In diesem Bewe­gungs­fluss wird ein vitales Gefühl der Freiheit im konkreten Sinn einer Wieder­an­eig­nung des eigenen Lebens einge­fangen.

FIDs eigent­liche Qualität und Beson­der­heit ist, Risiken nicht zu scheuen und sich formal und thema­tisch auf Fremdland zu begeben, anders gesagt, Filmen eine Chance zu geben, die nicht an schlichte Iden­ti­fi­ka­tionen und Wider­er­ken­nungs­me­cha­nismen appel­lieren. Einer dieser Filme ist gewiss Jorge Leóns Before We Go. Der im Wett­be­werb plat­zierte belgische Film geht einigen von Todes­krank­heiten gezeichnet Menschen nach, die in einem Thea­ter­raum in Form von Bewegung, Tanz und Choreo­gra­phie neue Erfah­rungen machen und zu einer neuen Intimität mit ihrem eigenen Körper finden, wie zu anderen Körpern. Einige dieser Szenen berühren stark durch diese erstmals erlebte Glück­ser­fah­rung, mit dem anderen Körper spie­le­risch und leicht lustvoll umzugehen. León wählt eine Misch­technik eher doku­men­ta­ri­scher und deutlich arran­gierter fiktiver Szenen, bis zur Bereit­stel­lung eines Orches­ters. Das Brüsseler Opernhaus ist gewiss der geeignete Platz hierfür. Dieser befremd­liche Tanz mit dem Tod bezieht Ängste wie Todes­auf­leh­nung in sich ein. Er ist ein heraus­for­derndes Spiel mit der Zeit. Es ist das Ringen um einen noch möglichen Glücksau­gen­blick, das diesen Film so (ein)dringlich macht. Die vom Tod heraus­ge­for­derte Kunst beginnt ihren Seiltanz.

Noch einmal: das FID ist eines der wenigen Festivals, das Filmen ohne Markt­chancen zu einem sicht­baren Leben verhilft. Diese wenigen, derart radikalen Festivals lassen bestimmte, abwei­chende Film erst entstehen, und verschaffen ihnen dann ein Forum zur Begegnung mit dem Publikum. Die Wette gilt, die Wette wurde erneut gewonnen. Eine diffe­rente Kultur ist die eigent­liche Kultur. Der Rest ist Selbst­be­s­tä­ti­gungs­ar­ran­ge­ment.