Kinos in München – 30 Jahre Filmstadt München
Wem gehört das Kino? |
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Agustin Pereira in Peter Lilienthals Der Aufstand |
Von Natascha Gerold
Zum Glück entsprachen die Schreckensvisionen, die George Orwell in seinem bekanntesten Roman »1984« von der Welt zeichnete, nicht (oder zumindest in weiten Teilen nicht) der Wirklichkeit in diesem Jahr. Einfach waren die Zeiten dennoch nicht: auf internationaler Ebene etwa, wo der Kalte Krieg die UdSSR zum Boykott der Olympischen Spiele in Los Angeles und den Präsidenten Reagan zu geschmacklosen Scherz-Kriegserklärungen motivierte, oder auf nationaler Ebene, wo die im Rahmen der Flick-Affäre zutage tretende Korrumpierbarkeit von Politikern den Glauben an demokratisch gewählte Volksvertreter erschütterte.
Jede Menge Anlass zur Empörung und Besorgnis also. Auch in München, wo die kulturpolitischen Entwicklungen Gruppen von Filmemachern, -liebhabern und Medienpädagogen schon seit Langem umtrieb, weshalb sie sich 1979 zur »Initiative Filmstadt München« zusammengeschlossen hatten. Damit entsprachen sie dem Zeitgeist der 1970er Jahre, als die Vorstellung vom mündigen Bürger, der sich für seine Belange dezentral in Stadtteilgruppen einsetzte, immer öfter Wirklichkeit wurde. Wem gehört das Kino, wer darf Medien machen? Fragen, die im Gründungsjahr des Vereins Filmstadt München, der 1984 aus der Initiative hervorging, brisanter waren denn je angesichts mangelnder Unterstützung alternativer Filmkultur seitens der Stadt sowie des Starts des kommerziellen Rundfunksystems in Deutschland. Raum für anderes Kino und anderes Sehen sollte es geben fürs heimische Publikum – auch für die Werke aus Griechenland, Italien und der Türkei, den Herkunftsländern der in München lebenden ehemaligen »Gastarbeiter«.
Nach wie vor geht es bei der Filmstadt München, der Verbindung örtlicher Filminitiativen und -vereine, um Meinungsvielfalt, Diskussion und das Zeigen unterschiedlicher Erfahrungswelten. So gibt die Rückschau, bestehend aus Dokumentar- und Kurzfilmen von Münchner Filmemachern aus vier Jahrzehnten, weniger Anlass zur Nostalgie, vielmehr bieten die im Filmmuseum gezeigten Werke die Möglichkeit, immer wieder Bezüge zur Gegenwart herzustellen: Der Eröffnungsfilm Der Aufstand (22. September, 19 Uhr, in Anwesenheit des Regisseurs) von Peter Lilienthal, der 1980 versuchte, die sandinistische Revolution in Nicaragua anhand des Schicksals eines Soldaten und seiner Familie dokumentarisch zu veranschaulichen, lässt einen unweigerlich an Krisen- und Kriegsschauplätze in der Ukraine oder Gaza denken, wo der Grat zwischen ausgewogener Berichterstattung und Meinungsmache oft schmal ist. Eine Familiengeschichte, geprägt von steten soziokulturellen Veränderungen – In Ich bin Tochter meiner Mutter (23. September, 18.30 Uhr, die Regisseurin ist anwesend) von 1996 setzt sich Seyhan Derin mit den Biographien ihrer Großmutter und ihrer Mutter auseinander. Welche Bedeutung die Erfahrungen dieser beiden Generationen für die in der Türkei geborene und in Deutschland aufgewachsene Filmemacherin haben, schildert sie in ihrem höchstpersönlichen Porträt auf eindrucksvolle Weise.
Familie und Musik – beides sind identitätsstiftende Lebensbereiche. Und auch wenn die Well-Brüder künstlerisch seit Längerem getrennte Wege gehen, ist Plattln in Umtata – Mit Der Biermöslblosn In Afrika (24. September, 18.30 Uhr, in Anwesenheit des Regisseurs und der Brüder Well) immer noch mehr als ein höchst vergnüglicher Reise-Musikfilm, in dem die Multitalente aus Bayern jenseits von Sicherheitsanlagen auf nicht minderbegabte Einheimische treffen, die Gemeinsamkeiten von südafrikanischem Gumboot-Tanz und Schuhplattler entdecken und sich mit Apartheid, Sklaverei und ihren Auswirkungen auseinandersetzen.
Der Donnerstagabend (25. September, 19 Uhr, viele der Regisseure sind anwesend) gehört den Kurzfilmen – die zur Filmstadt München gehörenden Vereine Bunter Hund, UNDERDOX sowie flimmern&rauschen des Medienzentrums München zeigen kein »Best-of« der vergangenen Jahre, sondern präsentieren eine abwechslungsreiche Bandbreite, die zeigt, was diese filmische Gattung so reizvoll macht: von symbolisch aufgeladenen Bildern, mit denen Claire Angelini in Jeune, Révolution! Aufkeimen und Ende der tunesischen Jasminrevolution beschreibt über den böse-humorigen Animationsfilm 23V von Vincent Wild, der uns in die abartigen Betriebsgeheimnisse eines Global Players einweiht bis zur Mockumentary Hütchenspiel, einem Projekt von Chiasma Film, wo Dreharbeiten zu einem Psycho-Kräftemessen zwischen Hauptdarsteller und Regisseur ausarten, das selbst das Duo Herzog-Kinski in den Schatten stellt.