Paranoia, Putin und Purismus |
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Wunderbares Paranoia-Kino – The Forecaster |
Ein Reise in die Anfänge unseres Jahrhunderts, Kino als Jahrmarkt, als panisches Chaos und süße Nostalgie – ein Kindertraum. Escaping Riga heißt dieser magische Film aus Estland, der die Anfänge des Kinos beschwört, wie den Zauber seiner Hochzeit: Sergei Eisenstein, das Genie der Schnittgewitter und der Fürst des sowjetischen Stummfilm-Realismus steht im Zentrum dieses Films, der ihn aus seiner Heimatstadt Riga, seiner Jugend erklärt. Zugleich parallelisiert Regisseur Davis Simanis das Leben dieses Kino-Aktivisten mit einem anderen Berühmten, dem politischen Philosophen Isaiah Berlin. Auch der stammte aus Riga und war so ziemlich das Gegenteil des acht Jahre älteren Eisenstein: ein Passiver, ein Konservativer, ein Beobachter, der schon als Kind vor der Revolution floh, und bis an sein Lebensende nirgendwo richtig ankam.
Einmal sehen wir im Film Eisenstein bei seinem Besuch in den USA mit Charlie Chaplin Tennis spielen – es sind solche großartigen Anekdoten der Geschichte, die die große Faszination von Escaping Riga ausmachen, Geschichten wie jene von dem einen Mal als Berlin kurz nach dem Krieg in die Sowjetunion reiste, in Leningrad durch Zufall die Lyrikerin Anna Achmatowa kennenlernte und sich mit ihr eine ganze Nacht unterhielt, unter den Augen des Geheimdienstes – eine Begegnung, die er später als die wichtigste seines Lebens bezeichnete. Terror, Weltkrieg, Poesie und Skeptizismus fielen in eins.
Dass alles, wenn noch die widersprüchlichsten Dinge in eins fallen – so ergeht es einem auch auf einem Dokumentarfilmfestival. Wie erzählt man überhaupt von einem Hurrikan, wenn man mittendrin steht? Denn diese IDFA ist ein Wirbelsturm, oder besser noch ein Riesendschungel, ein wunderbares Chaos, ein einzigartiger Rummelplatz aus Themen und Stilen, ästhetischen Haltungen und persönlichen Interessen, geprägt vor allem von Neugier, von Hunger nach unserer Welt – und doch bei aller Fülle das Gegenteil von Reizüberflutung und Informationsüberschuss.
IDFA steht für »Internationales Dokumentarfilmfestival Amsterdam« – die IDFA in Amsterdam gibt es seit 27 Jahren, und schon bald nach ihrer Gründung galt sie als das wichtigste Dokumentarfilmfestival der Welt. Es gibt hier hunderte von Weltpremieren in Wettbewerben und Themen-Schwerpunkte – in diesem Jahr zum Beispiel über den »weiblichen Blick« –, es gibt das Beste aus anderen Festivals, Retrospektiven, und ein Panorama für den ganzen Rest. Daneben treffen sich hier auch Produzenten und Redakteure, loten die Lage aus, dealen und entscheiden, was wir alle in den nächsten Jahren zu sehen bekommen.
Der typische Dokumentarfilm der Gegenwart erzählt von wirklich wichtigen Dingen, brennenden Anliegen – »films that matter« lautet eine, in meinen Augen vor allem bedrohlich klingende, Floskel, die einem von den vielen Trailern vor jedem Film entgegenschreit, und natürlich von Menschen – »Jedes Leben ist einen Film wert«, behauptet allen Ernstes eine weitere Trailerfloskel, und niemand im Publikum steht auf und ruft »Wirklich?« oder »Das glaubt ihr doch selber nicht!« –, von einzelnen Menschen. Normalerweise geht es ihnen schlecht, sie hungern, dürfen nicht zu Schule, werden verfolgt. Oder sie suchen etwas: Eltern, Kinder, das Glück oder den lieben Gott.
Aber diesem Gott sei Dank ist das längst nicht in allen Filmen so, und wenn dann sind es hier eher die guten unter diesen »37 Grad«-Filmen. So nennt sie das ZDF in ihrer letzten übriggebliebenen Doku-Reihe, eine Bezeichnung, die verräterisch ist: Normaltemperatur eben, wohltemperiertes Menschelkino.
Die besten Dokumentarfilme – und ihrer gibt es in Amsterdam auch mehr als genug – handeln in diesem Sinne überhaupt nicht von Menschen, sondern von Verhältnissen. Von den Verhältnissen und Systemen, die allerdings Menschen verbinden, trennen, erziehen, prägen, disziplinieren und beherrschen.
Ein Themenstrang bei der IDFA erzählt immer wieder von den Verhältnissen im Westen: Citizenfour der gerade im deutschen Kino läuft, porträtiert bekanntlich Edward Snowden. Doch 40 Jahre vor ihm, gab es bereits Whistleblower des analogen Zeitalters: 1971 heißt ein großartiger Film, der die Geschichte von acht Bürgerrechtlern erzählt, die 1971 in eine FBI-Zentrale einbrachen, sämtliche Akten stahlen, und so illegale Aktivitäten beweisen konnten. In der Folge musste der brutal berüchtigte FBI-Patriarch J. Edgar Hoover zurücktreten.
Oder der Forecaster, jenes amerikanische Börsengenie, das dreimal einen Börsenkrach auf den Tag genau vorhersagte – mit einer nur ihm bekannten Formel, in der die Zahl »Pi« eine wichtige Rolle spielt: Ist er ein Genie, ein Wahnsinniger oder ein Gangster. 1999 nahmen ihn die US-Behörden jedenfalls unter fadenscheinigen Umständen fest, nie wurde ihm ein Verbrechen bewiesen, trotzdem saß er 12 Jahre im US-Gefängnis – wie das möglich ist, und um was für einen Mensch es sich handelt, davon erzählt Matrcus Vetters Film The Forecaster der auch ins deutsche Kino kommt. Wunderbares Paranoia-Kino – mit dem Unterschied, dass die Verschwörung womöglich real ist.
Absolut real ist auch Vladimir Putin. Gleich drei Dokumentarfilme beschäftigen sich mit dem russischen Präsidenten, dem der Westen in Hassliebe und perverser Faszination verbunden ist. Der beste von ihnen stammt vom Franzosen Jean Michel Carré.
In Putin Is Back widerlegt Carré zunächst einmal ein paar landläufige Vorurteile, um Putin durch genaues Hingucken zu erklären. Das gelingt sehr schlüssig, und das Ergebnis lässt Putin eher noch bedrohlicher erscheinen.
Zugleich ist dies eine Art Dokumentarfilmvariante des Horrorkinos: Man geht hinein und darf sich schön gruseln, besonders, wenn seine Milizen Demonstranten niederknüppeln, rieselt manch ein Schauer wohlig über den Rücken, denn so schlimm wie in Russland ist es schließlich bei uns einstweilen noch nicht; und wenn Putin dann redet, erinnert er an den bösen Wolf aus dem Märchen: Großmutter, warum hast Du so große Zähne.