18.12.2014

Zusam­men­fügen, was ausein­an­der­ge­fallen ist

Myroslav Slaboshpytskiys The Tribe
Myroslav Slaboshpytskiys The Tribe
(Foto: Rapid Eye Movies)

Auch die 15. Ausgabe des Internationalen Filmfestivals in Georgiens Hauptstadt Tiflis zeigte, dass die transkaukasische Region weniger zentralasiatisch als europäisch ausgerichtet ist. Aber nicht nur die zahlenmäßig dominierenden westlichen Sektionen sind ein Politikum

Von Axel Timo Purr

»Vor Kostjas Arbeits­zim­mertür hockend, mit ange­hal­tenem Atem und vor Konzen­tra­tion geballten Fäusten, wurde mir klar, dass ich mehr als alles andere im Leben genau das tun wollte, was diese blinde und doch so weit­sich­tige Frau gerade tat: zusam­men­bringen, was ausein­an­der­ge­fallen war. Das Zusam­men­fügen von fremden Erin­ne­rungen, die erst dann einen Zusam­men­hang ergaben, wenn aus vielen einzelnen Teilen ein Ganzes entsteht. Und wir alle, ob wissend oder unwissend, tanzen innerhalb dieses Gesamt­bildes unseren eigenen Tanz, einer geheim­nis­vollen Choreo­gra­phie folgend.«
Nino Hara­ti­schwili, »Das achte Leben (für Brilka)«

Nach Georgien, um Filme zu schauen? Nein, kein Witz. Auch wenn es sicher­lich ange­bracht wäre, darüber die Haare zu raufen. Denn was gibt es nicht alles in Georgien zu sehen: die zu DDR-Zeiten auch von Deutschen hoch­fre­quen­tierte Schwarz­meer­küste, die archai­sche Welt der Swanen in den Bergen des Kaukasus oder einfach nur der Kirchen wegen, von denen einige nicht nur wegen ihres unge­heu­er­li­chen Alters zum UNESCO-Welt­kul­tur­erbe gehören. Und dann ist da noch die umwer­fende Altstadt von Tiflis, die legendäre Oper, Rezo Gabriadzes welt­berühmtes Mario­net­ten­theater, die erlesene Schau­spiel­kunst am Rustaveli-Theater. Warum also Filme schauen?

Man könnte natürlich gleich mit einer kurzen und knappen Antwort kommen: Weil das zwar kleine, aber feine Film­fes­tival in Tiflis nicht nur politisch aufregend ist, sondern auch mit dem über­rascht, was an Filmen ausge­wählt wird. Aber so einfach ist es zum Glück nicht. Denn Georgien ist film­his­to­risch nicht irgendwer, sondern galt schon zu Sowjet-Zeiten als ein eher unge­wöhn­lich kreativer Satellit des großen Reiches.

Die sich in den 1920ern durch den Einfluss der Sowjet­union etablie­rende staat­liche Film­in­dus­trie konnte aller­dings auf ein bereits etabliertes Film­in­ter­esse in Georgien zurück­greifen: 1896 das erste Kino, 1912 der erste doku­men­ta­ri­sche Film, 1916 der erste Spielfilm. Was dann folgte, war die erste große Blüte des geor­gi­schen Films, die gerade dadurch über­raschte, weil sie sich immer wieder den Dogmen aus Moskau wider­setzte: etwa mit Konstantin Mika­be­r­idses Meine Groß­mutter (1929), einer komö­di­an­ti­sche Satire auf die sowje­ti­sche Büro­kratie oder Nikolos Schen­ge­lajas Eliso (1928), der von der 1864er-Depor­ta­tion der Tsche­tschenen erzählte. Erst mit Stalins Einfluss­nahme in den 1930er und 1940ern wurden dieser Eskapaden unter­drückt und statt­dessen ideologie- und stalin­kon­forme Filme wie Micheil Tschi­au­relis Der Schwur (1946) produ­ziert. Doch kaum war Stalin Geschichte, erfand sich auch der geor­gi­sche Film wieder neu und kriti­sierte das System hemmungslos: Tengis Abuladses 1956 in Cannes ausge­zeich­neter Magdanas Esel etwa nahm sich der nie enden wollenden Armut im Sozia­lismus an und bildete einen Meilen­stein unter den Film­schaf­fenden in Georgien, die trotz weiter bestehender Zensur – es wurden weiterhin unlieb­same Filme aus dem Verkehr gezogen – über Parabeln und Mythen von der Gegenwart erzählen lernten.

Formal wurde dieser Trend seit 1972 mit der Gründung einer Film­fa­kultät gefördert, die auch notwendig war, um den akkurat bezif­ferten filmi­schen Nachschub im Rahmen der sozia­lis­ti­schen Plan­wirt­schaft zu garan­tieren – eine auch heute noch faszi­nie­rende Jobga­rantie für Film­schaf­fende. Die in diesen Jahren von den Grusia-Studio in Tiflis produ­zierten Filme – Grat­wan­de­rungen zwischen verspielter Komödie und bizarrer Groteske samt subku­taner Gesell­schafts­kritik – wurden auch inter­na­tional mit Preisen bedacht. Erst durch die 1984 gelo­ckerte Zensur begann sich dieses bewährte Muster zu ändern, trat die gesell­schaft­liche Kritik zunehmend in den Vorder­grund.

Mit Georgiens staat­li­cher Unab­hän­gig­keit 1991 wurde die Zensur ganz abge­schafft. Was in einem anderen wirt­schafts-poli­ti­schen Umfeld zu einer kreativen Explosion geführt hätte, lief in Georgien auf die tragische Implosion der gesamten Film­wirt­schaft hinaus. Ohne die Film­för­de­rung aus Moskau ging nichts mehr. Von den in fast jeder Klein­stadt exis­tie­renden Kinos sind inzwi­schen nur mehr fünf Kinos übrig, zwei davon in Tiflis; die Gehälter für Film­schaf­fende fielen ins Bodenlose, immer mehr Regis­seure zogen nach Frank­reich und Deutsch­land.

Um diesen außer­ge­wöhn­li­chen kreativen »Brain­drain« zu verlang­samen, entschied sich das geor­gi­sche Kultur­mi­nis­te­rium Anfang 2000 für zwei bahn­bre­chende Projekte: zum einen wurde das Nationale Zentrum für Cine­ma­to­grafie gegründet, das jedes Jahr mindes­tens zwei Film­pro­jekte auswählt, die mit 75% staat­li­cher Förderung in Georgien reali­siert werden. Zum anderen wurde das Tbilisi Inter­na­tional Film Festival etabliert, um dem geor­gi­schen Film auch inter­na­tional wieder Gehör zu verschaffen und zu vernetzen.

Diese Bemühungen führten zu weiteren Koope­ra­tionen. Georgien ist nun Teil des »Directors Across Borders«-Projektes, das Film­schaf­fende aus sechs ehema­ligen Sowjet-Repu­bliken vernetzt und mit Workshops und Konfe­renzen versorgt. 2014 wurde der »Cinema Express: Armenien – Georgien« initiiert, der Filme aus beiden Ländern vor allem in länd­li­chen Regionen und Klein­s­tädten zeigt, in denen Kinos geschlossen wurden. Aber auch Versuche die alten Kinos zu retten, exis­tieren: eine kürzlich in Tiflis veran­stal­tete Konferenz zum Thema Kino lud auch die Betreiber der ehema­ligen Kinos ein, um zu disku­tieren, ob und wie die still­ge­legten Kinos reak­ti­viert werden könnten.

Der Struk­tur­wandel spiegelt sich aber vor allem in den Filmen selbst, die nun auch wieder im Land gedreht und gezeigt werden. Zwar ist ein Kino­be­such gemessen am Durch­schnitts­ein­kommen furcht­ein­flößend teuer, wird die von russi­schen Film­ver­lei­hern domi­nierte Kino­land­schaft haupt­säch­lich mit Block­bus­tern versorgt, doch bietet gerade das Tifliser Filmfest eine heilsame Alter­na­tive: Die Tickets sind subven­tio­niert und das Angebot an west­li­chen Arthouse-Filmen ist über­ra­gend. Die dies­jäh­rigen Sektionen boten so ziemlich alles, was 2014 auf dem inter­na­tio­nalen Festival-Karussel etwas gewonnen hat; ein Benelux-Schwer­punkt fächerte das Programm ebenso auf wie die viel­sei­tige, vom Goethe-Institut in Tiflis bereit gestellte »Made in Germany«-Sektion. Aber das alles wäre natürlich noch kein Grund, nach Tiflis zu fahren.

Es sind vor allem die geor­gi­sche Sektion und die Filme, die aus den umlie­genden ehema­ligen Satel­liten der UDSSR und dem heutigen Russland selbst einge­laden wurden, die den Besuch lohnen. Die zum einen immer wieder über­ra­schen, zum anderen wie ein Dechif­frie­rungs­schlüssel, ein Sesam-öffne-Dich für die Region des Trans­kau­kasus funk­tio­nieren – die das zusam­men­bringen, was ausein­an­der­ge­fallen ist.

Denn nach Tiflis zu kommen, heißt auch, auf eine Stadt der Fragen und Rätsel zu treffen: was hat es mit der zwar atem­be­rau­bend schönen, aber maroden Altstadt und den vielen leer­ste­henden Wohnungen auf sich? Was sollen bei dem kaum vorhan­denen Tourismus nur die endlosen Geld­wechs­ler­buden, die wie eine Haut­krank­heit inzwi­schen ganze Straßen­züge infiziert haben? Was bedeuten nur die vielen dunkel geklei­deten, miserabel ausse­henden Männer, die sich durch sonnen­durch­flu­tete Winter­tage drücken? Wie kann man mit einem Durch­schnitts­ge­halt von umge­rechnet 300 Euro überleben, bei Preisen die nur 50 Prozent unter West­ni­veau, immer wieder sogar – wie etwa ein Kino­be­such – gleichauf liegen? Was hat es mit diesem Russland auf sich, dessen Expan­si­ons­drang irgend­wann in jedem Gespräch Thema ist, über das sich jeder empört? Und wie sieht es eigent­lich hinter den Kulissen der Ukraine aus, fernab der leit­me­dialen Wahr­heiten?

Salome Alexi nimmt die alte Tradition der geor­gi­schen, subku­tanen Komödie wieder auf, um gleich einige der oben gestellten Fragen zu beant­worten. Ihr Film Line of Credit erzählt die langsame Verschul­dung einer Familie, der es in Sowjet-Zeiten noch gut ging, die sich aber seit der Entlas­sung in den freien Kapi­ta­lismus im freien Fall befindet. Völlige Naivität und eine Selbst­kan­ni­ba­li­sie­rung der Gesell­schaft, die nicht einmal vor alten Freund­schaften zurück­schreckt, führt Nino zu immer verzwei­fel­teren Ausver­käufen nicht nur des eigenen Wohnungs­in­ven­tars, sondern auch immer neuen Kredit­auf­nahmen zu grotesken Kondi­tionen. Männer sind nur mehr bemit­lei­dens­werte Rand­fi­guren, die ihre gesell­schaft­li­chen Posi­tionen fast immer verspielt haben. Dennoch wird der Schein bis zur Zwangs­räu­mung der Wohnung aufrecht und tapfer gewahrt. Die Reak­tionen der Zuschauer im Gespräch mit der Regis­seurin nach dem Film sprechen Bände: »Woher kanntest Du meine Geschichte?«. Alexi sagt zwar, dass sie aus dem eigenen Bezie­hungs­fundus geschöpft hat, aber nachdem zwischen 2009 und 2013 allein 172.300 Familien, das sind 14% der Gesamt­be­völ­ke­rung, ihre Wohnung verloren haben, dürften Verwech­se­lungen eher die Regel statt die Ausnahme sein. Alexi selbst ist eine der ausge­wan­derten Filme­ma­che­rinnen. Sie hat in Paris Film studiert und lebt seit einigen Jahren in Hamburg. Sie ist für ihren Film genauso nach Tiflis gereist wie die Co-Regis­seurin von Die langen hellen Tage, Nana Ekvti­mish­vili, die in Berlin Film studiert hat und dort auch lebt. Aller­dings ist sie nicht für ihren Film hier, sondern Teil der inter­na­tio­nalen Jury.

Filmszene <q>Line of Credit</q>
Pfand­leihe und Geld­wechsel in einem – Szene aus Salome Alexis Line of Credit

Ekvti­mish­vilis in ihrem eigenen Film ausge­führtes Thema – die gesell­schaft­li­chen Auswir­kungen der durch Russland unter­s­tützten Abspal­tung des ehemals geor­gi­schen Landes­teils Abchasien – ist aller­dings auch Thema eines anderen Films, George Ovash­vilis Corn Island. Fast ohne Dialoge, aber mit einer dennoch unheim­li­chen Drama­turgie und mit atem­be­rau­bend foto­gra­fierten Bildern erzählt Ovashvili die jährliche Bepflan­zung einer kleinen Insel in einem abcha­si­schen Fluss, die nach der Ernte wieder über­schwemmt werden wird. Ohne nennens­werte Hand­lungs­ele­mente werden ein alter Mann und seine Enkelin bei ihrer Arbeit auf der Insel porträ­tiert. Erst durch Gewehr­schüsse, dann durch spora­di­sche Besuche von Soldaten dringt die mili­täri­sche Ausein­an­der­set­zung auch in diese archa­ischste Nische eines Lebens­all­tags ein und fordert eine Stel­lung­nahme. Ovashvili betont im Gespräch vor allem die Idee eine Geschichte ohne Handlung spannend erzählen zu wollen und seinen Versuch sich durch die subtil gesetzten Konfron­ta­tionen einer poli­ti­schen Verein­nah­mung zu entziehen.

Filmszene <q>Die Maisinsel</q>
Großvater und Enkelin auf der Insel – George Ovash­vilis Corn Island

Noch deut­li­cher wird diese Skepsis gegenüber dem poli­ti­schen Alltag bei dem Screening des schließ­lich als Sieger des natio­nalen Wett­be­werbs hervor­ge­gan­genen I’m Beso des erst 26 Jahre alten Lasha Tskvi­t­in­idze. In Tskvi­t­in­idzes Film wird der ernüch­ternde Alltag des etwa 12-jährigen Besso in einer geor­gi­schen Klein­stadt geschil­dert. Weder die Schule noch die Stadt selbst bieten irgend­welche Hoff­nungen. Der ehemalige Kultur­saal ist eine verfal­lende Ruine, der Vater, ein Tscher­nobyl-Veteran, flucht über ihn, seine Frau und den schwulen Bruder, der nach seinem zufäl­ligen Outing die Stadt panisch verlassen muss. Als der Vater auch über die verlogene Politik zu fluchen beginnt, bricht tosender Applaus im Publikum aus.

Filmszene <q>I’m Beso</q>
Spielen im Niemands­land – Lasha Tskvi­t­in­idzes Debüt I’m Beso

Ähnliche hoff­nungs­lose Konstel­la­tionen erzählen auch andere der gezeigten Filme: die Doku­men­ta­tion Biblio­teka (im September bereits im MDR ausge­strahlt) von Ana Tsimintia folgt einen Tag lang den ange­stellten Frauen einer Bücherei im geor­gi­schen Zugdidi. Die Zahl der Ange­stellten scheint die der Besucher zu über­steigen; es gibt kaum Arbeit, die Gehälter reichen kaum zum Leben, Alter­na­tiven scheinen nicht existent. Jede Einstel­lung gleicht einem neuen, faszi­nie­renden Gemälde des immer gleichen Themas: Leben auf dem Abstell­gleis. Auch die geor­gi­sche Franchise-Variation von New York, I Love YouTbilisi, I Love You berichtet von gesell­schaft­li­chen Trans­for­ma­ti­ons­pro­zessen, die die Ausmaße dessen über­steigen, was man vor dem Zusam­men­bruch eines ideo­lo­gi­schen Bollwerks wie dem der UDSSR wohl jemals erwartet hätte.

Filmszene <q>Tbilisi, I Love You</q>
Leben auf dem Abstell­gleis in Tbilisi, I Love You

Der dennoch in allen Filmen immanente Aufruf wenn nicht zu poli­ti­schem Akti­vismus, dann zumindest Wider­stand in einer anderen Form ist auch Teil einer jedes Jahr neu defi­nierten Sonder­sek­tion des Tifliser Festivals. War es 2013 ein filmi­sches Sektions-Statement gegen schwu­len­feind­liche Proteste, die durch eine Fern­seh­an­sprache des georgisch-ortho­doxen Patri­ar­chen eskaliert waren, ist es 2014 eine Ansage gegen die Umwelt­sünden der letzten Jahre. »Green is the color« reagierte nicht nur mit Filmen, sondern auch einer Podi­ums­dis­kus­sion vor allem auf die kaum exis­tie­rende Stadt­pla­nung und die an russische Inves­toren verkauften, still­ge­legten Goldminen, die mit frag­wür­digen Methoden wieder reak­ti­viert werden sollen.

Doch nicht nur die ehema­ligen Satel­li­ten­staaten des sowje­ti­schen Groß­rei­ches sind gesell­schaft­lich bis zum Zerreißen gespannt. Zwar wirkt die politisch-wirt­schaft­liche Agenda Russlands wie eine dämo­ni­sche, unan­tast­bare Macht­de­mons­tra­tion, die bis aufs kleinste perfekt orches­triert ist, was Alex Shiri­aieffs The Gas Weapon in Bezug auf Russlands Gaspo­litik erschüt­ternd demons­triert. Doch das hinter all dem eine Gesell­schaft steht, die sich von der Defrag­men­tie­rung unserer west­li­chen Gesell­schaften dann doch kaum unter­scheidet, zeigt Nigina Sayful­laevas groß­ar­tiges Debüt Name Me. Der vom russi­schen Kultur­mi­nis­te­rium mitfi­nan­zierte Film schildert die Reise zweier 17-jähriger Mädchen aus Moskau auf die Krim, wo Olga ihren Vater besucht, den sie bis dahin noch nicht gesehen hat. Aus Angst vor einer Enttäu­schung tauscht sie mit ihrer Freundin Sasha den Namen, so dass sie ihren Vater Sergej aus der Distanz beob­achten kann, wie er mit seiner vermeint­li­chen Tochter umgeht. Was folgt, ist eine fulmi­nante, einfühl­same und gnaden­lose Entde­ckungs­reise in die Patch­work­rea­lität der russi­schen Gesell­schaft. Nigian Sayful­laevas groß­ar­tiges Ensemble zeigt dabei aber auch, wie inter­na­tional austauschbar »globa­li­siert« Einsam­keit, Orien­tie­rungs­lo­sig­keit und familiäre Zerris­sen­heit inzwi­schen geworden sind; etliche Szenen in Name Me hätten genauso gut in Deutsch­land, Frank­reich oder den USA spielen können. Der poli­ti­sche Aspekt dieser Aussage ist beängs­ti­gend und tröstlich zugleich: wie unver­rückbar auch immer die poli­ti­schen Verwer­fungen zwischen Russland und dem Rest der Welt über die Leit­me­dien zemen­tiert werden – hat man einen Film wie Name Me gesehen, fällt es schwer, Putin mit Russland gleich­zu­setzen, spürt man, dass die Decke der Politik genauso dünn gewebt ist wie die der Zivi­li­sa­tion.

Filmszene <q>Name Me</q>
Inter­na­tional austausch­bare Orien­tie­rungs­lo­sig­keit: Nigian Sayful­laevas Name Me

Diese filigrane Ausein­an­der­set­zung mit gesell­schaft­li­chen Umbrüchen leistet auch der Sieger­film des inter­na­tio­nalen Wett­be­werbs. Der bereits in Cannes und und auf dem Filmfest in Eriwan mit Preisen bedachte The Tribe des Ukrainers Myroslav Slabosh­py­tskiy treibt das auf die Spitze, was stilis­tisch bereits in Corn Island ange­deutet ist und inhalt­lich immer wieder auch an Name Me erinnert, in seiner Kritik aber noch stärker auf die Gefahren einer korrupten und auto­ri­tären Gesell­schafts­form hinweist. Der Film erzählt die Geschichte eines Neuan­kömm­lings in einem Internat für gehörlose Jugend­liche, der langsam in einen insti­tu­tio­na­li­sierten Sumpf aus orga­ni­sierter Gewalt hinein­ge­zogen wird. Proble­ma­tisch wird die Situation aber erst in dem Moment für ihn, als er sich in das Mädchen, für das er als Zuhälter einge­teilt wird, verliebt. Slabosh­py­ts­kiys Entschei­dung, den Film nur in Gebär­den­sprache ohne Unter­titel zu belassen, ist dabei genauso aufregend wie seine langen, immer wieder über­ra­schenden Einstel­lungen und eine farbliche Bild­sprache, die zuerst an Tarkowkis Stalker und dann an die beun­ru­hi­gende Farbwelt der ORWO-Filme aus der DDR erinnert. Das Fehlen von gespro­chener Sprache verstärkt aber nicht nur diese Faktoren, sondern mehr noch die immer wieder scho­ckie­renden, dann wieder zärt­li­chen Momente der erzählten Geschichte und ihrer Hand­lungs­träger, die dadurch bis auf ihren skelet­tuösen Kern reduziert werden. The Tribe ist nicht nur Film in seiner reinsten Form, sondern auch die vers­tö­rende Ansicht auf eine bis auf den Kern entblößte, kranke Gesell­schaft – ein Kontrast, der schmerz­hafter – und schöner kaum sein kann.