Zusammenfügen, was auseinandergefallen ist |
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Myroslav Slaboshpytskiys The Tribe | ||
(Foto: Rapid Eye Movies) |
Von Axel Timo Purr
»Vor Kostjas Arbeitszimmertür hockend, mit angehaltenem Atem und vor Konzentration geballten Fäusten, wurde mir klar, dass ich mehr als alles andere im Leben genau das tun wollte, was diese blinde und doch so weitsichtige Frau gerade tat: zusammenbringen, was auseinandergefallen war. Das Zusammenfügen von fremden Erinnerungen, die erst dann einen Zusammenhang ergaben, wenn aus vielen einzelnen Teilen ein Ganzes entsteht. Und wir alle, ob wissend oder unwissend, tanzen innerhalb dieses Gesamtbildes unseren eigenen Tanz, einer geheimnisvollen Choreographie folgend.«
Nino Haratischwili, »Das achte Leben (für Brilka)«
Nach Georgien, um Filme zu schauen? Nein, kein Witz. Auch wenn es sicherlich angebracht wäre, darüber die Haare zu raufen. Denn was gibt es nicht alles in Georgien zu sehen: die zu DDR-Zeiten auch von Deutschen hochfrequentierte Schwarzmeerküste, die archaische Welt der Swanen in den Bergen des Kaukasus oder einfach nur der Kirchen wegen, von denen einige nicht nur wegen ihres ungeheuerlichen Alters zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören. Und dann ist da noch die umwerfende Altstadt von Tiflis, die legendäre Oper, Rezo Gabriadzes weltberühmtes Marionettentheater, die erlesene Schauspielkunst am Rustaveli-Theater. Warum also Filme schauen?
Man könnte natürlich gleich mit einer kurzen und knappen Antwort kommen: Weil das zwar kleine, aber feine Filmfestival in Tiflis nicht nur politisch aufregend ist, sondern auch mit dem überrascht, was an Filmen ausgewählt wird. Aber so einfach ist es zum Glück nicht. Denn Georgien ist filmhistorisch nicht irgendwer, sondern galt schon zu Sowjet-Zeiten als ein eher ungewöhnlich kreativer Satellit des großen Reiches.
Die sich in den 1920ern durch den Einfluss der Sowjetunion etablierende staatliche Filmindustrie konnte allerdings auf ein bereits etabliertes Filminteresse in Georgien zurückgreifen: 1896 das erste Kino, 1912 der erste dokumentarische Film, 1916 der erste Spielfilm. Was dann folgte, war die erste große Blüte des georgischen Films, die gerade dadurch überraschte, weil sie sich immer wieder den Dogmen aus Moskau widersetzte: etwa mit Konstantin Mikaberidses Meine Großmutter (1929), einer komödiantische Satire auf die sowjetische Bürokratie oder Nikolos Schengelajas Eliso (1928), der von der 1864er-Deportation der Tschetschenen erzählte. Erst mit Stalins Einflussnahme in den 1930er und 1940ern wurden dieser Eskapaden unterdrückt und stattdessen ideologie- und stalinkonforme Filme wie Micheil Tschiaurelis Der Schwur (1946) produziert. Doch kaum war Stalin Geschichte, erfand sich auch der georgische Film wieder neu und kritisierte das System hemmungslos: Tengis Abuladses 1956 in Cannes ausgezeichneter Magdanas Esel etwa nahm sich der nie enden wollenden Armut im Sozialismus an und bildete einen Meilenstein unter den Filmschaffenden in Georgien, die trotz weiter bestehender Zensur – es wurden weiterhin unliebsame Filme aus dem Verkehr gezogen – über Parabeln und Mythen von der Gegenwart erzählen lernten.
Formal wurde dieser Trend seit 1972 mit der Gründung einer Filmfakultät gefördert, die auch notwendig war, um den akkurat bezifferten filmischen Nachschub im Rahmen der sozialistischen Planwirtschaft zu garantieren – eine auch heute noch faszinierende Jobgarantie für Filmschaffende. Die in diesen Jahren von den Grusia-Studio in Tiflis produzierten Filme – Gratwanderungen zwischen verspielter Komödie und bizarrer Groteske samt subkutaner Gesellschaftskritik – wurden auch international mit Preisen bedacht. Erst durch die 1984 gelockerte Zensur begann sich dieses bewährte Muster zu ändern, trat die gesellschaftliche Kritik zunehmend in den Vordergrund.
Mit Georgiens staatlicher Unabhängigkeit 1991 wurde die Zensur ganz abgeschafft. Was in einem anderen wirtschafts-politischen Umfeld zu einer kreativen Explosion geführt hätte, lief in Georgien auf die tragische Implosion der gesamten Filmwirtschaft hinaus. Ohne die Filmförderung aus Moskau ging nichts mehr. Von den in fast jeder Kleinstadt existierenden Kinos sind inzwischen nur mehr fünf Kinos übrig, zwei davon in Tiflis; die Gehälter für Filmschaffende fielen ins Bodenlose, immer mehr Regisseure zogen nach Frankreich und Deutschland.
Um diesen außergewöhnlichen kreativen »Braindrain« zu verlangsamen, entschied sich das georgische Kulturministerium Anfang 2000 für zwei bahnbrechende Projekte: zum einen wurde das Nationale Zentrum für Cinematografie gegründet, das jedes Jahr mindestens zwei Filmprojekte auswählt, die mit 75% staatlicher Förderung in Georgien realisiert werden. Zum anderen wurde das Tbilisi International Film Festival etabliert, um dem georgischen Film auch international wieder Gehör zu verschaffen und zu vernetzen.
Diese Bemühungen führten zu weiteren Kooperationen. Georgien ist nun Teil des »Directors Across Borders«-Projektes, das Filmschaffende aus sechs ehemaligen Sowjet-Republiken vernetzt und mit Workshops und Konferenzen versorgt. 2014 wurde der »Cinema Express: Armenien – Georgien« initiiert, der Filme aus beiden Ländern vor allem in ländlichen Regionen und Kleinstädten zeigt, in denen Kinos geschlossen wurden. Aber auch Versuche die alten Kinos zu retten, existieren: eine kürzlich in Tiflis veranstaltete Konferenz zum Thema Kino lud auch die Betreiber der ehemaligen Kinos ein, um zu diskutieren, ob und wie die stillgelegten Kinos reaktiviert werden könnten.
Der Strukturwandel spiegelt sich aber vor allem in den Filmen selbst, die nun auch wieder im Land gedreht und gezeigt werden. Zwar ist ein Kinobesuch gemessen am Durchschnittseinkommen furchteinflößend teuer, wird die von russischen Filmverleihern dominierte Kinolandschaft hauptsächlich mit Blockbustern versorgt, doch bietet gerade das Tifliser Filmfest eine heilsame Alternative: Die Tickets sind subventioniert und das Angebot an westlichen Arthouse-Filmen ist überragend. Die diesjährigen Sektionen boten so ziemlich alles, was 2014 auf dem internationalen Festival-Karussel etwas gewonnen hat; ein Benelux-Schwerpunkt fächerte das Programm ebenso auf wie die vielseitige, vom Goethe-Institut in Tiflis bereit gestellte »Made in Germany«-Sektion. Aber das alles wäre natürlich noch kein Grund, nach Tiflis zu fahren.
Es sind vor allem die georgische Sektion und die Filme, die aus den umliegenden ehemaligen Satelliten der UDSSR und dem heutigen Russland selbst eingeladen wurden, die den Besuch lohnen. Die zum einen immer wieder überraschen, zum anderen wie ein Dechiffrierungsschlüssel, ein Sesam-öffne-Dich für die Region des Transkaukasus funktionieren – die das zusammenbringen, was auseinandergefallen ist.
Denn nach Tiflis zu kommen, heißt auch, auf eine Stadt der Fragen und Rätsel zu treffen: was hat es mit der zwar atemberaubend schönen, aber maroden Altstadt und den vielen leerstehenden Wohnungen auf sich? Was sollen bei dem kaum vorhandenen Tourismus nur die endlosen Geldwechslerbuden, die wie eine Hautkrankheit inzwischen ganze Straßenzüge infiziert haben? Was bedeuten nur die vielen dunkel gekleideten, miserabel aussehenden Männer, die sich durch sonnendurchflutete Wintertage drücken? Wie kann man mit einem Durchschnittsgehalt von umgerechnet 300 Euro überleben, bei Preisen die nur 50 Prozent unter Westniveau, immer wieder sogar – wie etwa ein Kinobesuch – gleichauf liegen? Was hat es mit diesem Russland auf sich, dessen Expansionsdrang irgendwann in jedem Gespräch Thema ist, über das sich jeder empört? Und wie sieht es eigentlich hinter den Kulissen der Ukraine aus, fernab der leitmedialen Wahrheiten?
Salome Alexi nimmt die alte Tradition der georgischen, subkutanen Komödie wieder auf, um gleich einige der oben gestellten Fragen zu beantworten. Ihr Film Line of Credit erzählt die langsame Verschuldung einer Familie, der es in Sowjet-Zeiten noch gut ging, die sich aber seit der Entlassung in den freien Kapitalismus im freien Fall befindet. Völlige Naivität und eine Selbstkannibalisierung der Gesellschaft, die nicht einmal vor alten Freundschaften zurückschreckt, führt Nino zu immer verzweifelteren Ausverkäufen nicht nur des eigenen Wohnungsinventars, sondern auch immer neuen Kreditaufnahmen zu grotesken Konditionen. Männer sind nur mehr bemitleidenswerte Randfiguren, die ihre gesellschaftlichen Positionen fast immer verspielt haben. Dennoch wird der Schein bis zur Zwangsräumung der Wohnung aufrecht und tapfer gewahrt. Die Reaktionen der Zuschauer im Gespräch mit der Regisseurin nach dem Film sprechen Bände: »Woher kanntest Du meine Geschichte?«. Alexi sagt zwar, dass sie aus dem eigenen Beziehungsfundus geschöpft hat, aber nachdem zwischen 2009 und 2013 allein 172.300 Familien, das sind 14% der Gesamtbevölkerung, ihre Wohnung verloren haben, dürften Verwechselungen eher die Regel statt die Ausnahme sein. Alexi selbst ist eine der ausgewanderten Filmemacherinnen. Sie hat in Paris Film studiert und lebt seit einigen Jahren in Hamburg. Sie ist für ihren Film genauso nach Tiflis gereist wie die Co-Regisseurin von Die langen hellen Tage, Nana Ekvtimishvili, die in Berlin Film studiert hat und dort auch lebt. Allerdings ist sie nicht für ihren Film hier, sondern Teil der internationalen Jury.
Ekvtimishvilis in ihrem eigenen Film ausgeführtes Thema – die gesellschaftlichen Auswirkungen der durch Russland unterstützten Abspaltung des ehemals georgischen Landesteils Abchasien – ist allerdings auch Thema eines anderen Films, George Ovashvilis Corn Island. Fast ohne Dialoge, aber mit einer dennoch unheimlichen Dramaturgie und mit atemberaubend fotografierten Bildern erzählt Ovashvili die jährliche Bepflanzung einer kleinen Insel in einem abchasischen Fluss, die nach der Ernte wieder überschwemmt werden wird. Ohne nennenswerte Handlungselemente werden ein alter Mann und seine Enkelin bei ihrer Arbeit auf der Insel porträtiert. Erst durch Gewehrschüsse, dann durch sporadische Besuche von Soldaten dringt die militärische Auseinandersetzung auch in diese archaischste Nische eines Lebensalltags ein und fordert eine Stellungnahme. Ovashvili betont im Gespräch vor allem die Idee eine Geschichte ohne Handlung spannend erzählen zu wollen und seinen Versuch sich durch die subtil gesetzten Konfrontationen einer politischen Vereinnahmung zu entziehen.
Noch deutlicher wird diese Skepsis gegenüber dem politischen Alltag bei dem Screening des schließlich als Sieger des nationalen Wettbewerbs hervorgegangenen I’m Beso des erst 26 Jahre alten Lasha Tskvitinidze. In Tskvitinidzes Film wird der ernüchternde Alltag des etwa 12-jährigen Besso in einer georgischen Kleinstadt geschildert. Weder die Schule noch die Stadt selbst bieten irgendwelche Hoffnungen. Der ehemalige Kultursaal ist eine verfallende Ruine, der Vater, ein Tschernobyl-Veteran, flucht über ihn, seine Frau und den schwulen Bruder, der nach seinem zufälligen Outing die Stadt panisch verlassen muss. Als der Vater auch über die verlogene Politik zu fluchen beginnt, bricht tosender Applaus im Publikum aus.
Ähnliche hoffnungslose Konstellationen erzählen auch andere der gezeigten Filme: die Dokumentation Biblioteka (im September bereits im MDR ausgestrahlt) von Ana Tsimintia folgt einen Tag lang den angestellten Frauen einer Bücherei im georgischen Zugdidi. Die Zahl der Angestellten scheint die der Besucher zu übersteigen; es gibt kaum Arbeit, die Gehälter reichen kaum zum Leben, Alternativen scheinen nicht existent. Jede Einstellung gleicht einem neuen, faszinierenden Gemälde des immer gleichen Themas: Leben auf dem Abstellgleis. Auch die georgische Franchise-Variation von New York, I Love You – Tbilisi, I Love You berichtet von gesellschaftlichen Transformationsprozessen, die die Ausmaße dessen übersteigen, was man vor dem Zusammenbruch eines ideologischen Bollwerks wie dem der UDSSR wohl jemals erwartet hätte.
Der dennoch in allen Filmen immanente Aufruf wenn nicht zu politischem Aktivismus, dann zumindest Widerstand in einer anderen Form ist auch Teil einer jedes Jahr neu definierten Sondersektion des Tifliser Festivals. War es 2013 ein filmisches Sektions-Statement gegen schwulenfeindliche Proteste, die durch eine Fernsehansprache des georgisch-orthodoxen Patriarchen eskaliert waren, ist es 2014 eine Ansage gegen die Umweltsünden der letzten Jahre. »Green is the color« reagierte nicht nur mit Filmen, sondern auch einer Podiumsdiskussion vor allem auf die kaum existierende Stadtplanung und die an russische Investoren verkauften, stillgelegten Goldminen, die mit fragwürdigen Methoden wieder reaktiviert werden sollen.
Doch nicht nur die ehemaligen Satellitenstaaten des sowjetischen Großreiches sind gesellschaftlich bis zum Zerreißen gespannt. Zwar wirkt die politisch-wirtschaftliche Agenda Russlands wie eine dämonische, unantastbare Machtdemonstration, die bis aufs kleinste perfekt orchestriert ist, was Alex Shiriaieffs The Gas Weapon in Bezug auf Russlands Gaspolitik erschütternd demonstriert. Doch das hinter all dem eine Gesellschaft steht, die sich von der Defragmentierung unserer westlichen Gesellschaften dann doch kaum unterscheidet, zeigt Nigina Sayfullaevas großartiges Debüt Name Me. Der vom russischen Kulturministerium mitfinanzierte Film schildert die Reise zweier 17-jähriger Mädchen aus Moskau auf die Krim, wo Olga ihren Vater besucht, den sie bis dahin noch nicht gesehen hat. Aus Angst vor einer Enttäuschung tauscht sie mit ihrer Freundin Sasha den Namen, so dass sie ihren Vater Sergej aus der Distanz beobachten kann, wie er mit seiner vermeintlichen Tochter umgeht. Was folgt, ist eine fulminante, einfühlsame und gnadenlose Entdeckungsreise in die Patchworkrealität der russischen Gesellschaft. Nigian Sayfullaevas großartiges Ensemble zeigt dabei aber auch, wie international austauschbar »globalisiert« Einsamkeit, Orientierungslosigkeit und familiäre Zerrissenheit inzwischen geworden sind; etliche Szenen in Name Me hätten genauso gut in Deutschland, Frankreich oder den USA spielen können. Der politische Aspekt dieser Aussage ist beängstigend und tröstlich zugleich: wie unverrückbar auch immer die politischen Verwerfungen zwischen Russland und dem Rest der Welt über die Leitmedien zementiert werden – hat man einen Film wie Name Me gesehen, fällt es schwer, Putin mit Russland gleichzusetzen, spürt man, dass die Decke der Politik genauso dünn gewebt ist wie die der Zivilisation.
Diese filigrane Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Umbrüchen leistet auch der Siegerfilm des internationalen Wettbewerbs. Der bereits in Cannes und und auf dem Filmfest in Eriwan mit Preisen bedachte The Tribe des Ukrainers Myroslav Slaboshpytskiy treibt das auf die Spitze, was stilistisch bereits in Corn Island angedeutet ist und inhaltlich immer wieder auch an Name Me erinnert, in seiner Kritik aber noch stärker auf die Gefahren einer korrupten und autoritären Gesellschaftsform hinweist. Der Film erzählt die Geschichte eines Neuankömmlings in einem Internat für gehörlose Jugendliche, der langsam in einen institutionalisierten Sumpf aus organisierter Gewalt hineingezogen wird. Problematisch wird die Situation aber erst in dem Moment für ihn, als er sich in das Mädchen, für das er als Zuhälter eingeteilt wird, verliebt. Slaboshpytskiys Entscheidung, den Film nur in Gebärdensprache ohne Untertitel zu belassen, ist dabei genauso aufregend wie seine langen, immer wieder überraschenden Einstellungen und eine farbliche Bildsprache, die zuerst an Tarkowkis Stalker und dann an die beunruhigende Farbwelt der ORWO-Filme aus der DDR erinnert. Das Fehlen von gesprochener Sprache verstärkt aber nicht nur diese Faktoren, sondern mehr noch die immer wieder schockierenden, dann wieder zärtlichen Momente der erzählten Geschichte und ihrer Handlungsträger, die dadurch bis auf ihren skelettuösen Kern reduziert werden. The Tribe ist nicht nur Film in seiner reinsten Form, sondern auch die verstörende Ansicht auf eine bis auf den Kern entblößte, kranke Gesellschaft – ein Kontrast, der schmerzhafter – und schöner kaum sein kann.