Kinematik des Erzählens |
||
Als Serie ein Glücksfall und eine neue Dimension interaktiven Erzählens: Breaking Bad |
In der Geschichte des Romans, ja des Erzählens, gibt es kaum einen wichtigeren Sommer als den des Jahres 1836. Charles Dickens hatte im Juni die vierte Nummer seiner monatlichen Anekdotenserie The Pickwick Papers veröffentlicht, in der erstmals ein Diener namens Sam Weller auftauchte. Frech, witzigen Sprüchen im Dialekt zugetan und, im Unterschied zum Titelcharakter, einfallsreich und weltgewandt, wurde »Samwell« in den Lesezirkeln und von der rezensierenden Presse bald als Sensation gefeiert. Dickens machte ihn zur integralen Figur seines Erzählschemas und verband die Episoden fortan durch die Aktionen und Kommentare des fi ndigen Dieners und Schwerenöters. Die Auflage der Pickwick Papers stieg innerhalb weniger Monate von 400 auf unerhörte 40 000 Exemplare; Dickens nahm sich die Lehre dieses Sommers zu Herzen und wurde mit seinen Romanen als erster moderner Schriftsteller so richtig erfolgreich. In Paris hätte es Balzac ähnlich gehen können, wäre er sich nicht ständig selbst im Weg gestanden. Der realistische Roman, das wohl erfolgreichste literarische Genre aller Zeiten, war geboren.
Es gehört zu den tragischen Missverständnissen vornehmlich der akademischen Literaturkritik, den literarischen Realismus als Eigenschaft der Repräsentation und nicht als Form der Produktion und Rezeption verstanden zu haben. Dies gilt insbesondere für die deutsche Kritik, in der Fragen der Geschichtsphilosophie, der Ästhetik und der Anthropologie die Anerkennung des technischen Kerns des Realismus verhindert haben. Noch ein so technikbewusster Kritiker wie Walter Benjamin trauert hinter dem Romancier der Figur des Erzählers nach, dessen mündlich vorgetragene Geschichten allein der Fülle genuiner Erfahrung gerecht werden können. [1] Die angloamerikanische Tradition dagegen bildete, schon früh und aus mannigfachen Gründen, einen Diskurs der nichtakademischen Literaturkritik aus, der oft von Schriftstellern selbst praktiziert wurde und darum die technischen Errungenschaften eines Autors zu würdigen wusste. Noch heute zeugen davon die großen Rezensionsorgane – Times Literary Supplement und London Review of Books in Großbritannien, die New York Review of Books und die Los Angeles Review of Books in den Vereinigten Staaten –, mit denen im deutschen Sprachraum nichts verglichen werden kann.
Gleichzeitig und sicher nicht unabhängig von der akademischen Überspanntheit der Literaturkritik haben die deutschen (nicht unbedingt die österreichischen und schweizerischen) Romanautoren den Realismus als experimentelle Form erst einmal ausgesessen. Dickens wurde von der deutschen Kritik noch in den 1850er Jahren als chaotischer und lasziver Autor abgetan. Durch diese Abschottung, die von den limitierten Publikationsbedingungen noch verstärkt wurde, kam es zu einer Verspätung des deutschen Realismus, die – man ist versucht zu sagen: bis heute – uneinholbar sein sollte. Der Abgrund zwischen Gustav Freytags Soll und Haben (1855) und Wilhelm Raabes Der Hungerpastor (1864) einerseits und zwei perfekten Romanen des Realismus wie Gustave Flauberts Madame Bovary (1857) und Charles Dickens Great Expectations (1861) andererseits ist schwindelerregend. Damit ist noch nicht einmal gemeint, dass die beiden deutschen Romane antisemitische Machwerke sind; die Holprigkeit ihrer Komposition, die Betulichkeit, mit der der Leser in die Geschichte eingeweiht werden soll, die psychologische Banalität und die prononcierte Provinzialität des Erzählten allein machen sie unerträglich für jeden einigermaßen weltläufi gen Leser. Als dann mit dem anglophilen Theodor Fontane der erste lesbare deutsche Realist auftrat (Effi Briest, 1896), waren seit den Pickwick Papers sechzig Jahre vergangen – einen solchen Vorsprung macht man nicht mehr wett. Fontanes Zeitgenosse Henry James schrieb zu dieser Zeit schon Romane von solcher Subtilität und leisen Gewalt, dass sie bis heute nicht richtig angekommen sind. Es leuchtet darum ein, dass mit Beginn des 20. Jahrhunderts die interessantesten deutschen Schriftsteller sich auf das Zerschlagen des realistischen Romans verlegten und damit auch einigen Erfolg hatten.
Angesichts der televisuellen Bedeutung dieser langen Verkennung – wer denkt nicht beim Tatort sofort an die endlose Wiederkehr der Stopfkuchen-Provinz, bei Breaking Bad dagegen an Great Expectations? – mag es angebracht sein, einige der technischen Errungenschaften des Realismus noch einmal vor Augen zu führen.
Sicherlich die wichtigste Errungenschaft ist das tiefe Verständnis und damit das Meistern dessen, was Fortsetzung eigentlich bedeutet. Hölderlin hatte um dieses Verständnis in seinen Reflexionen zur Tragödie gerungen und mit dem schwierigen Begriff der »Cäsur« eine idealistische Ableitung dessen versucht, was die Industrielle Revolution kinematisch umsetzte. Entscheidend ist dabei der Daumensprung, das erzählerisch oder szenisch Darzustellende nicht als homogene Rohmasse zu verstehen, die von Kapitel-, Szenen- oder Aktgrenzen willkürlich zerschnitten wird, sondern als in sich rhythmisiertes, das Problem von Kontinuität und Unterbrechung selbst wieder thematisierendes erzählerisches Aggregat. Aufgabe des »Dichters« ist es, so Hölderlin, das »Handwerksmäßige«, »den gesetzlichen Kalkul« auf dieses Aggregat so anzuwenden, dass aus ihm die manifeste Rhythmik seiner Fortsetzung (von Hölderlin »Transport« genannt) entsteht. [2]
Die Romanindustrie des 19. Jahrhunderts externalisiert und realisiert also nur ein Problem, das die »große Epik« seit ihren modernen Anfängen bei Cervantes verfolgt hat. Denn die Frage, die sich jedem Autor stellt, ist nicht allein, wie es weitergehen soll, sondern wie er dieses Weitergehen in der Erzählung beglaubigen kann: Die Erzählung muss auch ihre eigene Fortsetzung erzählen. Vor dem Realismus bewerkstelligte das die Fiktion einer weiteren Erzählinstanz – in den meisten Fällen eines »Herausgebers« –, die erklärt, warum es überhaupt und warum es so und nicht anders weitergeht. In den Meisterwerken der vorrealistischen Epoche – etwa in Lawrence Sternes Tristram Shandy oder in Goethes darauf antwortendem Wilhelm Meisters Wanderjahre – wird die Technik der Fortsetzung immer wieder zum Gegenstand und zum Rätsel des Erzählens. Der klassische Bildungsroman entspringt dem Ideal der Kontinuitätserzeugung aus dem Leben des Helden – und scheitert daran, wie die Turmgesellschaft der Lehrjahre, die Revisionen des Grünen Heinrich bitter bezeugen. Übrigens stand noch auf dem Titelblatt der Erstausgabe von 1795: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Goethe.
Das Problem der Fortsetzung, verstanden als Kontinuität der Bewegung, hat auch die Maschinenbauer des beginnenden 19. Jahrhunderts beschäftigt. Allenthalben lässt sich beobachten, wie vormals diskontinuierliche, geradlinige Bewegungen in kontinuierliche Rotation verwandelt werden – Stahl wird nicht mehr gehämmert, sondern gewalzt; Papier wird nicht mehr blattweise geschöpft, sondern endlos über Rollen gepresst; gedruckt wird nicht mehr mit Blöcken, sondern mit Zylindern; künstliches Licht wird nicht mehr in diskreten Kerzen, sondern in Gasströmen geliefert; Güter, Menschen und ihr Lesematerial nicht mehr im Relaisverfahren von Sta tion zu Station befördert, sondern in einem Zug rapide verteilt. Eine eigene Wissenschaft, die Kinematik, analysiert und theoretisiert diese Verfahren der Kontinuität. [3]
Die Übersetzungen in die Rotation bringen den realistischen Fortsetzungsroman ins Rollen: Er kann massenhaft und also billig gedruckt werden, er kann gleichzeitig in den zusammenwachsenden Städten gelesen werden, im Gaslicht auch abends und nachts. Zwischen den monatlichen Ausgaben erscheinen Rezensionen und Gegenrezensionen der gelieferten Kapitel, in den Lesevereinen wird über sie debattiert. Die Laufzeit beträgt meistens anderthalb Jahre.
Diese Verschraubung von Maschinen- und Erzählbewegung hatte zur Konsequenz, dass das Drängen der Kontinuitätsfrage – wird es weitergehen, und wenn, wie? – in die Produktions- und Rezeptionsgegebenheiten ausgelagert werden konnte. Autoren mussten nicht mehr einen Meta-Erzähler aufrufen, der ihrer Geschichte einen narrativen Zug zum Ende gab, denn dieser war dem Forstsetzungsroman jetzt als Existenzmodus eingeschrieben. Dafür mussten sie in die einzelnen Episoden und über die Fortsetzungsgrenze hinaus das einbauen, was auch bei den zeitgenössischen Stahl- und Glasarchitekten Spannung hieß. Wer verfolgen will, wie ein Meister diese Verzahnungen über die Zäsuren hinweg einbaut, sollte sich die Norton-Studienausgabe von Henry James The Turn of the Screw vornehmen, in der die Lieferungsgrenzen vermerkt sind. In diesem Spätwerk werden alle diegetischen Technikalien der Gattung – wer die Authentizität der Erzählung garantiert, durch wessen Sensorium wir die Geschichte wahrnehmen, was die Präsenz der einzelnen Figuren ausmacht – selbst wieder Gegenstand der Darstellung und als Spannungselemente über die Folgen verteilt. Es ist im Übrigen schockierend, wie viele selbst kritische Ausgaben von Romanen des 19. Jahrhunderts dem Leser die entscheidende Information der Fortsetzungsgrenzen vorenthalten.
Der realistische Roman ist aber nicht nur darum realistisch, weil er sich in die industrielle Bewegtheit seiner Leser einklinkt, sondern auch, weil er mit dem Leben, das er beschreibt, und mit dem Leben seiner Leser eine entscheidende Eigenschaft gemein hat: Jeder weiß, dass, aber niemand, wie es weitergeht. Aus Dickens Notizbüchern lässt sich gut ersehen, wie er plant, wie er vergisst, wie er noch spät im Rennen die narrativen Pferde wechselt, um schließlich alles zu einem mehr oder weniger plausiblen Ende zu bringen. Er weiß mehr als seine Leser, aber eben auch nicht alles. Er versteht, dass er die Haupt- und Nebenfiguren seiner Geschichten scharf zeichnen, ihnen eine bestimmte Geste oder Redensart oder Körpereigenschaft zuschreiben muss, damit sie über Monate hin erinnert werden können. Denn während der Dauer der Heftchenausgabe mussten die Autoren damit rechnen, dass ihre Leser nicht zurückblättern konnten und darum Erinnerungshilfen brauchten (wie ja auch Wagners Hörer einige Jahrzehnte später).
Vor allem aber erlaubt die Mechanik des fortlaufenden Realismus den Autoren endlich, Geschichten zu erzählen, deren Hauptfiguren keine Helden, keine Identifikationshülsen sein müssen. Sobald das Engagement der Leser nicht mehr empathetisch durch das Glück des Helden erregt werden muss, sondern kinematisch über die Erwartung der Fortsetzung läuft, können komplexe Figuren mit komplizierten, oft widersprüchlichen Beweggründen in den Vordergrund treten. Dies ist weniger Dickens als Balzacs, Flauberts und Dostojewskis, später dann vor allem Henry James Spezialität. Dies ist mit dem etwas unglücklichen Wort vom »psychologischen« Roman beschrieben worden; dabei aber wird übergangen, dass die Öffnung zur psychologischen Komplexität erst durch die narrative Entlastung der Figuren zustande kommt.
Man mag sich fragen, was der Antrieb und Forttrieb des realistischen Erzählens ist, wenn psychologische und pädagogische Beweggründe wegfallen. Michel Serres hat die These begründet, dass die entscheidende technische Entdeckung des 19. Jahrhunderts die der motorischen Kraft der Differenz war. [4] Mechanisch gesprochen ist das die Temperaturdifferenz im Dampf- und Verbrennungsmotor und die räumliche Differenz zwischen einem Kräftepaar, das zur Erzeugung eines Drehmoments nötig ist. Diese Entdeckung des parallelen Kräftepaars, das aus gegenläufigen Richtungen kommend auf einen ausgedehnten Körper trifft und ihn nach Maßgabe ihrer Entfernung von seinem Mittelpunkt in Drehung versetzt, ist ein treff endes Gegenbild zur »tragischen« Vision der newtonschen Mechanik, in der gegenläufige Kräfte in einem Punkt kollidieren und sich dabei gegenseitig vernichten.
Auch die Erzähler des 19. Jahrhunderts (er)finden Differenzen und experimentieren dann über die Laufzeit ihrer Geschichten damit, wie sie die entstehende narrative Bewegung erhalten können. Die großen Romanthemen des 19. Jahrhunderts – Ehrgeiz, Ehebruch, Gier und Neid, Armut und soziale Ungerechtigkeit – sind solche Differenzmotoren, die in den unterschiedlichsten Konfigurationen Erzählungen produzieren. Diese Differenzen sind differenzierter als die Totaldifferenz, mit der der Bildungsroman den Unterschied von Individuum und Welt erzählbar machen wollte; dafür lassen sie sich aber auch leichter trivialisieren und multiplizieren, wie Franco Moretti in seinen Big-Data-Analysen der Romanliteratur des 19. Jahrhunderts gezeigt hat. Wenn sie allerdings verständig eingebaut und von tief konzipierten Figuren angetrieben werden, beginnen Romanmaschinen von fast unwiderstehlicher Saugkraft zu laufen: Pip und sein unbekannter Wohltäter in Great Expectations, die kriminelle Gegenwelt in Splendeurs et Misères des Courtisanes, der Abgrund zwischen den Ehegatten in Madame Bovary, Anna Karenina oder Effi Briest, die Scham in Lord Jim usw.
Mechanische Serialität ist die erste Erscheinungsform erzählender Literatur, die nicht mehr vom – letztlich theologischen – Phantasma des einen Buchs und des einen Autors zehrt und die darum auch nicht von Hermeneutiken verstanden werden kann, die ihren Erfolg in der Aufschlüsselung von Autorenintentionen oder Werktotalitäten suchen. Vielmehr befördert sie eine Art der interpretierenden Aufmerksamkeit, die sich auf die Techniken der Erzählung einlässt und diese goutiert. Wie werden Figuren ein- und ausgeführt, wie wird Spannung aufgebaut, wie wird die erzählte Zeit in der Erzählzeit dargestellt? Solche Fragen stellt sich der Leser gewissermaßen auf Augenhöhe mit dem Autor, sie ziehen ihn in den Sog der Geschichte, an der er auf andere als nur intellektuelle oder emotionale: eben auf kinematische Weise teilhat.
Doch auch die Fort-Setzung als existentielle Bedingung, nicht nur die technischen Probleme ihrer Bewerkstelligung, können zum Gegenstand dringlichen und affektiven Fragens werden. Geht es weiter? Wie geht es weiter? Warum? Diese Dringlichkeit machen sich amerikanische Fernsehserien zu eigen.
+ + +
Im letzten Jahrzehnt des 20. und in den ersten 15 Jahren des 21. Jahrhunderts lässt sich im amerikanischen Fernsehen ein ähnlicher Prozess der Akzeleration und Kontinuitätssteigerung beobachten wie in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Während die Fernsehabende der Clinton-Jahre noch ganz von der episodischen Ahnungslosigkeit und dem douceur de vivre der Sitcoms (Friends und Frazier) mit abschließender Late Night Show (Letterman und Leno) bestimmt waren, begann 1998 bei HBO mit The Sopranos das erste Experiment einer Serie mit negativer, oder zumindest zutiefst problematischer Hauptfigur. Tony Soprano kam zugute, dass der Pay-TV-Sender weder an die Segmentierung der Erzählung durch Werbespots noch an die strikten Obszönitätsgesetze gebunden ist und darum langatmigere Erzählstränge in der Poesie der Straße ausrollen kann. Während die öff entlichen Networks sich während der Bush-Jahre in Reality- und Casting-Shows ergingen, entwickelte sich in den Premium-Kabel-Sendern eine neue Erzähl- und Produktionskultur, in der ein Showrunner – wie zum Beispiel David Chase bei The Sopranos oder David Simon bei The Wire (HBO, 2002 bis 2008) – das Muster der Show entwirft und dann Regisseure und Autoren im Kollektiv an der Weiterentwicklung und Ästhetik der Geschichte mitarbeiten lässt. Das prorsus, das Vorwärts der erzählenden Prosa, findet hier seine angemessene arbeitsteilige Verfassung.
Wie The Sopranos den unheldischen Charakter salonfähig gemacht haben, so hat sich The Wire tief damit beschäftigt, was Narratologen die fabula nennen: mit dem Zug der zeitlich univoken Ereigniskette, die in diesem Fall durch Perspektivenwechsel, dokumentarischen Kamerastil und die zunächst ganz unverständliche Sprache noch näher an die sogenannte Realität gebracht werden sollte. Dass der den Detective McNulty spielende Dominic West ein in Eton erzogener Shakespeare-Darsteller ist, zeigt, wie viel Arbeit in die Konstruktion dieser Realität eingeht – was natürlich nicht bedeutet, dass das Zusammenspiel der Faktoren, die den Drogenhandel antreiben, nicht völlig richtig, ja sogar prophetisch dargestellt ist.
Im Gegenzug hat sich Mad Men (AMC, 2007–2015), das erste wichtige Fortsetzungsdrama der Ära Obama, ganz dem Wie der Darstellung, dem sujet, gewidmet; der historische Kontext wird allein durch die narrative Kraft der Dinge – der Kleidung, der Autos, der Interieurs, der im Hintergrund laufenden Fernsehnachrichten – hergestellt. Was erzählt wird, ist zwar nicht beliebig, aber von einem hohen Grad an Reihenhaftigkeit gekennzeichnet, kommen in Don Drapers Liebesleben und in seinem Trinken doch das Prinzip und die Tragik des Seriellen selbst zum Ausdruck. Die Kunst wiederum, Dinge zum Sprechen (und Frauen zum Schweigen) zu bringen, ist Drapers Berufs- und Lebensgeheimnis.
Eine Errungenschaft dieser bahnbrechenden Werke ist Zeit: nicht nur der große Bogen von fünf oder sechs Jahren, in denen eine Geschichte ausgesponnen werden kann, sondern auch die Verlangsamung der Erzählzeit in den einzelnen Episoden, ja in den einzelnen Einstellungen, in denen oft minutenlang nichts oder wenig passiert und das Auge damit beschäftigt ist, die Atmosphäre, die Details des Sets, das Gespräch der Dinge zu absorbieren. Die kontemplative Rezeption dessen, was von Lukács in seiner Realismustheorie als Beschreibung herabgewürdigt worden war, wird medial durch die hochauflösenden Bildschirme, auch und vor allem der Tablets, unterstützt. Diese Verlangsamung durch Beschleunigung ist stilbildend geworden, ihr ist der enorme Produktionsaufwand geschuldet, den selbst Serien wie The Americans (FX, seit 2013) treiben, die uns »nur« in die Mitte der achtziger Jahre zurückversetzen.
Mit Breaking Bad (AMC, 2008 bis 2013) wurde ein Plateau erreicht, auf dem die Spannung zwischen fabula und sujet, zwischen Erzählen und Beschreiben – zwischen der albtraumhaften Logik von Walter Whites Aufstieg und der wüst-magischen Landschaft und Gesellschaft von New Mexico – austariert war und die Zuschauer von einem souveränen Showrunner und seinem Autoren- und Regisseursteam in eine neue Dimension des interaktiven Erzählens geführt wurden. Während das Spiel der Differenzen – zwischen dem Familienvater Walter White und seiner Inkarnation als Heisenberg, zwischen Walter und Jesse, zwischen Walter und Hank, abstrakter in den Fragen von Verbrechen und Rechtfertigung, Schuld und Sühne, Zufall und Zwang – die Geschichte vorwärtstrieb, zogen die Autoren, im Austausch mit ihrer Internetgemeinde, ober- und unterhalb der Geschichte Bedeutungsebenen ein, die philologisch und metaphysisch das Problem der Serienerzählung selbst noch einmal als Frage stellten. So bemerkt etwa der Philologe, dass die erste, vierte, zehnte und dreizehnte Folge der zweiten Staffel die Titel »Seven Thirty-Seven«, »Down«, »Over«, »ABQ« tragen und somit den Flugzeugabsturz über Albuquerque in der letzten Folge ausbuchstabieren. Dieser Zusammenstoß wiederum rührt an die Grundfrage der Prosaerzählung, die Goethe in den Lehrjahren gestellt hatte – wie viel darf für die Fortsetzung eines Romans dem Charakter, wie viel dem Zufall zugemutet werden? – und die Dickens mannigfach, am intensivsten in den ersten Sätzen des 55. Kapitels von David Copperfield verhandelt hat. Während so die Grenzen von Drama und Epik in den Blick kommen, durchbricht die anhaltende Präsenz von Walt Whitmans Lyrik – von Gales Vortrag von When I Heard the Learnd Astronomers bis zu Walters Exemplar von Leaves of Grass – die dritte Genregrenze. All das kulminiert in der drittletzten Folge der gesamten Serie, in der die szenische Gegenüberstellung der Protagonisten und die epische Auflösung der Handlungsknoten durch Shelleys großes Gedicht Ozymandias (Titel der Folge) überhöht wird und so, nach einhelliger Ansicht der Kritik, eine der großartigsten Stunden der Fernsehgeschichte entsteht.
Breaking Bad war als Serie ein Glücksfall – nicht zuletzt, weil sie, im Unterschied etwa zu Mad Men, nicht nur die Ästheten und Hipster, sondern auch die Crime- und Actionfans erreichte. Ob diese Konjunktion noch einmal erreicht wird – vielleicht durch den Spinoff Better Call Saul (AMC, seit 2015) –, muss dahingestellt bleiben. Doch die Bedingungen sind geschaffen, und die Experimentierfreudigkeit großer und kleiner Sender zeigt, dass eine neue Qualitätsstufe erreicht ist.
Seit 2013, als Netflix mit House of Cards die erste Staffel auf einen Schlag komplett ins Netz stellte, hat eine weitere Migration und Beschleunigung des Seriellen eingesetzt. Nicht nur sind den Fernsehsendern mit den Streaming-Diensten neue Konkurrenten erwachsen, sie verändern auch noch einmal die Sehgewohnheiten: Während selbst hartgesottene Fans von Mad Men langsam des Wartens und des Tropfens der Episoden müde wurden, versenkten sich die Zuschauer von House of Cards, Orange is the New Black (Netflix, seit 2013) oder Bloodline (Netflix, seit 2015) in lange, oft nächtelange Sehorgien. Zwar gab es das Binge-Watching per DVD schon vorher, doch konnte man sich die unmittelbare Verfügbarkeit der Serie nur durch den herabsetzenden Nachteil der Verspätung erzwingen. Durch ihre sofortige Präsenz im Netz erreicht die Fernsehserie den Stand der Romanproduktion um etwa 1870, als viele Romane wieder ausschließlich in Buchform erscheinen konnten, da sich die narrativen Konventionen der Serie längst in der Faktur der Texte und in den Erwartungen der Leser niedergeschlagen hatten. Der Detektivroman, das ehrwürdige Genre der Novelle mit der Dynamik des Romans verbindend, ist nur eine der Formen, die sich diese Durchsetzung der Serialität zu eigen machten.
Auch aus dieser letzten Wandlung von der Fernseh- zur Netzserie hat sich eine hybride Form zwischen Film und Serie entwickelt, in der die Erzählgewohnheiten der Serie – die langen Erzählzeiten, die auf- und abebbende Spannung, die Entfaltung von Nebenfiguren – in die Kohärenz und Finalität des Films eingehen. Ein Schulbeispiel hierfür ist Fargo (FX, seit 2014), in dem die Geschichte des Films der Coen-Brothers noch einmal und doch ganz anders in zehn Episoden erzählt wird. Zwar wurde eine zweite Staffel angekündigt, doch drängt sich das aus der Geschichte selbst nicht auf und wird wohl wieder in einem zehnstündigen Film enden. Gleiches gilt von True Detective (HBO, seit 2014) mit Matthew McConaughey und den enigmatischen sieben Folgen von Jane Campions Top of the Lake (Sundance, 2013).
Sicher lassen diese auf die Erzähltechnik fokussierten Vermessungen der amerikanischen Fernsehlandschaft wichtige Aspekte außer Acht; die Ökonomie und das Management der Serien ist vermutlich komplexer, als dies von außen wahrzunehmen ist, und die Ästhetik der Fernsehbilder und ihr Verhältnis zu denen des Films bedürften einer eigenen Geschichte. Und natürlich gibt es, wie im 19. Jahrhundert, jede Menge Überfl üssiges. Dennoch enthüllt die Rückprojektion auf die Geschichte des Romans Erkenntnisse, die es immer noch schwer haben, im Verständnis von seriellem Erzählen akzeptiert zu werden. Zunächst, und noch einmal: Empathie ist ein atavistischer und für das Vergnügen an realistischer Narration sekundärer Beweggrund. Auch hier gibt es ein schlagendes Beispiel in dem Vergleich von Aaron Sorkins Präsidenten-Soap The West Wing, mit der sich Amerikas Demokraten über die rechtsfreien Jahre der Bush-Herrschaft hinwegtrösteten und die wie alle Sorkin-Machwerke den Zuschauer in die Falle des Mitleidens zwingt, und House of Cards, in dem, ebenfalls einen Demokraten als Hauptfigur präsentierend, die Tendenz zur empathischen Identifi ka tion ständig unterlaufen wird. Daran ändern auch Francis an das a parte-Sprechen in der Bühnenkunst des 18. Jahrhunderts erinnernde Zuwendungen zur Kamera nichts. Alle wollten Jed Bartlet, niemand will Francis Underwood sein. Mit der Atrophie der identifikatorischen Anteilnahme verkümmert aber auch deren angeblich »erwachsenere« Version, nämlich der ideologiekritische Versuch, den Grund für einzelne Figuren oder für die Stimmung ganzer Serien in der politischen Gegenwart zu finden – dass Underwood ein Repräsentant des nichtswürdigen amerikanischen Kongresses sein soll, ist so offensichtlich, dass es zum Verständnis der Serie und vor allem zum Genuss nichts beiträgt.
Woraus speist sich aber dann die millionenfache affektive Bindung, die die Fernsehserien der letzten Jahre so unzweifelhaft erzeugt haben? Aus dem Dabeisein, aus dem vitalen Interesse an den Phänomenen der Fortsetzung selbst. Dazu gehört sicher das sich in unzähligen Blogs niederschlagende intellektuelle Vergnügen an den Techniken der narrativen Verknüpfung, an dem Versteckspiel, das Autoren und Zuschauer miteinander spielen, um Dinge in Verweisungen, Zeug in Zeigzeug zu verwandeln.
Darunter oder darüber hinaus aber gewährt die Serie eine Erfahrung der Zeit, die nicht die vermeintlich persönliche, die tagtäglich eingeteilte des Individuums ist. Das wird schon daran deutlich, dass die Serie in die Zeit des Individuums eingreift, sei es als Erwartung und Verzehr der jeweils nächsten Folge, sei es als Fressorgie im Falle der neueren Netflix-Serien. In dieser Hinsicht erfordert die Serie gewissermaßen negative Arbeit: Sie stellt herrische Anforderungen an die Zeit des Einzelnen, führt aber zu keinem Werk und ist darum Evasion in die Passivität. Diese Effekte des seriellen Erzählens, in denen sich die Komplementarität von industrieller Arbeit und Sucht bestätigt, hatten schon die Lesehygieniker des 19. Jahrhunderts beunruhigt.
Doch die Hingabe an eine Zeit, die nicht die eigene ist, ist darum nicht Hingabe an Uneigentliches, im Gegenteil: Sie entdeckt die Differenz zwischen unserer Zeit und der Zeit ohne uns, zwischen Lebenszeit und Weltzeit. Diese Differenz intellektuell anzugeben bereitet, zumindest Erwachsenen, keine Schwierigkeiten – wir wissen, dass der nächste Tag auch ohne uns kommen wird. Mit dieser Einsicht zu leben, sie als solche affektiv zu integrieren, ist jedoch eine bedrohliche und – außer für buddhistische Mönche – nicht wirklich zu bewältigende Aufgabe. Sie ist zu groß und zu leer. Die kinematische Fortsetzung nimmt diese Bedrohung zugleich ernst und macht sie erzählbar. In der nächsten Folge wird ein Leben weitergehen, das wir als solches verstehen und an dessen Einzelheiten wir brennend interessiert sind, das aber nicht das unsere ist. Es wird sich fortsetzen wie die Welt am Tag nach unserem Tod.
[1] Walter Benjamin, Der Erzähler. In: Gesammelte Schriften II.2. Frankfurt: Suhrkamp 1991.
[2] Friedrich Hölderlin, Anmerkungen zum Oedipus. In: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Michael Knaupp. Bd. II. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998
[3] Vgl. Helmut Müller-Sievers, The Cylinder. Kinematics of the Nineteenth Century. Berkeley: University of California Press 2012.
[4] Michel Serres, Introduction. In: Auguste Comte, Cours de Philosophie Positive.
Présentation et notes par Michel Serres, François Dragognet, Allal Sinaceur. Paris: Hermann 1975
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des »Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken«, in dessen Heft 07 / Juli 2015 dieser Text ursprünglich erschienen ist.