Der Realist als Utopist |
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Eine Werkschau für Wang Bing, allein das ist schon monumental. Hier: West of the Tracks |
Von Nora Moschuering
Der Golden Pudel Club ist abgebrannt, jetzt wurde ein Minipudelsalon eröffnet. Hamburg ist und bleibt golden und das hat wirklich nichts mit dem Wetter zu tun. Während in München die Dokfestler in den Startlöchern stehen, fand in Hamburg etwa einen Monat davor die Hamburger Dokumentarfilmwoche statt. Die Woche ähnelt dem Dokfest aber wenig. Vergleichbar ist sie eher mit der zwar auch kleinen, aber ziemlich guten und eben auch stark lokal verorteten Nonfiktionale in Bad Aibling. Die Heterogenität der Filmauswahl ähnelt der der Duisburger Filmwoche – auch ein Festival, für das es sich lohnt, in den Norden zu fahren. Beide sind fokussiert und vielseitig, experimentell und klassisch. Wie auch die Duisburger changiert die Hamburger Filmwoche irgendwo zwischen charmantem Publikumsfestival und einer Diskursplattform, der sicher nicht immer alle folgen können.
Dokumentarfilm ist Kunst. Sicher, und so ist es nur folgerichtig, dass es bei dieser Filmwoche einige Neuerungen gab. Es gab keinen Wettbewerb mehr. Zu beengt, zu gepresst. Abgeschüttelt. Zwar scheint das Publikum gemeinhin kompetitive Dinge zu lieben, siehe Sport, vielleicht ist es aber auch nur reine Gewohnheit, eine gewisse Dramaturgie, an die es sich gewöhnt hat. Bestes Beispiel für die Sinnlosigkeit, unter extrem unterschiedlichen Werken den Besten zu wählen, war beispielsweise der diesjährige Berlinale-Wettbewerb. Irgendwie unbefriedigend war das eigentlich schon immer. In Hamburg bekam nun jeder Film die gleiche Aufmerksamkeit. In diesem »offenen« Programm von etwa 20 Filmen waren einzig die Filme mit Hamburg-Bezug gelabelt: DOKLAND Hamburg. International war es in der Retrospektive, sie war dem chinesischen Monumental-Dokumentarfilmer Wang Bing gewidmet. Ein Mann des langen Atems, sein 14-Stunden-Opus Crude Oil (in München bereits vor einigen Jahren auf dem Underdox-Festival zu sehen, ein »Film for exhibition«) war als Installation im Festivalzentrum im Gängeviertel zu sehen. Sperrigkeit aushalten, ja sogar suchen. Und die Diskursplattform? Das waren die POSTIONEN, in der mit »Experten« über inhaltliche und ästhetische, aktuelle und vergangene Tendenzen diskutiert wurde. Austausch starten. Konzentrieren und Dinge umstellen.
Eröffnet wurde die Woche mit Stefan Heyns Dahlienfeuer. Darin werden eifrig fotografierende Blumenenthusiasten in Neukölln zu ihrem Verhältnis zu Berlin, dem Zweiten Weltkrieg, dem Krieg in Afghanistan, Arbeitslosigkeit oder den Vorteilen der DDR befragt, bzw. sie erzählen. Wie sie dort in aller Seelenruhe zwischen feurigen Blüten, beim Sonntagsausflug in die Dahlien-Idylle, zu extrem ernsten Themen erzählen, das hat schon etwas Makaberes, aber dabei auch viel Wahres. Gedreht wurde an einem einzigen Tag, dem Tag der Deutschen Einheit.
Um den Kreis zu schließen: Den Abschluss machte Pawel und Wawel (lief ebenfalls auf dem Underdox-Festival) von Krzysztof Kaczmarek. Kaczmarek ist ein Filmemacher, der eigentlich einen Film machen wollte, dann aber ein Festival machte, um einen Film zu machen. Zu dem Festival kam keiner. Macht aber nichts, denn wenigstens seinen Film hat er gemacht und schließlich ist er ja Filmemacher. Kaczmarek drehte ein Roadmovie, mit einem jaulenden Hund, einer Sängerin im Kreisverkehr, singenden Nonnen und beatboxenden Teenagern und natürlich Wikingern. Kuriose Exponate, rund um ein polnisches Filmfestival in Island, das eigentlich gescheitert ist – das Festival, nicht der Film.
Arlette – Mut ist ein Muskel verfolgt die Geschichte des afrikanischen Mädchens Arlette. Als sie fünf Jahre alt ist, wird ihr Knie während des Bürgerkriegs in der Zentralafrikanischen Republik von einer Kugel getroffen. 2010 ist sie in Heidi Specognas Film Carte Blanche zu sehen. Anstoß für eine Welle der Hilfsbereitschaft. Mit den Spenden konnte Arlette nach Deutschland kommen, um dort operiert zu werden. Die Kamera begleitet sie auf dieser Reise. Die 15jährige kommt nach Berlin, ins Krankenhaus, die Reha. Man erlebt Arlette und den Schnee, wie sie mit Schnee vom Fensterbrett ihren Orangensaft kühlt. Arlette und ihre Musik, die das dröge Schlagergedöns der älteren Reha-Patienten aufbricht. Arlette erkundet das Neue, die Welt der Helfer. Und dann? Dann schlägt die Realität zu. Der Bürgerkrieg in ihrem Zuhause. Arlette erfährt über Skype von Verletzungen in der Familie. Was nun? Wie viel Verantwortung hat man für seinen Protagonisten? Sie zieht bei dem Filmemacher und seiner Mutter ein. Arlette kann man auch auf dem Dokfest in München sehen, genau wie Hinter dem Schneesturm. In dem Film reist der Filmemacher Levin Peter der Geschichte seines Großvaters in die Ukraine hinterher. Der Großvater sitzt ohne Zähne mürrisch schmatzend in seinem Zimmer. Ab und zu holt er aus seinem Inneren seltsam verzerrte Laute hervor, denen der Enkel folgt, in die Geschichte, als der Großvater in der Ukraine stationierter Wehrmachtssoldat war.
Über die Jahre von Nikolaus Geyrhalter (Unser täglich Brot, Homo Sapiens: Dokfest 2016) drehte zwischen 2004 und 2014 immer wieder im niederösterreichischen Waldviertel. Die ersten Bilder wirken, als habe man sich in der Zeit verlaufen, anachronistisch sieht es aus in der Textilfabrik Anderl. An alten Maschinen arbeiten verlorene Menschen
stoisch auf das Ende zu. Die Fabrik schließt, aber die Bewegungsunfähigkeit bleibt bei dem ein oder anderen. Andere machen weiter. Eine großartige Langzeitbeobachtung.
Arbeiten aus und über die Stadt: DOKLAND HAMBURG
Das Meer und der Weg von Hamburg nach Buenos Aires stehen in Josefina Gills Was die Gezeiten mit sich bringen im Mittelpunkt. Ausgangspunkt ist ihr jüdischer Großvater, der in den 30er Jahren nach Buenos Aires flieht. Was heißt Immigrieren? Und: wie viele Gesichter hat das Meer? Auch der Film läuft auf dem Dokfest. Und dann: Klaus Wildenhahn, Klassiker & Urgestein des Direct Cinema. Er kam, um seinen Film persönlich zu präsentieren: Harburg bis Ostern von 1973. Ein akkurat frisierter Pfarrer und sein hippieesker Vikar bestreiten gemeinsam die Zeit zwischen Weihnachten 1971 und Ostern 1972. Taufen, Konfirmationsfeier, Hochzeiten, Beerdigungen und die Angst vor Arbeitsplatzverlust. Wie auch bei Wang Bing ist bei Wildenhahn alles so, wie es ist, nichts ist gemacht oder inszeniert. Der Filmemacher beobachtet.
Arbeit, Alltag, Umgebung, Dauer, Länge … Wang Bings Filme drehen sich um das Aushalten, mit den Menschen in ihrer Zeit zu leben. Wangs Thema ist Chinas ländliche Bevölkerung, die Menschen, die bei dem gerade stattfindenden Aufschwung hinten runter fallen. Die Kehrseite der Industrialisierung. Wang kommt dabei den Menschen näher als Wildenhahn, er verfolgt sie, er lebt mit ihnen, er wird einer von ihnen. Der Filmemacher geht eine Symbiose mit seiner Umgebung ein. Three Sisters erzählt von drei allein gelassenen Schwestern im Ein-Kind-Staat, ihrer Routine, ihrer Art des Überlebens. Der Vater arbeitet in der Stadt, die Mutter hat die Familie verlassen. In Man With No Name folgt er einem Namenlosen, der kein Wort spricht in seine ausgeräucherte Höhle, bei der Feldarbeit oder dabei, wie er irgendwelche Dinge aus Lehm baut. Raum und Zeit spielen auch bei Crude Oil eine große Rolle. 14 Stunden kann man den Arbeitsalltag von Männern auf einem Ölfeld in der Inneren Mongolei verfolgen. West of The Tracks ist eine Chronik des Zerfalls der chinesischen Schwerindustrie. Über vier Jahre lebte Wang in einem Industriekomplex im Nordosten Chinas, zwischen den letzten, der noch an den glühenden Hochöfen arbeitenden Menschen, deren Familien und den Müllsammlern, die an den Gleisen das zusammenklauben, was sie zum Überleben brauchen.
Erinnerung an Siegfried Kracauer. Autor und Filmhistoriker Michael Girke findet Parallelen zu heute. In den dreißiger Jahren, den Angestellten in der Stadt, den Plaisirstuben und der Kultur, die als Zerstreuung für die, laut Kracauer, geistig Obdachlosen galt. Filme aber nur als Tagträume einer verlorenen Gesellschaft zu akzeptieren, dagegen wehrte sich Kracauer. Film sollte die Existenz untersuchen und das Konkrete sehen. Durch den Film sollte sich die Gesellschaft selbst befragen. Film wird so zu einem Seismograph der Welt. Was ist heute seine Aufgabe?
Vierjahreszeiten. Der Mond ist aufgegangen ist eine filmische Studie ihrer Harburger Umgebung der Künstlerin Hanne Darboven. Tonmann und handfester Handwerker Bernhard Berz war zu Gast. Schön. Leider fühlte sich keiner irgendwie befähigt, tatsächlich irgendeine Aussage zu Darbovens Werk zu machen. »Das entzieht sich meiner Kenntnis« – immer wieder, ruhig und höflich. Ein bisschen schade. (Da wäre Thomas Mohr ein guter Gast gewesen, der mit seinen Kurzfilmen in das Werk von Hanne Darboven regelrecht eingetaucht ist.)
Etwas weniger abstrakt ging es da bei Der VW-Komplex von und mit Hartmut Bitomsky zu. Von der Vorstellung des ersten Volkswagens in den 30er Jahren durch Adolf Hitler, die Umstellung der Fabrik auf die Produktion von Rüstungsgütern im Zweiten Weltkrieg bis zum »Wir sind wieder wer« und dem Aufschwung der 50er-/60er Jahre, den Gastarbeitern und den Arbeitersiedlungen (hier ist übrigens die Einkaufspassage eine Art Zentrum, ein spirituelles gibt es nicht mehr, Kracauers »geistig Obdachlose« tauchen wieder auf). Es geht auch hinein, in das Innere des Betriebs, an die Fließbänder, zur Entindividualisierung des Arbeiters und seiner Angst eben genau diesen unpersönlichen Arbeitsplatz zu verlieren. Damit gelangt man ins Heute, der Sprung ist nicht weit. »Geht es VW schlecht, geht es der Bundesrepublik schlecht!« sagte man damals. Aha. Die Frage eines Zuschauers nach Bitomskys eigener Utopie von Arbeit wird leider nicht abschließend beantwortet, aber man merkt, dass er ein Realist ist, in dem auch ein Utopist steckt. Vielleicht sollte das bei jedem Dokumentarfilmer so sein.