Das Volk fehlt |
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Zonas de rebelión: Der kürzeste Film des »Themas« ist ein filmisches Manifest, kollektiv entstanden während der Besetzung der mexikanischen Piaza de la Constitución. |
Von Dunja Bialas
Nachdenken über „el pueblo“. Fünf Tage lang, in acht Programmen und über fünfzig Filmen. Dabei stellte sich dem Besucher des diesjährigen Oberhausen-„Themas“ – el pueblo – unweigerlich die Frage: Was eigentlich ist el pueblo, und wieso überhaupt sollte ich mich hier und jetzt dafür interessieren? Zum ersten Mal seit drei Jahren war die renommierte Nebenreihe, wegen der allein es sich lohnt, zu den Kurzfilmtagen zu pilgern, inhaltlich gefasst (und nicht medienreflexiv wie die letzten drei Vorgängerthemen „Flatness“, „Film without film“ und „3D“, eine Diskurs-Tradition, die im nächsten Jahr wieder aufgegriffen werden soll, so wurde nachts beim Bier kolportiert). „El pueblo“, damit ist „das Volk“ Lateinamerikas gemeint, und interessieren sollen wir uns deshalb dafür, weil der Begriff, wie sich herausstellte, zwar überholt ist, aber interessante Traditionen von Kampf und Kinematographie in sich birgt, in deren Absetzung sich viele neue Filme positionieren. Eine Verabschiedung des militanten Kinos der 60er Jahre, »Wir sind das Volk«-Demonstrationen, kommunistische Utopien, aber auch von Armuts-Darstellungen, Folklore und Diktatur.
Themen-Kurator Federico Windhausen fächerte den Begriff anti-traditionell rein semantisch auf und subsumierte »Region, Nation, das Volk allgemein, das Dorf«, ohne ausdrücklich Blicke auf Politik oder Gesellschaft werfen zu wollen. Die einzelnen Programme entfalteten dann jedoch ein kollektives Bild über Arbeit, Ethnographie, Migration, Urbanität, Protest und Gesellschaft, die die Harmlosigkeit des Windhausenschen Wortfeld-Ansatzes zum Glück durchkreuzten und ein vielstimmiges und –deutiges Bild entwarfen, das, wenn man alle acht Programme durchgesessen hatte, doch so manche Erkenntnis lieferte.
Ins Zentrum des Themas hatte Windhausen, auf der »Suche nach dem neuen Lateinamerika«, zeitgenössische Künstlerfilme gestellt. Ein „Künstlerfilm“, das ist ja ebenso wie der Kurzfilm eine oftmals angstmachende kinematographische Spezies, im schlimmsten Fall ambitioniert der eine, pointenversessen der andere. Das „Thema“ war, wie die Kurzfilmtage insgesamt, nicht vor derartigen Ausrutschern gefeit, es fanden sich aber auch hellsichtige Werke im Programm, die das „Kunstvolle“ einsetzten, um Andeutungen und Brüche zu inszenieren und so das Allumfassende, Gesamtheit oder Ganzheit zu verweigern, das Erzählen vorzuenthalten. Das „Volk“ schälte sich aus dem „Thema“ vielmehr in kaum noch mosaikfähigen Splitterstücken, die mehr auf das Zerbrochene als auf eine Identität hinwiesen.
Es gab Beispiele für den sehr gelungenen Künstlerfilm, die wie Metaphern für die lateinamerikanische Seele wirkten. Federico Adorno entfaltete in La Estancia (Paraguay 2014) eine politische True-Crime-Scene, die im nächtlichen Absuchen eines Zuckerrohrfeldes ein Massaker offenbarte. Ein Szenario, das ohne Worte auskommt, das immer wieder in den Schatten der Nacht verschwindet, in denen die Landarbeiter auf- und abtauchen, eine Ästhetik des
Schreckens, gezeichnet von Trauer und Unfassbarkeit.
Oder Guillermo Moncayos Echo Chamber (2014), eine französische Produktion, die der kolumbianischen Eisenbahnlinie zwischen Karibik und Pazifik in einer Kunstaktion nachging, ein mit Lautsprecher bewehrtes Schienen-Motorrad durch die Dörfer schickt, dabei Warnungen ausruft, vor einem bevorstehenden Hurrican und, ganz allgemein, dem Untergang. Oder Carlos Silvas El Hueco (Chile
2013), dem ein Pizzawagen in einer Straßennische zum Anlass wird, über ökonomische Alternativen zum großen, globalen Kommerz nachzudenken. Schließlich Cristian Alcaróns großartiger Propaganda, 10mo Aniversario (Peru 2010), der sehr witzig über die Bilder von der Wiederwahl des japanisch-peruanischen Politikers (und verurteilten Diktators) Alberto Fujimori die Tonspur eines japanischen Monsterfilms legte. Das war politischer Kommentar genug, und
fand, indem er sich die Mitteln der Propaganda zunutze machte, zu einem Abgesang an das Totalitäre. (Einen Auszug gibt es hier.)
Einige Filme feierten sich jedoch auch als verkünstelt-diskursive Abhandlungen. Das nervte im Kino und wäre eventuell im Kunstkontext besser platziert gewesen. Um nur drei Beispiele zu nennen, waren dies Nariño aus Kolumbien über einen Theaterworkshop, die literatische Verrätselung La cabeza mató a todos (Puerto Rico) oder die Performance-Doku Ficções aus Brasilien. Filme, die schnell und fürs Netz gedreht waren, als Dokumentationen des eigenen Tuns (so vor allem im Programm »Theater of Conflict«), waren der dritte zeitgenössische Pfeiler, durchaus konsequent beim Blick auf das Volk von heute, im Kinosaal jedoch: ermüdend.
Der zweite große Strang der Programmierung machte diese filmischen Durststrecken aber wieder wett. Die Rückschau auf die Tradition politischen Filmemachens in Lateinamerika verwies in zahlreichen Beispiele aus den 60er bis 90er Jahren auf eine untergegangene politische Zeit des Aufbruchs und der Aufruhr. Die man sich auch als eine filmisch gefasste denken kann, so sehr wirkten die 16- und 35mm-Filme wie eine materielle Konterrevolution zur digitalen heutigen Zeit. Chick Strands Fake Fruit Factory (1986) zeigte, wenn auch als DCP vorgeführt, den wunderbaren Moment, wenn sich das Korn des Filmmaterials in extremen Close-ups an Gegenstände, Hände und lachende Münder schmiegt. Die 2009 verstorbene Amerikanerin bringt den dokumentarischen mit dem Blick der Avantgarde zum Verschmelzen, haucht den Arbeiterinnen einer Holzfrüchte-Fabrik Erotik und Begehren ein (hier gibt es den Film auf Vimeo).
Zur regelrechten Feier von Material und anarchischer Lust am Film geriet der brasillianische Cocô Preto von Marcos Bertoni, von Super8 auf die riesige Leinwand im Lichtburg-Kinosaal projiziert. Der Regisseur höchstpersönlich war am Projektor und hielt live ins Bild den „Cocô Preto“, einen undefinierbaren Gegenstand, den er zum „Außerirdischen“ erklärte und ins recycelte Filmmaterial des 1986 gedrehten Sangue de tatu tauchte: „Film without Film“ und „pueblo“ als Fremderfahrung eines Außerirdischen. So schön kann „Thema“ sein. (Einen Eindruck über den reportageartigen, unernsten Bricolage-Charkter erhält man hier.)
»Un dejo de nostalgia y melancolía« (ein Geschmack von Nostalgie und Melancholie) sei immer verbunden, wenn man Rückschau auf die Hochzeiten des „pueblo“ halte, so Filmwissenschaftler Gonzalo Aguilar. Aguilar war einer der Panelgäste, die das Thema diskurstheoretisch absichern sollten. Er hinterfragte zunächst einmal – ganz grundsätzlich – den Titel, „el pueblo“. Der Begriff sei aufgrund des Missbrauchs durch die lateinamerikanischen Diktaturen und des Neoliberalismus', der das Volk populistisch einfängt, unbedingt zu vermeiden. »Somos el pueblo«, der einstige Schlachtruf der revolutionären Selbstermächtigung (»wir sind das Volk«), nehme sich unter der Perspektive seiner Vereinnahmung nur bitter aus. Dagegen setzte Aguilar: das Differente, das Vielfältige, Vielstimmige, Multiperspektivische und Multikulturelle und verwies auf die Unmöglichkeit von Integration des Disparaten unter die Einheit des „pueblo“, die sich als solche auch gar nicht mehr darstelle. So sei keinesfalls eine Renaissance festzustellen, weder des Begriffs noch des Phänomens „pueblo“.
Anknüpfend an Aguilar hätte sich „el pueblo“ eben auch als „Nostalgie“ oder „obszöner Wunsch“ perspektivieren lassen, in dem sich die Bilder von Unterwerfung oder Armut als pervers-sehnsuchtsvolle Konstrukte der Bourgeosie offenbart und entlarvt hätten. Aguilar erinnerte an Glauber Rochas Manifest Estética do Sonho von 1971, in dem dieser den entscheidenden Satz prägte: »O povo é o mito da burguesia.« – »Das Volk ist ein Mythos der Bourgeoisie.« Zwischen einer Ästhetik des Hungers und Traumes entspanne sich, so Aguilar, demgemäß die Darstellungen von »el pueblo«. Daneben impliziere es immer auch „el líder“ („Führer“) als Gegenüber und werfe Fragen auf wie: Wie geht es der Demokratie in Lateinamerika? Oder: Was ist mit Peron, Evita und Kirchner?
Einzelne Filme jedoch lösten auch die von Windhausen nicht ausdrücklich perspektivierten Punkte ein. Neben dem oben schon erwähnten Propaganda von Cristian Alcarón ist vor allem El Palacio (Mexiko 2013) von Nicolás Pereda erwähnenswert, der jenseits der historischen Filme kraftvollste und anregendste Beitrag des gesamten Themas. Pereda entwirft eine „multidad feminina“ (so nach Aguilar der Gegententwurf zum „pueblo masculino“) als Teilmenge der Arbeiterklasse, die sich im titelgebenden Palast auf ihr Leben als Dienstmädchen vorbereiten. Pereda bringt die gesellschaftlichen Klassen in ein Kontinuum, zeigt Bewusstwerdung über die Mechanismen der Unterwerfung und widerständige Diskursermächtigung. »Sag, wenn du gefragst wirst, ob du mit Dampf bügelst, dass du das tust. Die Frage allein sagt dir, dass sie das erwarten.« Die „Einstellungsinterviews“, in denen derart die Beherrschung der Sprache der „Herren“ erprobt wird, filmt er en face. Es ergeben sich Porträts von Frauen, die den Blick auf den Betrachter zurücklenken, auf die abwesende Bourgeoisie, zurückgeworfen von der Arbeiterklasse, die sich auf den nur mehr als gesellschaftliche Konvention denkbaren „servidumbre“ vorbereitet.
In Tableaux wird die kollektive Existenz der Frauen, die unter einem Dach leben, in der Totalen inszeniert. Außenräume stülpen sich zu Innenräumen, wie der Patio, der Lichthof, der sich im tiefsten Inneren des Gebäudes befindet und in den doch der Regen einfällt, wo die Pflanzen gedeihen und die Zähne geputzt werden. Wie in surrealen Momenten betreten Tiere das Haus, ein Esel, Hühner, ein Hund zerrt an seiner Kette, angebunden im Innenhof, ein durchaus auch metaphorisch zu verstehendes Bild.
Dem maskulinen Herrschaftskonstrukt stellt sich auch die „multitud feminina“ in dem sehr großartigen und kollektiv gedrehten Somos + (We Are More, Chile 1985) entgegen. Auch hier Diskurs-Aneignung gegen die Klassendistinktionen: Arbeiterinnen kleiden sich wie Frauen des Mittelstandes, um gegen Pinochets Regime anzutreten. Die Polizei sprengt mit Wasserwerfern die Versammlungen, gleichzeitig scheut sie vor mehr Gewalt zurück: die Kleidung als Klassen-Camouflage wirkt wie ein Schutzschild innerhalb der gesellschaftlich-diktatorischen Ordnung.
Als Versprechen, im „pueblo“ das Wirkliche anzutreffen, dem immer auch etwas Wahrhaftiges zukommt, wurde in den 60er Jahren das „Volk“ gefilmt, so Aguilar in „Más allá del pueblo“: »una promesa del encuentro con el pueblo como lo real«. Agarrando Pueblo (The Vampires of Poverty, 1978) der Kolumbianer Carlos Mayolo und Luís Ospina macht aus dem »Hunger nach dem Realen« vieler engagierter Filmemacher
der Zeit ein wunderbar zynisches Schelmenstück. Ein Filmteam ist auf der Jagd nach besonders eindringlichen Szenen, um das verarmte Volk als „Opfer von verschiedenen Umständen“ zu filmen, in Zuständen von »Schwachsinn, Bettelei und Analphabetentum«. Wir brauchen jetzt noch einen richtigen „loco“, einen Verrückten, rufen die Filmemacher begeistert am Ende ihrer Tour, auf der sie den Armen der Straße die Seelen gegen Geld und für die Kamera entrissen: ein
satirisches Beispiel für „Pornomiseria“. (Da die DCP in Oberhausen „hing“, hier der Link zum vollständigen Film.)
Eine auch heute noch hochaktuelle Entlarvung falsch verstandenen Dokumentarfilmens, man denke an den Österreicher Hubert Saupert und seinen Darwin’s Nightmare oder die niederländischen Indonesion-Exploitation Shape of the Moon (beides 2004).
Mit „El pueblo“ haben die Kurzfilmtage Oberhausen dieses Jahr ein Thema aufgebracht, das das zeitgenössische Kino derzeit selbst aufwirft. Statt Exploitation unter dem Deckmäntelchen von Gutmenschentum und Engagement zu betreiben, wie die soeben erwähnten Beispiele, erzählen jüngere Filme lieber von indigenen Völker. Aber nicht etwa wie der zweifelhafte También la lluvia (2010), vermeintlich von Icíar Bollaín, in Wirklichkeit jedoch von Ken-Loach-Drehbuchautor Paul Laverty, mit allen erdenkbaren Klischees vom „guten Wilden“. Sondern jüngst, und dies ist als echte Emanzipation von der überkommenen Ethnographie zu deuten, nicht als von außen gerichtete Fremderzählungen, sondern als von innen heraus erzählte Mythen und Erlebniswelten. Jayro Bustamantes Ixcanul (Guatemala 2015) macht vor, wie ein Film ganz in der Welt der Indigenen spielen und in deren Sprache gesprochen sein kann, ohne folkloristisch zu sein, der kolumbianisch-venzulanische El abrazo de la serpiente von Ciro Guerra (2016) zeigt, wie man von einem Schamanen erzählt, ohne dem Ethnokitsch zu verfallen.
Aguilar lässt sich in seiner „pueblo“-Kritik, der er heute die Existenz als etwas Gefasstes abspricht, sehr schön mit Gilles Deleuze' Ausführungen in »Zeit-Bild« zusammenbringen. El pueblo falta, »das Volk fehlt«, schreibt Deleuze im Hinblick auf die »größten politischen Regisseure des Westens«, Straub und Resnais: »Im klassischen Kino ist das Volk präsent, auch wenn es unterdrückt, getäuscht, unterworfen, ja selbst dann, wenn es blind oder unbewusst ist. (…) Wenn es ein modernes politisches Kino gibt, dann auf der Basis, dass das Volk nicht mehr existiert oder noch nicht existiert …das Volk fehlt.«
Nur in dieser Hinsicht hat Oberhausen dieses Jahr: das Thema verfehlt.