Es ist Zeit – auf der Suche nach dem, was kommt |
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Auch so kann der Dokumentarfilm heute aussehen: Happy |
Von Nora Moschuering
»Es ist Zeit« war das Motto oder der Untertitel der diesjährigen Duisburger Filmwoche. Ein Ruf in die Zukunft, weniger ein Blick in die Vergangenheit. Ja, es war ein Jubiläum. Nein, es wurde nicht gefeiert. Kein »40 Jahre 40 Filme«, kein Best-off, keine Galerie mit 40 Plakatmotiven oder eine Anthologie mit Bonmots aus den Gesprächsprotokollen. Nein, Duisburg trinkt eben doch lieber Bier als Sekt und hält es wie jedes Jahr: Es stellt die Filme in den Mittelpunkt und nicht das Feiern der eigenen Arbeit.
Die »Zeiten in Duisburg« wie der Festivalleiter Werner Ruzicka in seinem Vorwort schreibt, stehen für die kritische und öffentliche Auseinandersetzung mit dem Dokumentarfilm. Wie jedes Jahr also pilgerte man im Anschluss an den Film hinüber in den Besprechungssaal, in dem eine Stunde über die jeweilige Arbeit diskutiert wurde und ging anschließend – also gefühlt fast Alle – eine rauchen, um sich dann wieder in den Kinosaal zu setzen, Trailer von Thomas Heise und der nächste Film und im Anschluss daran das nächste Gespräch. Die sorgsam geführten Gesprächsprotokolle können auf der Homepage heruntergeladen werden.
Über Festivals zu berichten ist immer unbefriedigend, weil man eben nicht einen Film hat, sondern eine Vielzahl davon und im Fall von Duisburg eben auch eine sehr heterogene Auswahl, denn den Dokumentarfilm gibt es nicht, ja nicht einmal eine Tendenz. Aber für die Strukturierung des Textes habe ich drei Blöcke ausgemacht, zwei davon eher inhaltlich, einer eher formal.
Irgendwie haftet dem Landschaftsfilm immer eine merkwürdige Nostalgie nach der guten alten Zeit an, nach dem Zurück zur Natur, dem Graben in der Erde, dem Fällen der Bäume und dem freien Blick zum Horizont (der Block »Arbeit, Industrie und Stadt«, fehlte übrigens dieses Jahr komplett). Landstück von Volker Koepp ist dafür wohl das beste Beispiel, ein gediegenes Alterswerk, ein Mann übrigens, der sich, ähnlich wie der Regisseur Rudolf Thome in Serpil Turhans Rudolf Thome – Überall Blumen, in die Landschaft Brandenburgs zurückzieht um dort Wein zu trinken und über Veränderungen nachzudenken. Koepp und Thome denken über die Vergangenheit und den Wandel nach, mit dem Unterschied, dass Thome zusätzlich an die Zukunft denkt (zu Turhans Film später mehr). So ist Koepps Film nicht wirklich interessant, aber irgendwie Genuss. Sigmund Steiner allerdings verrennt sich in seinem Film Holz Erde Fleisch Mirr auf dem Feld, dem Wald und bei einem Schäfer um seinen Vater besser zu verstehen, der sich wünscht, dass er den Hof übernimmt. Das macht er formal zwar konsequent, er bleibt dabei aber so sehr in alten patriarchalischen, unflexiblen Rollen, dass das kleine Mädchen – auch eine mögliche Erbin – erst mal gefragt werden muss, ob sie denn wohl doch lieber noch auf einen Mann warten sollte. Papa hievt sie dann über den Bach und das ist schon entzückend, aber ... wo soll das hinführen? Irgendwie ärgerlich. Da ist Mirr von Mehdi Sahebi, über die Landreinigung des Staates im Nordosten Kambodschas und das Leiden der Kleinbauern, die zur ethnischen Minderheit der Bunong gehören, viel interessanter. Zu dem Film, ebenso wie zu Nikolaus Geyrhalters Homo Sapiens, beides auch Landschaftsfilme, im nächsten Block mehr.
Erstaunlich viele Filme in Duisburg versuchten mithilfe der Inszenierung ihren Protagonisten näher zu kommen. Das distanziert, verfremdet und bietet damit Schutz und macht Mut sich doch selber zu zeigen. Neben dem eben schon erwähnten Mirr, der den Förderpreis der Stadt Duisburg erhielt, sticht besonders Brüder der Nacht heraus, der mit dem 3-Sat-Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurde. Aber auch Vreme von
Dragana Jovanovic oder Die Geträumten von Ruth Beckermann, Safari von Ulrich Seidl, Homo Sapiens und Leben – Eine Gebrauchsanleitung arbeiten auf diese Art und
Weise.
Brüder der Nacht von Patric Chiha, der eigentlich vom Spielfilm kommt, inszeniert die Schönheit junger, bulgarischer Roma die sich in Wien prostituieren. Wie er das macht, ist einerseits unheimlich schön, andererseits auch sehr traurig. Er gibt ihnen Beleuchtung, Kostüme, Requisiten in denen sie sich austoben können und in denen sie die Regisseure ihrer eigenen Wirklichkeit werden. Ein Spiel in dem alle Nein sagen dürfen und jeder Platz zum
Erzählen hat.
Mirr von Mehdi Sahebi handelt von den Bunong im Nordosten Kambodschas, die ihre eigene traurige Geschichte und Realität nachspielen. Der Staat hat die Bauern enteignet, um riesige Kautschukplantagen anzubauen. Die Bunong, selber ein schriftloses Volk, geben so eindrücklich ihr Leben wieder und weiter, das sonst vergessen oder gar vertrunken wird ... und wer weiß, was der Film bewirken kann?
Homo Sapiens von Nikolaus Geyrhalter ist
nicht die Inszenierung von Protagonisten, sondern von Räumen und Dingen. In langen Einstellungen, fast meditativ, führt er an Orte, die schon längst von den Menschen verlassen wurden und in denen nur noch der Wind die Dinge und Pflanzen bewegt. Das ist sehr schön, auf seine melancholische, apokalyptische Art und Weise.
Die Geträumten von Ruth Beckermann ist ein bisschen zu schön für Duisburg. Erzählt wird die große Liebesgeschichte von Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Sind Liebesbriefen, die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren, Dokumente oder Gedichte? Beckermann macht sie zu ihrem Drehbuch. Die Konversation der beiden zog sich über Jahre hin. Die Protagonisten – er Schauspieler, sie Musikerin – lesen die Briefe vor. Briefe werden zum Dialog. Durch die Stellung der beiden zueinander, ihre Blicke, die Gespräche in den Rauchpausen, entsteht eine Spannung, die den Inhalt der Briefe lebendig werden lässt.
Handfester wird es bei Leben – Eine Gebrauchsanleitung von Jörg Adolph und Ralf Bücheler. Ein Update von Harun Farockis Leben – BRD von 1989, in dem dieser die Rollenspiele, Schulungen und Übungen abfilmt, in denen wir unser Leben theoretisch Vor-üben oder unsere Probleme Nach-bearbeiten. Die beiden sind näher dran, weniger distanziert und abstrakt als Farocki. Dadurch wird es leider aber auch weniger ironisch und unheimlich. Nichtsdestotrotz erfährt man viel über unseren Status Quo und was sich in den letzten dreißig Jahren geändert hat. Es scheint mehr Sinnsuche, Selbst-Coaching, Roboter, Howls und Yoga-Kurse zu geben.
Mit der Flüchtlingskrise beschäftigt sich der schon im Rahmen der Berlinale viel besprochene und hochgelobte Film Havarie von Philip Scheffner, der in Duisburg den ARTE-Dokumentarfilmpreis erhielt. Der Film ist einer der wenigen Fälle in dem ein gutes Konzept sowohl formal, als auch inhaltlich konsequent durchgehalten wird. 3½ Minuten Handyfilm werden auf 90 Minuten gezogen. Und so wird das Bewegen der Bilder zu einem Ticken der Uhr oder einem menschlichen Herzschlag (Dinge die man auf der Tonebene auch hört). Man hat Zeit die einzelnen, sich immer leicht verändernden, stark pixeligen Bilder von Sekunde zu Sekunde neu zu befragen. Da treibt ein Flüchtlingsboot auf dem Meer, mit 13 Männern auf ihm. Weit weg sind sie und sie warten, wie alle. Auf der Tonebene besteht der Film aus Material, das Scheffner gefilmt hat, um einen ganz anderen Film über das gleiche Thema zu machen. Er hat nach den Insassen geforscht, nach dem Mann, der das Video gemacht hat, nach anderen Flüchtlingen und anderen Schiffen. Jedes dieser Gespräche wird als Ton bis zum Schluss laufen gelassen. Man hört, wie der Handyfilmer vom Konflikt in Nordirland erzählt und anschließend seine Vögel füttert. Man wartet auf die Ankunft des Helikopters. Als dieser nach 90 Minuten kommt, beginnt für die 13 auf dem Schlauchboot wieder ein neues Warten. Das Warten auf das Rettungsschiff. Die »Adventure of the Seas«, das Kreuzfahrtschiff, dessen Funkverkehr mit der spanischen Küstenwache man verfolgt hat, und von wo aus gefilmt wurde, setzt seine Reise fort.
Bruder Jakob ist der Bruder des Filmemachers Eli Roland Sachs. Jakob konvertierte zum salafistischen Islam. Darüber hat der Bruder einen Film gemacht. Was erst aus der Distanz geschieht, nähert sich immer weiter an. Jakob macht mit, er liest seine eigenen Texte, er steht Rede und Antwort. Er ist auf der Suche nach dem Sinn und hat dabei den Glauben gefunden – irgendwo in sich drinnen. Er bekommt eine voll verschleierte Ehefrau und zusammen bleiben sie weiter auf der Suche, während die Familie daneben steht. Zumindest der Dialog zwischen den beiden Brüdern ist wieder da.
Zwei sehr starke Filme. Dagegen ärgert Un solo colore von Jörg Burger. Burger wollte einen Film über Flüchtlinge machen – aha – aber da war alles schon abgegrast an der Küste, also stieß er etwas ins Hinterland vor und voilà da fand er auch Flüchtlinge. In der Gemeinde Camini kümmert sich besonders ein Paar um sie, die nicht genau wissen, was sie in der Einsamkeit den ganzen lieben langen Tag tun sollen. Die Flüchtlinge kommen in ihren kurzen Kommentaren fast schon arrogant rüber, weil der Film verpasst, beide Seiten darzustellen und stattdessen etwa 1/3 unreflektiert das Paar reden lässt. Der Film bedarf eines Gesprächs, weil er von sich aus nicht funktioniert, oder – was noch schlimmer ist – sogar falsch funktioniert.
Offshore – Elmer und das Bankgeheimnis von Werner Schweizer funktioniert zwar besser, so ganz glücklich ist man aber auch nicht. Der Film eines Schweizers über das Bankgeheimnis. Das gab es noch nicht, obwohl es über das Thema schon eine Menge Filme gibt (Falciani und der Bankenskandal von Ben Lewis beispielsweise ist dem Film nicht nur im Titel ähnlich). Offenbar wird Selbstkritik in der Schweiz nicht gerne gesehen. Es geht um den ehemaligen Bankmanager Rudolf Elmer, der die Seiten wechselt. Daneben auch um Schweizer selber, ein Linker der mittlerweile einen Weinberg besitzt – dessen Produkte er in Duisburg immer wieder anpreist. Zwei Männer im ähnlichen Alter und aus der gleichen Gegend, mit unterschiedlichen Lebensentwürfen. Das kann man machen, schwierig wird es bei Elmar. Es scheitert an seiner fehlenden Moral, denn er ist mitnichten ein Bekehrter oder gar Idealist, sondern eine Art Mitläufer, der beleidigt ist, weil er von der Bank entlassen wird, für die er zuvor jahrelang gearbeitet hat. Das heißt, auch brav Geld auf Offshore-Konten gelagert hat. Stellt sich die Frage: Was macht man, wenn die Realität nicht in den Film passt? Dieses Dilemma stärker zu thematisieren wäre eine Möglichkeit gewesen, gerade wenn die andere Seite, also Schweizer selber, anscheinend immer schon idealistisch gewesen ist.
Genannt werden sollen hier noch The Dazzling Light of Sunset von Salome Jashi, mein Favorit, über eine kleine Lokalredaktion in der Stadt Tsalenjikha in Georgien. Kleine Geschichten werden zu einem Porträt der Stadt und zum Nabel ihrer Welt. Immer wieder positionieren sich die scheinbar Schönen und die politischen Gestikulierer auf den kleinen Bühnen, seien es wirkliche Bühnen oder die Bühnen des Medienraumes. Oft ist der Schein, das Auftreten, hier wichtiger als der Inhalt und eine kleine, wilde Eule spannender als eine Wahl.
Die »Carte Blanche«, der Nachwuchspreis des Landes NRW ging an Paradies! Paradies! von Kurdwin Ayub. Sie studierte an der Akademie Wien Malerei und experimentellen Animationsfilm. In Paradies! Paradies! beschreibt sie die sehr schräge Beziehung zu ihrem Vater, ein Kurde, der als Arzt in Wien lebt. Kurdwin fährt mit ihrem Vater in den Irak – ohne sie fährt er auch nicht –, die Mutter bleibt derweilen in Wien. Kurdwin löst sich nicht mehr von der Kamera, ab und an kann man ihr schwarzes Haar um die Kamera herum im Spiegel sehen. Ihre Stimme dagegen hört man ständig. Der Vater möchte eine Wohnung kaufen und schwärmt von der Heimat, der Cousin möchte nur weg. Der Vater fährt zu den Peschmerga-Kämpfern, wie ein Tourist. Da benutzt er so häufig das Victory-Zeichen, dass es noch alberner wirkt, als es das ohnehin schon tut. Paradies! Paradies! ist eigentlich ein zutiefst ernster Film über Exil, aber gleichzeitig auch lustig. Wie die Kamera in einem vollkommen rosa Kinderzimmer verharrt, während sich Onkel und Tante im Nebenzimmer streiten. Wie die Peschmerga-Kämpfer sich in einem Laden für Militärbedarf drängen und über die modischen Jacken sprechen, das ist komisch und tragisch.
Ein weiterer Vater-Tochter Film hat den Publikumspreis der Rheinischen Post bekommen: Happy von Carolin Genreith. Genreith beschäftigt sich allerdings auf eine viel naivere Weise mit ihrem Vater als Ayub. Die Naivität ist sicher Kalkül. Sie begleitet ihren Vater nach Thailand wo dieser seine neue, viel jüngere Frau heiraten will. Leider beschäftigt sich der Film eher mit einer verunsicherten Tochter als mit den wirklich drängenden Themen, wie Einsamkeit im Alter, Prostitution oder den Begriff von Liebe. Finden kann man das zwar alles, aber es wird einem auch leicht gemacht es zu vergessen. Der Film macht aber wirklich Spaß. Vielleicht also nicht unbedingt ein Film für die Kritiker, Filmtheoretiker und Cineasten, die das Festival manchmal schon fast einschüchternd intellektualisieren, aber eben doch eine Position, wie der Dokumentarfilm heute aussehen kann. Auch bei Serpil Turhans Rudolf Thome – Überall Blumen nähert sich eine junge Frau einem älteren Mann, dem Regisseur Thome, an und das sehr klug, da sich beide im Medium auskennen und sie miteinander spielen. Thome trennt sich nach und nach von seiner eigenen Rolle als Filmender und Gefilmter und da sehen wir ihn plötzlich wie er ist, auf seiner Suche nach dem Leben, was noch kommt. Na also: Es ist Zeit