Alexeij Sagerer, Filmemacher |
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Bei den Dreharbeiten zu Aumühle (Foto: ProT) |
Von Dunja Bialas
»Beim Hühnerköpfen sitzen zwei Männer da, die graben ein Loch und schmeißen all die Hühner rein und das Loch zu. Die Hühner werden nicht gegessen, nur begraben. Das hat was Unheimliches. Oder jemand steht neben einer Kuh, der melkt nicht oder macht sonst was Funktionales mit der Kuh. Daraus entsteht die Frage an das Leben selber: Das Leben selber ist ungeheuerlich. Diese Frage muss man stellen, und die Frage nach der Einmaligkeit. Das macht die Kunst. Auf der anderen Seite sind da die Behinderten, die diese Frage auch stellen. Wenn du das normalisierst, dann kannst du es vergessen.« – Alexeij Sagerer über Aumühle
Aumühle: Dieser Film wurde zum Dreh- und Angelpunkt in Alexeij Sagerers Leben. Gedreht hat er ihn nach einer Meldung, die er im Jahr 1969 in der Zeitung vorfand. Im niederbayerischen Dorf Aumühle im Passauer Landkreis war ein designiertes Wohnheim für geistig behinderte Kinder und Jugendliche bei einer Brandstiftung zerstört worden. Der Fall war ein Politikum. Der Brandstiftung waren Drohbriefe vom Gemeinderat gegen den Eigentümer des Hauses vorangegangen. »Unangenehmes« werde er erleben, hieß es darin, wenn das Behindertenheim käme. Eine Ortsbegehung des Heimleiters, der mit einer Gruppe von Kindern nach Aumühle kam, mündete in einer tumultartigen Auseinandersetzung mit den knüppelbewehrten Einwohnern, die Polizei riet zur unverzüglichen Abreise. Am Abend feierte die Gemeinde, allen voran der Pfarrer, bei Freibier, Lagerfeuer und Würstel ihren Triumph. Wenig später brannte der Dachstuhl des besagten Hauses. Der Heimleiter, der sofort an Ort und Stelle war, wurde verprügelt.
Es war eine Vertreibung ganz im Geiste nationalsozialistischer Gesinnung (die Behinderten wurden als Juden beschimpft), und der Fall kam bundesweit in die Schlagzeilen. Von einem »Mahnmal niederbayrischer, ja nationaler Schande« war im Oktober 1969 im »Spiegel« zu lesen.
»Das war eine Ungeheuerlichkeit«, erinnert sich Sagerer, und er wollte einen Film dazu machen. Er fuhr in das Dorf, führte Interviews. Mit dem bigotten Pfarrer und dem Heimleiter. Der Ebene seiner Recherchen fügte er die unkommentierten Bilder eines Behindertenwohnheims hinzu, die er im Stil des Direct Cinema drehte. Eine dritte und letzte Ebene ergab eine Spielhandlung, die Sagerer in Art seines damals ganz neuen Prozessionstheaters inszenierte und in der sich auch seine Verwandtschaft zum Orgien-Mysterien-Theater des Wiener Aktionskünstlers Hermann Nitsch erkennen lässt. In einer wilden, aber öden Natur (und somit völlig unbespielten Landschaft fernab des Originalschauplatzes) errichtete er ein stilisierte Bauernwelt, in der Schauspieler und Tiere eine archaische Handlung lieferten. Diese spielte sich wiederum auf einer symbolischen, dabei sehr konkreten Ebene ab, es wurden Schweine und Hühner geköpft. Auch das war eine Ungeheuerlichkeit, der Sender ZDF sprang ab.
»Es ging ja nicht um irgendeinen Spendenfilm für Behinderte«, erklärt Sagerer, »mir ging’s um die Ungeheuerlichkeit, die sich abgespielt hatte, deshalb köpf ich am Schluss auch diese Schweine.« Der Film wurde von der Mäzenin Eva Madelung, einer Bosch-Erbin, finanziert, die auch Fassbinders zeitgleichen Liebe ist kälter als der Tod ermöglichte und auch die Miete für das ProT-Theater zahlte, das Sagerer parallel zu den Dreharbeiten betrieb.
Bereits vor Aumühle hatte Sagerer erste Filme realisiert. Mit der »Filmpoesie« Romance (1969) und dem Gangsterfilm Krimi (1969), einem »Film über Kino«, hatte er sich bereits einen Platz im Umkreis des Jungen Deutschen Films geschaffen. Er war mit dem Film-Anarchen Vlado Kristl befreundet und beobachtete, wie dieser sich am Ulmer Institut für Filmgestaltung einen Wettbewerb mit Alexander Kluge um den ersten Abschlussfilm lieferte, und mit Herbert Achternbusch, der im Filmverlag der Autoren war. Er kannte Werner Herzog und Rainer Werner Fassbinder. Sie alle wurden 1979 von der »Zeit« Münchner »Anarcho-Bohème« genannt und ihr »Mut zur Unvernunft« hervorgehoben.
Das »ProT« (»Prott« gesprochen), das Sagerer ab 1969 leitete, war jedoch nicht die Antwort auf das Anti-Theater von Fassbinder. Es ist ausbuchstabiert das »Prozessionstheater«, in dem er mit seinen post-dramatischen, »unmittelbaren« Theater, wie er es nennt, die Theaterlandschaft revolutionierte, mit weitreichendem Einfluss bis hin zur documenta-Teilnahme 1987 mit der szenischen Skulptur »Küssende Fernseher«. Bis zur Aumühle aber wusste Sagerer noch nicht, für was und ob er sich entscheiden würde. Mit seinen Filmen erhielt er die Einladung, dem Filmverlag der Autoren beizutreten. Er nahm Abstand davon, als er im Kleingedruckten das Blasphemie-Verbot entdeckte. Später, als er sich gegen den klassischen Film entschieden hatte, wurde er zum Videopionier und integrierte als einer der ersten das Medium Film ins Theater.
Fassbinder, Achternbusch, Sagerer: sie alle wirkten gleichzeitig, aber jeder für sich in München, machten Filme und Theater. Eine Zusammenarbeit schloss sich aus, zu eigen und wirkmächtig war jeder für sich. Dennoch zeigen sich Gemeinsamkeiten: auch bei Fassbinder und Achternbusch wirkt die Sprache statisch, gekünstelt, gemieden wird das Naturalistische der sogenannten Repräsentationssprache. Es gibt keine Pseudo-Gefühle, keinen Pseudo-Realismus, sondern unmittelbare Dokumentation (im Sinne des Direct Cinema) oder dokumentierte Handlung (im Geiste des unmittelbaren Theaters), die bei Sagerer dann auch ins Symbolische hineinreicht. Ohne vordergründige politische Aussage oder Handlung ist Aumühle so auch ein politischer Film. Er bringt das Unsagbare, Unzeigbare zur Darstellung, das im kollektiven Unterbewusstsein Verborgene. Erzählt wird dabei nicht der Vorfall, vielmehr offenbart sich das untergründige Monströse. Auch dies ist eine Form von Unmittelbarkeit und eine Entscheidung gegen die Repräsentation: Nicht erzählt werden, sondern: es passiert.
Nachdem Aumühle abgedreht war, ging es an den Schnitt, der die drei Ebenen miteinander verwob. Und dann musste Alexeij Sagerer wegen einer, sagen wir mal, äußerst dummen Aktion für zwei Jahre ins Gefängnis von Landsberg (die Geschichte steht wunderbar entblättert in Ralph Hammerthalers sehr empfehlenswerter Biographie »Alexeij Sagerer – liebe mich – wiederhole mich«). Der Film war noch nicht ganz fertig gestellt, und mit diesem Cliffhanger ging Sagerer in Klausur. Der Knast lehrte ihn Souveränität von den Institutionen, was ihn Zeit seines Lebens begleiten sollte, außerdem kreativen Anarchismus. Am Ende fällte Sagerer die Entscheidung fürs post-dramatische Theater, nicht für den jungen deutschen Film.
Nach dem Gefängnis stellte Sagerer noch die Tonspur fertig. Es war 1973, vier Jahre nach dem ungeheuerliche Vorfall in Niederbayern, und der »Spiegel« berichtete vom Freispruch der Beteiligten. Aumühle wurde der letzte Kinofilm, den er machte.
Jetzt wurde Aumühle bei Arri restauriert und digitalisiert und kommt in dieser neuen Fassung wieder ins Kino. Und es zeigt sich: Sagerer hat einen zeitlosen Film über das Monströse und Archaische des Menschen geschaffen, das auch heute noch ungeheuerlich und erschreckend brisant ist.