Wie eine Kontur, die im Lauf der Zeit noch an Stärke gewonnen hat... |
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Ein Wunder an Schönheit und Tiefe: Lisa Reihanas Mehrkanal-Videoarbeit »In Pursuit of Venus (infected)« |
Von Axel Timo Purr
Die Angst geht mit. Und das fast einen halben Tag lang. Die Angst, dass dieses Mal wirklich nichts dabei sein könnte, was einem gefällt. Und die Giardini nähren diese Angst. Denn obwohl der deutsche Pavillon den Goldenen Löwen erhält und Anne Imhofs dystopische Performance »Faust« auch nach der langen Wartezeit tatsächlich unter die Haut geht, bleibt die wirkliche Begeisterung aus, wird eher die Frage lauter, wie lang sich denn noch ein Künstler nach dem anderen an der NS-Vergangenheit des Pavillons abarbeiten, sie unbedingt brechen will. Denn das ist auch in Imhofs Performance immanent: ohne den Pavillon und seine Vergangenheit ist sie im Grunde nicht denkbar und damit auf den dann doch ewig gleichen Diskurs reduziert. Ein Diskurs, der vielleicht erst zur Ruhe kommen wird, wenn ein Künstler den Mut zu einer wirklichen radikalen Lösung, wie etwa den Abriss des Pavillons, hätte.
Aber auch ohne den Ballast der eigenen Vergangenheit ist es scheinbar nicht einfach, sich in den Gärten der Biennale zu behaupten. Vieles wirkt beliebig (Israel), kitschig (Tschechien) oder einfach nur artig (Schweiz), und da hilft wie im Fall der Schweiz auch die filmische Dreingabe (Theresa Hubbards und Alexander Birchlers FLORA) nicht weiter. Im Gegenteil. Holland versucht sich mit seinem Pavillon zwar gleich ganz als »Cinema Olanda« zu inszenieren, die filmischen Bits & Bytes wirken jedoch derartig aufgesetzt und dem vermeintlichen Zeitgeschmack angepasst, dass bei all den »Flüchtenden« nur die eigene Flucht hilft, mehr noch, als der Hauptfilm – eine 15-minütige ohne Schnitt gefilmte thematische Dreiersequenz zu Sozialismus, Schwarzsein und Migration – derartig offensichtlich und gleichzeitig stümperhaft mit dem Experimentellen spielt, dass man den Künstler, Wendelien Oldenborgh, lieber im Nachsitzen in einer Filmklasse statt auf einer der größten Kunstmessen der Welt sehen möchte.
Besser wird es bei den Australiern, wo Tracey Moffatt als erste indigene Künstlerin ihres Landes den australischen Pavillon mit Stills aus einem nie fertiggestellten Film, falschen Erinnerungen und inszenierter Historie bestückt; die interessantesten Arbeiten sind die Filmarbeiten: eine Zwei-Minuten-Loop eines imaginären Films, der von australischen Aboriginees im Jahr 1788 gedreht worden sein soll. »The White Ghosts Sailed In« zeigt verpixelt die Bucht von Sydney und hat in seiner sogartigen Historizität eine fast stärkere Wirkung, vergisst man Moffatts beigelegte absurde Geschichtsumschreibung. Aufregender, weil direkt und ohne theoretischen Ballast ist hingegen die auf einer Aussendwand des Pavillons installierte Videoarbeit »Vigil«, in der Moffatt Filmclips mit Hollywood-Größen wie Elizabeth Taylor, Cary Grant, Julie Christie and Donald Sutherland in Ausschnitte von überfüllten Flüchtlingsbooten geschnitten hat. Weil die Stars allesamt in Momenten großer Erregung gezeigt werden, scheinen sie sich stellvertretend für eine Zukunft aufzuregen, die diese Empathiefähigkeit vergessen hat; da sie jedoch auch nur »Schauspieler« sind und emotionale Authentizität hier mehr als fragwürdig sein dürfte, hinterfragt Moffatt damit natürlich auch den Betrachter.
Auch die Griechen greifen auf die magische Wirkung schauspielerischer Größe zurück. Ein labyrinthischer Raum mündet schließlich in einer filmischen Inszenierung des ersten literarischen Textes, der sich mit dem Thema Asyl auseinandersetzt, Aischylos Tragödie »Die Schutzflehenden«, die mit Charlotte Rampling in einer der Hauptrollen kaum prominenter besetzt sein könnte. So gut funktioniert hier die filmische Realität und ihre Einbettung in die Inszenierung des Raums, dass sogar Moffatts intelligentes »Vigil« in Vergessenheit gerät. Als mich dann jedoch ein entfernter Bekannter, ein griechischer Sammler grüßt und sagt, dass sie es diesmal wirklich geschafft hätten, dass die Arsenale schlechter seien als die Giardini, wird mir dennoch Angst und Bange. Denn so gut sich Griechen, Australier und dann auch die Gimmicks der Finnen (Erkka Nissinen & Nathaniel Mellors) auch ansehen – Begeisterung fühlt sich anders an.
Kaum betritt man die dunkle Schönheit der Arsenale-Räume, scheint sich die Prophezeiung des griechische Sammlers zu bestätigen: Dezent-Dekoratives hängt neben Platt-Politischem und auch der Film schließt sich diesem Kanon an. Ethnologisches Filmmaterial aus den 1970ern (»Rituel en quatre couleurs«) neben einem Video über im Wasser Spielende in einem kolumbianischen Fluss aus der Gegenwart (Marco Avila Foreros »Atrato«); Schneeaffen auf der Suche nach ihrer verlorenen Vergangenheit neben Splatter-Höhlen-Erotik (Pauline Curnier Jardins »Grotta Profunda«); Hale Tengers ästhetisch perfekte filmische Luftballons-auf-Wasser-Installation neben Nika Autors Wochenschau-Exegese und Eisenbahnkontemplation »The train of shadows«. Was soll das alles, fragt man sich, und dümpelt weiter wie ein Schiff mit Schlagseite. Geduckt durch die an zwei gegenüberliegenden Wänden sich ergänzenden Arbeiten des zweiten deutschen Biennale-Löwengewinners, Franz Erhard Walthers, vorbei an Bernardo Oyarzuns Staffage aus Ritual-Masken und einem georgischen Haus, in dem es regnet, bis es dann, endlich so etwas wie eine Erlösung gibt.
Denn dann tritt man aus dem Dunkel der großen Arsenale-Räume in das zweigeschossige Separee, in dem kleinere (Kunst-)Nationen ihre Areale behaupten. Eine davon ist Südafrika. Politisch korrekt teilt sich der schwarze Künstler Mohau Modisakeng die Räume mit der in Berlin lebenden weissen Süadafrikanerin Candice Breitz. Reflektiert Modisakeng mit einer monochromen Dreier-Screen-Videoarbeit und ruhigen, nonverbalen Bildern über Sklaverei und afrikanische Identität, sind Breitz über zwei Räume und sieben Screens gehende Video-Installation »Love Story« alles Farbe und Wort. Im ersten Raum sieht man die Schauspieler Alec Baldwin und Julianne Moore abwechselnd erzählen. Entspannt, dann aufgeregt und emotional erzählen sie »ihre« Flüchtlingsgeschichte. Das erinnert ein wenig an Tracy Moffatts VIGIL, mehr noch als nach anfänglichem Stutzen schnell deutlich wird, dass die Hollywood-Stars hier »beileibe« nicht ihre eigene Geschichte erzählen, sondern ein Kompendium von Geschichten, ohne das zunächst deutlich wird, woher sie stammen könnten. Gleichzeitig werden die Geschichten derartig professionell und mit überraschenden Brüchen vorgetragen, dass sie tatsächlich berühren und eine Empathie zum Thema Migration beim Betrachter erzeugen, die im gegenwärtigen, alltäglichen Migrationsdiskurs keine Entsprechung hat. Diese Wirkung wird verstärkt, sieht man sich im zweiten Raum mit deutlich kleineren Screens, aber inhaltlich dem gleichen, grellgrün gehaltenen Interviewraum, konfrontiert. Hier erzählen die »Quellen«, die Baldwin und Moore repräsentieren, ihre Geschichten, im »Original«: ungekürzt und mit eigener Mimik und Gestik. Das funktioniert zwar ebenfalls, doch wird schnell klar, das eine medial und von weißen Schauspielern vorgetragene Geschichte die »bessere« und vermeintlich »authentischere« Variante ist, um bei einem weißen Betrachter tatsächlich Empathie zu erzeugen.
Und kaum hat man dieser klugen und großartigen Arbeit von Breitz den Rücken gekehrt, und spürt dieses einzigartige, alles beseelende Gefühl, was nur gutes Essen und große Kunst auslösen kann, gibt es die nächste Überraschung, mit der vielleicht nur jene gerechnet haben, die mit Kunstbiennalen und Museen im Asia-Pazifik-Raum vertraut sind, wo eine erste Fassung dieser Arbeit bereits seit 2015 zu sehen war. Es handelt sich um Lisa Reihanas Mehrkanal-Videoarbeit »In Pursuit of Venus (infected)«. Reihana, selbst Maori, hat sich zwar immer wieder in ihren Arbeiten mit der indigenen Bevölkerung, also ihrer eigenen – ethnischen – Geschichte beschäftigt, doch diese nach mehrjähriger Entwicklungsarbeit erarbeitete filmische Interpretation einer Panoramatapete, die 1804/05 in Frankreich entstanden war und die Südseereisen von Seefahrern wie Kapitän Cook illustrieren sollte, übertrifft diese Arbeiten bei weitem, wohl auch, weil sie eine ungewohnt dichte Folge von Rezeptionsebenen erzeugt.
Betritt man den neuseeländischen Raum, ist es am Anfang eigentlich nur Staunen. Staunen über diese 26 Meter breite Leinwand, die sich zu bewegen scheint. In der nicht die Bilder sich wie im gewöhnlichen Film zu bewegen scheinen, sondern die Leinwand selbst von rechts nach links zu rollen scheint. Und mit ihr ein Kaleidoskop an Geschichten, die über ein virtuelles Studio die historischen, aber transformierten Tapetenmotive mit von realen Darstellern gespielten Szenen zu Leben erweckt. Vignettenartig werden über dieses faszinierende Amalgam aus Film und Malerei Momente aus der Zeit vor und nach der europäischen Besiedlung Neuseelands erzählt. Mit den ersten Kontakten zwischen der indigenen Bevölkerung und den Europäern beginnt Reihana – über einen filigranen, aber eindringlichen Soundtrack verstärkt – die imperialistischen und zeitgenössischen Klischees über die Ethnografie im Pazifikraum zu hinterfragen. Dies geschieht jedoch derartig subtil und fast schon lyrisch, dass einem bei aller immanenter Kulturkritik das Staunen über die Schönheit dieser Arbeit nicht vergehen will. Ein Trailer von Reihanas Arbeit ist inzwischen auch online einsehbar, gibt allerdings nur eine Ahnung davon, was diese Arbeit alles ist und sollte keinesfalls den Weg nach Venedig ersetzen. Denn Reihanas »In Pursuit of Venus (infected)« im Original anzusehen, lohnt allein schon den Weg nach Venedig, so beschwerlich er im Sommer oder Herbst inzwischen auch sein mag.
Und wer sich auf den Weg macht, wird gleich auch noch ein weiteres Mal belohnt, denn nur unweit des neuseeländischen Pavillons befindet sich, fast am Ende der Arsenale, ein kleiner, unscheinbarer, turmartiger Raum, in dem eine Arbeit eines der Pioniere der Videokunst zu sehen ist, eine Arbeit, die online zwar zu finden, aber nur in mangelhafter Qualität anzusehen ist: Bas Jan Aders »Broken fall (organic)« von 1971. Ein kleines Juwel, das auch heute noch aufregend und innovativ anzusehen ist und selbst nach den großartigen, so viel elaborierteren Arbeiten von Breitz und Reihana weit mehr als wie ein Schatten aus der Vergangenheit wirkt, sondern eher wie eine Kontur, die im Lauf der Zeit noch an Stärke gewonnen hat. Und die dazu anregt, diesen Künstler, der 1975, erst 33-jährig, mit seinem Segelboot verschollen ging, neu zu entdecken.
Die 57. Internationale Kunstausstellung, La Biennale di Venezia, findet vom 13. Mai – 26. November 2017 statt.