Guilty Pleasure Filmkritik |
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V.l.: Dr. Bergengruen, MFG, Lukas Foerster, Stipendiat 2017/18, Federico Sanchez, artechock-Autor mit lobender Erwähnung, Elena Meilicke, Cargo-Autorin mit der besten Filmkritik, Frédéric Jaeger, VdFk, Dr. Kötz, FFDF, Petra Müller, Filmstiftung NRW – Foto: Siegfried Kracauer Preis |
Unser Filmkritiker Federico Sanchez, den viele in München besser unter seinem Künstlernamen Pico Be kennen, ist einer der ganz neuen Autoren von artechock. Jetzt hat der leidenschaftliche Cineast, der in seinem Hauptberuf Musiker ist, aus dem Stand die etablierte Filmkritik-Szene gehörig aufgemischt: Sein bei artechock veröffentlicher Text »Beyoncé im Monstertruck« über Raoul Pecks I Am Not Your Negro wurde bei der Verleihung des Siegfried Kracauer Preis am vergangenen Samstag mit einer lobenden Erwähnung ausgezeichnet und fand damit besondere Beachtung unter 80 Einreichungen. Die Jury (bestehend u.a. aus Cargo-Kollege Ekkehard Knörer, der 2016 den Preis erhielt) lobte und erwähnte in ihrer Begründung, die Kritik sei »schnell im Kopf und kontextualisiert den Film originell und kenntnisreich«. Originell und kenntnisreich, genau so haben wir Federico Sanchez aka Pico Be kennengelernt, bei dem es bereits in der Familie bei gemeinsamen Filmsichtungen sehr cineastisch zugegangen sein soll.
Wir freuen uns sehr für Federico, der übrigens von der Einreichung, die die Redaktion für ihn vorgenommen hatte, nichts ahnte, und gratulieren ihm zu seinem außerordentlichen Erfolg! Und: Wir freuen uns auf seine Texte, die noch kommen werden!
Als Dankeschön an die Redaktion hat er uns einen etwas älteren, bis dato unveröffentlichten Text zu Moonlight vermacht, den er selbst viel stärker als die jetzt ausgezeichnete Kritik findet. Sie zeigt seine große Leidenschaft und seinen unverblümten Hang zur Poesie, wenn es gilt, über Film nachzudenken und in ihm und mit ihm zu leben.
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Ich sitze in einem Burgergrill in München und habe eine Wolke aus Moonlight über mir hängen.
Was ist das, mit diesem traurigen Film. Wieso lässt er meine Gedanken nicht ziehen. Erst konnte ich ihn kaum Ansehen, jetzt kann ich nicht Aufhören, über Moonlight nachzudenken. Gleich die Anfangssequenz war eine große Enttäuschung; ich mag es nicht, wenn die Kamera wie ein Hubschrauber um die
Protagonisten kreist. Ich mag nicht Auge Gottes als Luftnummer der Technik sein. Ich mag Filme, die mir nicht vor der Nase herumtänzelnd sagen, was für tolle Filme sie sind, sondern mich einfach dasitzen lassen. Wenn ich mag, schaue ich zu, wenn nicht, dann sitze ich weiter da, wie jetzt in diesem Burgergrill, der Teil einer Kette ist, die offensichtlich für Wiederaufforstung steht. Ich warte jedenfalls darauf, dass es aus der Wolke über mir gleich regnet.
Dabei mag ich durchaus,
wenn sich ein Film zu erkennen gibt. Die Illusion entzaubert wird. Wenn etwa in der Eröffnungssequenz von Godards Le mépris die Kamera gezeigt wird... und gleich eine neue Illusion mit erzeugt – musste diese Kamera schließlich von einer weiteren Kamera gefilmt werden. Aber was will mir eine Kreisbewegung rund um eine Gruppe von Schulkindern zeigen? Wie soll man mit so einer Bewegung in
einem Film landen können? Lieber wäre ich jetzt im Bistro bei den Italienern. Die mehr Diner-Spirit haben, als der Burger-Laden, in dem ich sitze. Die Strahlkraft der neuen Bürgerketten hingegen will sich wie ein alles überschattendes Mondlicht über meine Alltage stülpen, aber was ist das für eine Furcht? Ich hänge also erstmal in der Luft. Und denke... Moonlight... überall Moonlight. Das ist es! Gleich eingangs will der Film das loswerden, und sagt es mit der
Kreisbewegung: Auch wenn es taghell ist, Sonne satt, so ist unser Dasein in Mondlicht getaucht, vom Schulkindalter an. In weißes, grelles, aber eben nicht helles Licht.
Das Sonnenlicht war zunächst einer der Hauptgründe gewesen, warum die ursprünglich an der Ostküste angesiedelte US-Filmindustrie im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ins sonnige Kalifornien, nach Hollywood, umzog. Die ersten Filmstudios waren große Glashäuser gewesen, in denen noch mit Sonnenlicht die Filme hochgezogen wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg lösten starke elektrische Lampen die Sonne ab, und die Ateliers wurden finsterer gebaut – von da an war in Hollywood ewige Nacht. Mit oder ohne Mond. Die Weißen und ihre Lichter hatten schon lange vorher, Jahrhunderte vorher, Moonlight–über–alles ausgerufen. Und nachts, weil die Straßenlaternen ausgeschossen sind, ist hier in Liberty City, Miami, sowieso nichts als Moonlight. Übrigens gibt es auch in Florida ein Hollywood, ein vornehmlich weißes Hollywood. Liberty City ist schwarz. Wie alle, die an diesem Film mitgewirkt haben, vom Drehbuchautor über den Regisseur bis zu den Rollen, sämtlichen Rollen. Moonlight heisst der Film, und bannen will er es, das Moonlight, und endlich loswerden, über den Film hinaus, ein für allemal. Und immer noch gibt es in jeder Hood die Helikopter, die mit ihren Scheinwerferkegeln das Mondlicht orchestrieren.
In Moonlight black boys look blue – Schlüsselworte zu diesem unendlich traurigen Film. Der kleine Chiron hört sie aus dem Mund des Exilkubaners Juan, als dieser dem Jungen versucht Mut zu machen. Chiron ist ein Außenseiter, der so gut wie nie ein Wort sagt. Der nicht weiss, wie ihm geschieht. Als wäre sein Schicksal der Songtext von einem alten Lied, das Louis Armstrong sang: What did I do to be so black and blue? Blue. Traurig. Später, als Erwachsener, wird sich Chiron Black nennen. Wie, um sich gegen all das Mondlicht zu wehren. Black, nicht Blue, wie sie Juan auf Kuba nannten. Black, und raus bist du, in Unsichtbarkeit entschwunden. Namen sind in diesem Film wichtig. Komisch, dass die Rolling Stones vierzig Jahre nach ihrem nur halbwegs misslungenen Black and Blue Album ein gänzlich verzichtbares veröffentlichen, auf dem sie Black durch Lonesome ersetzen. Black and Blue, die Musik zu Teilen in Disco–Munich entstanden, die Bandfotos auf Sanibel Island, Florida, mag eine kokette weiße Travestie–Show gewesen sein, obschon furchtbar pampig; Auf Blue & Lonesome ist für Zweideutigkeiten kein Platz. Man soll den alten weißen Briten das Blacksein so richtig abnehmen. And I said: Raus aus meiner Wolke!
Namen und Verrat. Juan ist Johannes, der mit Chiron baden geht. Ich will nicht von einer Taufe sprechen, aber Juan ist der erste gute Mensch, den Chiron hat, und er wird von ihm enttäuscht werden, verraten, ebenso wie von Kevin, der ersten und einzigen Liebe, die Chiron hat. Ich ziehe die Bistros der Italiener, die mich vorbehaltlos Bello taufen, diesem Burgergrill hier vor. Meine Gespräche mit den Italienern sind standardisiert. »Ciao Bello, Americano?« »Ja, Americano.« »Schwarz?« »Schwarz.« Das mag ich. Ich adoptiere gern den Bello für mich. So, wie Chiron den Black, mit dem ihn Kevin immer frotzelt, für sich adoptiert. Die Nacht am Strand, da sich die beiden Jungen offenbahren und sich lieben, ewig im Gedächtnis. Viel Christliche Symbolik ist in diesem Film, aber die Symbole sind noch älter.
Das Christentum als Transfiguration altgriechischer Mythologie hängt sinnfällig über Chiron, der sich ungelenk wie ein junges Fohlen bewegt. Es ist ein Fliehen: Chiron ist auf der Flucht, Moonlight ist ihm immer auf den Fersen. Die Kamera gönnt keine Ablenkung, keine Zwischenszenen. Es gibt nur den einen Handlungsstrang, der dreimal einen Blick auf Chiron wirft, einer Verklärung gleich. Als Kind, als Teenager, als junger Mann. Chiron ist der lateinisierte Cheiron, Sohn des Kronos und der Philyra, Halbbruder des Zeus und einer der Kentauren – Mischwesen aus Pferd und Mensch. Cheiron gleicht körperlich diesen wilden Tiermenschen, die König Ixion schuf, als er betrunken die Göttin Hera belästigte, die sich in eine Wolke verwandelte, um ihre Ruhe zu haben, in welche Ixion aber unablässig buchstäblich bohrte, doch Cheiron selbst ist anderen Ursprungs: Um nicht von seiner Gattin Rhea entdeckt zu werden, soll Kronos ihn in der Gestalt eines Pferdes mit Philyra gezeugt haben. Seinem Wesen nach galt dieser Kentaur als weise und als der gerechteste unter den Kentauren. Ein Freund der Götter, der über Kenntnisse in der Arzneikunde verfügte. Philyra war jedoch so enttäuscht über ihre »Missgeburt«, dass sie Zeus bat, sich verwandeln zu können, was dieser ihr gewährte. So wurde sie zu einer Linde. Und der Burgergrill macht alles falsch und bestellt für sein Interieur statt einer Linde tausend Birken. Der deutsche Wald gegen die Lichter, die in Hollywood gesetzt werden... dafür tausche ich kein Pferd gegen ein Rind.
In Moonlight findet die High-School-Mobbing-Story keine Erlösung im American Dream, sondern endet in der Implosion des amerikanischsten aller möglichen Settings – dem Diner. Das Tischgespräch in einem Diner mit Fensterblick auf die Schnellstraße ist eines der wichtigsten Motive innerhalb der amerikanischen Kulturgeschichte. Man könnte so weit gehen, zu sagen, dass der Blick vom Diner auf die Straße die amerikanische Entsprechung für das Fenstermotiv der europäischen Romantik ist. Mit dem Unterschied, dass in der Romantik die Ferne ein Sehnsuchtsort bleibt, während in Amerika alles immer in Bewegung ist. So gesehen ist die Enge der Diner–Lokale und der Blick heraus auch ein Trick: Man hat den Eindruck, das Tischgespräch fände in einem Speisewagen statt. So bleibt der Film auch im Stillstand in Bewegung. Wenn Cheiron alias Black also am Ende in so einem Diner sitzt und nichts tut, sprachlos ob all der Enttäuschungen, allerspätestens dann wird klar, dass hier der Tisch dieses amerikanischen Topos für das schlechte Gewissen der Filmakademie gedeckt ist. Dafür waren die drei Oscars. Dafür, und für den Tausch: Schmerz statt Hass.
Auch ich erinnere mich an die Pein, schonmal sprachlos vor Erwartung gewesen zu sein. Voller Liebeswunsch und Verlangen nach Erlösung an einen Ort gereist zu sein, und dann maulfaul und ungelenk nichts als Enttäuschung und Mondlicht gespürt zu haben. Kevin kann den endlos tief sitzenden Schmerz von Black nicht auflösen. Aber er kann ihn in den Arm nehmen, seinen Kopf kraulen und ihm die Muskeln streicheln. Im Moonlight...
Der Burgergrill, in dem ich sitze, hat nichts von einem Diner: Keine roten Sitzbänke mit Fensterblick, kein Standard-Menu, kein Refill–Prinzip, kein Zahlen am Cash-Register. Und als ich die Rechnung für meine Süßkartoffeln bezahle, bekomme ich die Frage, warum ich eigentlich in so einen Laden gehe, mit dem Namen der Bedienung quittiert: Die heisst Sharon. Und aus der Wolke über mir bricht ein Taborlicht hindurch und richtet einen Spot auf die Nacht dort draußen. Sharon – Cheiron, bist du’s, oder ist der Kevinismus deine Mythologie?
Federico Sanchez aka Pico Be