Nach der Musik jetzt (fast) der Film |
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Das bessere Buch: Carey Mulligan, Keira Knightley und Andrew Garfield in Alles, was wir geben mussten |
Von Axel Timo Purr
Schon bei Bob Dylan schienen die Festen zu wanken, hinterließ die Entscheidung des Nobelpreis-Komitees, sich vom klassischen Buch zu entfernen, ein äußerst gespaltenes Echo. Die Entscheidung, den Nobelpreis für Literatur 2017 an den in Japan geborenen und mit fünf Jahren nach England übersiedelten Kazuo Ishiguro zu vergeben, scheint zumindest auf den ersten Blick die feindlichen Lager wieder zu einen, auch wenn mitunter von einer eher konservativen, weil apolitischen Entscheidung geschrieben wird; hätte es nicht Amos Oz allein schon wegen seiner großartigen, zutiefst politischen »Geschichte von Liebe und Finsternis« oder der ewige Verlierer Ngugi wa Thiong’o weitaus mehr verdient gehabt?
Aber egal. Konservativ kann man die Wahl für Ishiguro – wenn überhaupt – nur auf der politischen Ebene interpretieren, denn im Grunde setzt das Nobelpreiskomitee für Literatur den Weg fort, den es mit der Wahl für Dylan begonnen hat, passt es sich den wandelnden Zeiten an. Die wenigsten haben Dylans Texte nur gelesen, sondern gehört und ganz ähnlich verhält es sich mit Ishiguro. Trotz seiner tatsächlich faszinierend komponierten und wunderschön geschriebenen Romane dürften die wenigsten seine beiden bekanntesten Werke »Was vom Tage übrig blieb« und »Alles, was wir geben mussten« gelesen haben, sie haben sie gesehen.
Ishiguro hat in Interviews selbst von seiner Affinität zum Film gesprochen, hat Drehbücher geschrieben, u. a. mit seinem Schriftstellerkollegen Alex Garland auch jenes für Alles, was wir geben mussten (2010), für den er auch als ausführender Produzent tätig war. Und es ist ein Film, der dem Buch in nichts nachsteht, in dem der Film über das großartige schauspielerische Trio Carey Mulligan, Keira Knightley und Andrew Garfield vielleicht sogar noch mehr erreicht hat, als der Roman es auf der literarischen Ebene vermocht hat: denn diese ungewöhnliche Alternativ- und Replikantengeschichte geht völlig neue Wege und befreit sich auf fast schon lyrische Art und Weise aus dem gängigen assoziativen Kanon von Dystopien wie Blade Runner und Children of Men.
Auch die erste große Verfilmung eines Romans von Ishiguro, James Ivorys Was vom Tage übrig blieb (1993), läßt den Roman schnell vergessen, ist schlichtweg das bessere Buch. Denn Ishiguros subtiler politischer Kommentar zum Untergang nicht nur eines Lebensgefühls, sondern einer ganzen Gesellschaftsform, ließ Ivory nach seinen überaus erfolgreichen E.M. Forster-Verfilmungen Zimmer mit Aussicht und Wiedersehen in Howards End noch ein letztes Mal zu Höchstform auflaufen. Hier stimmte wie Jahre später in Alles, was wir geben mussten, eigentlich alles: das überragende Drehbuch von Ruth Prawer Jhabvala, die Regie von Ivory und die schauspielerischen Leistungen von Anthony Hopkins und Emma Thompson.
Es werden sich wie üblich nach einer derartigen Auszeichnung, ein paar mehr Bücher Ishiguros verkaufen, aber angesichts der stark rückläufigen Zahlen im Buchsegment, werden es weniger sein als noch vor zehn Jahren anlässlich der Preisvergabe an Doris Lessing. Das eigentliche Glück liegt deshalb woanders, wird es nun wahrscheinlich viel schneller gehen, bis endlich auch die anderen großen Romane Ishiguros – sei es sein erster »Damals in Nagasaki« oder sein letzter »Der begrabene Riese« – filmisch adaptiert werden. Aber damit nicht genug. Das Nobelpreiskomitee für Literatur deutet mit diesem Preis noch etwas ganz anderes an: dass es bereit ist, nicht nur Literatur in der Musik, sondern auch Literatur im Film zu honorieren, dass also auch der Tag im Oktober kommen wird, an dem einer der großen Filmregisseure den Nobelpreis für Literatur erhalten wird.