Geschichte »ist«, nicht »war« |
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Nicht nur eine Erzählung über Leben und Überleben... |
Von Axel Timo Purr
»Ich hab euch einen Engel geschlachtet.«
– Friedrich Schiller, Die Räuber»The abyss is full
of reality, the abyss experiences itself, the
abyss
is alive«
– Denis Johnson, Tree of Smoke
Es ist wahrscheinlich nicht nur der medial am besten aufbereitete Krieg des 20. Jahrhunderts, sondern auch der hochdekorierteste, mit Meisterwerken aus allen Filmgattungen, von der Literatur ganz zu schweigen. So zahlreich sind allein schon die Meilensteine dieses Genres, dass es beim Abspulen der eigenen Erinnerungen schwerfällt zu unterscheiden, was dokumentarisch ist und was aus Spielfilmen stammt, aus Filmen wie In the Year of the Pig (1968), Winter Soldier (1972), Hearts And Minds (1974), The Deer Hunter (1978), Apocalypse Now (1979), Full Metal Jacket (1987). Wir waren Helden (2002) The Fog of War (2003), Last Days in Vietnam (2014), das also aus diesem Konglomerat an Filmen im Laufe der Zeit ein ganz eigener Film entstanden ist, ein Film, der kaum mehr zu dekodieren und gerade durch die vielen persönlichen Geschichten fast so etwas wie zu eigener Erinnerung eingebrannt ist.
Eine weitere filmische Auseinandersetzung scheint da im ersten Augenblick nicht nur völlig obsolet, sondern in einer Generation von »Vietnamspezialisten« fast ärgerlich. Doch schon die erste Folge von Ken Burns und Lynn Novicks Serien-Saurier belehrt eines Besseren: wann hat man je in diesem Detailreichtum auch über die Anfänge des Vietnamkonflikts, die französische Herrschaft über das Land, erzählt bekommen?
Aber nicht nur dieser tief in die Historie greifende Anfang überrascht. Denn schon schnell wird klar, dass Burns, einer der profiliertesten Dokumentarfilmer Amerikas und in einer Umfrage nach seinem Einfluss auf den Dokumentarfilm bereits mit Robert J. Flaherty (Nanuk der Eskimo, 1922) verglichen, auch in Vietnam auf ein inzwischen bewährtes Arsenal an Werkzeugen zurückgreift, die seine Dokumentationen wie Brooklyn Bridge (1981), The Civil War (1990) oder Unforgivable Blackness (2004) fast so etwas wie zu einem Kanon amerikanischer Geschichte werden ließen.
Auch Vietnam wird deshalb bei nicht verfügbaren Filmaufnahmen durch die als Ken Burns-Effekt bekannt gewordene Technik, mittels langsamer Panning- und Zoom-Effekte sowie Überblendungen aus Standbildern ein Video bzw. eine Diashow zu machen, zum Leben erweckt. Und auch in Vietnam arbeitet Burns ausgiebig mit Musik. Da Vietnam auch ein Krieg der 68er-Generation war, ist dieses Material an Fülle kaum zu überbieten, doch Burns lässt es wie in seinen anderen Filmen nicht beim bloßen Soundtrack, sondern verknüpft die Inhalte der Songs immer wieder akribisch mit der erzählten Geschichte, die auch hier, wenn nicht von Interviewpartnern, die zurückblicken, dann von einem Erzähler wiedergegeben wird – in der OF-Fassung erzählt Peter Coyote, für den deutschsprachigen Raum Joachim Król.
Und was in diesem Serien-Monument erzählt wird, ist dann tatsächlich so überbordend, mitreissend, berührend, schockierend und überraschend, dass nach einem Binge-Watching der deutschen Version eigentlich nur eine Frage offenbleibt: warum nur zeigt ARTE eine derartig stark beschnittene Version des Originals?
Denn anders als viele der bislang entstandenen Filme zu dieser Thematik haben Burns und Novick sich die Mühe gemacht, wirklich fast alle nur erdenklichen Seiten dieses Konfliktes zu beleuchten, die Vorgeschichte wie die Nachgeschichte, die Hauptgeschichte wie auch die vielen, kleinen, aber dennoch wesentlichen Nebengeschichten. Die große Politik ist genauso Thema wie der ganz normale Alltag. Es werden erschütternd demaskierende, auf Tonband fixierte Dialoge zwischen Außenminster McNamara und Präsident Johnson genauso präsentiert wie die Selbstzweifel eines jungen Amerikaners, der dem Gruppendruck seines Umfelds trotz massiver Zweifel nachgibt und nach Vietnam geht und für den der Krieg dann weniger schlimm gewesen ist als die 40 Jahre danach, die er sich für seine Schwäche geschämt hat.
Und auch was in den letzten Jahren nahezu in Vergessenheit geraten ist, wie stark die 68er-Bewegung auch eine Bewegung gegen Vietnam war, wird von Burns und Nowick erzählt, ohne dabei auch die soziopolitischen Entwicklungen auf Vietnams Seite zu vergessen. Vietnam hält sich dabei schon fast politisch überkorrekt an einen Zeitplan, der sowohl der amerikanischen als auch der vietnamesischen Seite gleichermaßen »Mitsprache« einräumt. Politiker aus beiden Ländern kommen – in historischem wie aktuellem Material – genauso zu Wort wie Soldaten, Familenangehörige und die Zivilbevölkerung Vietnams und Amerikas. Durch den dynamischen Wechsel von historischem und Gegenwartsmaterial, das die jeweils Beteiligten erst als meist junge, kämpfende, dann als alte, reflektierende Menschen zeigt, gelingt Burns und Novick nicht nur eine Erzählung über Leben und Überleben, sondern erhärtet Burns einmal mehr sein Geschichtsbild, dem er sich verpflichtet fühlt: »The big mistake is that history is back down and the past is gone. History is right now, history is is, not was.«
Vermeiden lässt sich jedoch auch durch diesen fast universalen Ansatz nicht, dass die erzählten Geschichten der Amerikaner am Ende dann doch die Geschichten sind, die uns in westlicher Kultur Sozialisierte wohl stärker berühren, die in ihrem tragischen Ausmaß uns nicht nur deshalb näher stehen, weil wir durch unser intuitiv identifikatorisches Sehen in jedem Amerikaner auch uns selber sehen, und der amerikanische Abgrund Vietnams nicht der erste Abgrund unseres Kulturraums gewesen ist, nein, vor allem ist es wohl das nicht enden wollende Paradoxon des westlichen Menschen, dieser trotz hehrer Ideale und moralischer Postulate immer wiederkehrende, gnadenlose Verlust von Unschuld, der uns keine Ruhe lässt.
Vietnam (The Vietnam War, 2017) von Ken Burns und Lynn Novick lässt sich mit einem Fix der Länderkennung des Browsers die OF-Version, und damit alle 10 Folgen in einer Gesamtlänge von 17 Stunden bei PBS streamen. Netflix bietet ebenfalls die Originalfassung in voller Länge zum Stream an, optional mit deutscher Untertitelung.