Ning Ying, Filmemacherin der chinesischen »6. Generation« |
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I Love Beijing erzählt vom Zerbröckeln des modernen Lebens | ||
(Foto: Neues Asiatisches Kino) |
In den 90er Jahren entstand in Reaktion auf die radikale Modernisierung Pekings eine Trilogie der chinesischen Regisseurin Ning Ying, bestehend aus den Filmen For Fun (1993), On the Beat (1995) und I Love Beijing (2001). Die Peking-Trilogie ist ein außergewöhnliches Dokument über einen sozioökonomischen Übergang, der sich über drei Generationen erstreckt: Vom Fußgänger zur Polizei auf dem Fahrrad bis hin zum Taxifahrer. Vom italienischen Neorealismus und der französischen Nouvelle Vague beeinflusst, entschied sich Ning Ying dafür, Dokumentarfilm und Fiktion zu mischen, was als formales Element alle drei Filme verbindet. Dennoch verlagern sich die Perspektive und die Filmsprache der Regisseurin — als wären die Filme selbst genauso Teil der Transformation, von der sie erzählen. Die 1959 geborene Ning Ying studierte u.a. mit Zhang Yimou und Chen Kaige an der Filmakademie in Peking.
Noch während ihres Studiums ging sie nach Europa und arbeitete als Regieassistentin für Bernardo Bertoluccis China-Epos Der letzte Kaiser. Zurück in China begann Ning Ying, ihre eigenen Filme zu drehen, und ist dort inzwischen eine auch kommerziell erfolgreiche Regisseurin.
Der erste Film der Trilogie eröffnet mit einer Kamerafahrt durch die Straßen von Peking, die von einem Lied aus der Dreigroschenoper begleitetist − ein humorvoller Hinweis auf die grenzüberschreitende Perspektive der Regisseurin auf das neue China: Ein alter Mann wird gezwungen, sich von seiner lebenslangen Arbeit als Hausmeister des örtlichen Pekingopernhauses zurückzuziehen. Er hat auf einmal viel Zeit und wandert auf der Suche nach neuen Beschäftigungen durch die Stadt. Doch diese ist ihm in all den Jahren seines Lebens im Theater fremd geworden. In einem Park trifft er auf eine Gruppe älterer, streitsüchtiger Amateursänger und beginnt, die Männer zu einer eigenen Truppe zu organisieren – wohlgemerkt mit sich selbst als Chef. In ihrem einfachen, realistischen Stil mit einem präzisen und doch liebevollen Blick zeichnet Ning Ying ihre Figuren und deren komplexe Bedürfnisse.
»Ich interessiere mich für diese Momente der Gegenwart, die dabei sind zu verschwinden. Sie sind dabei, sogar aus unserer Erinnerung zu verschwinden. Lebensweisen, die es seit Tausenden von Jahren gibt, sind in wenigen Jahren durch eine von Massenmedien und Konsum geprägte Kultur ausgegrenzt und ausgelöscht worden.« (Ning Ying)
Mit dem Fahrrad durchqueren ein Polizist und sein junger Kollege ein Stadtviertel aus Altstadt- gassen und den daran angrenzenden, imposanten Wolkenkratzern. Sie setzen die Ordnung um, die ihnen anvertraut wurde. Das moderne städtische Leben präsentiert sich als eine bloßgestellte Reihe von Verhandlungen zwischen Menschen, die versuchen, sich ihre eigenen Schicksale an-zueignen, und einer Staatsmaschine, die in die intimsten Angelegenheiten des Alltags eingreift. Ning Ying schafft es, den Effekt der Ideologie auf den einzelnen Bürger sanft einzufangen − von jungen Polizisten, die durch die Stadtviertel patrouillieren, über alte Frauen, die die Fort pflanzung ihrer Nachbarn überwachen, bis zu Eltern, die versuchen, ihre Kinder zu passenden »Mitgliedern der Gesellschaft zu formen.«
Ning Ying arbeitet hier ausschließlich mit Laiendarstellern. Das Fehlen von Musik und dra matischen Effekten gibt schnellen Einstellungen, Gesten und Wortwechseln eine besondere, spontane Kraft. Dieser Realismus des Alltäglichen im quasidokumentarischen Stil ist eine starke künstlerische Wahl in einem Land wie China und betrifft ebenso die Tonarbeit:
»Ich glaube, dies ist einer der ersten chinesischen Filme, dessen Ton direkt mit dem Bild aufgenommen wurde. Das war mir damals ein sehr wichtiges Anliegen. Es war aber auch deshalb sinnvoll, da ich die Laiendarsteller nach dem Dreh schlecht bitten konnte, noch einmal alles genauso zu wiederholen. Der Großteil der chinesischen Filmproduktionen wurde damals nachvertont.« (Ning Ying)
Man fragt sich, wie dieser Film ins Ausland gelangt ist. Angesiedelt zwischen Rossellini und Tati, ist dieser preisgekrönte zweite Film der Peking-Trilogie eine erfrischende, subtil subversive Darstellung Pekings Mitte der 90er Jahre
Dezi ist ein junger Taxifahrer aus Peking. Seinem Taxi zu folgen gleicht einer Stadtrund fahrt durch Peking. Die wechselnden Passagiere in seinem Wagen bilden einen Mikrokosmos der urbanen Szene – mitunter übersteigt das auch Dezis Verständnis. Seine Kapazität für Frauen hat jedoch keine Grenzen. Er wagt sich durch eine sommerlange Serie von kurzen Be ziehungen mit Frauen aus allen Gesellschaftsschichten: einer provinziellen Kellnerin, einer beliebten Radio-Moderatorin, einer Lehrerin und einem Bauernmädchen vom Land. Auf dem Weg wird er betrogen, verwirrt, benutzt und sogar ein wenig geliebt.
Die Kamera wandert von einem Ort zum anderen, von einer Frau zur anderen, von einer Idee zur nächsten, ganz den Fantasien des Fahrers folgend. Es ist das Zerbröckeln des modernen Lebens, das so dargestellt und illustriert wird, seine Inkohärenz, seine Unordnung, seine Sinnlosigkeit. Die Musik selbst, in westlichen Klängen, akzentuiert den Eindruck des Verlusts kultureller Referenzen in einer Stadt, in der Baustellen und Kräne die Hauptmerkmale der urbanen Landschaft geworden sind.
Neues Asiatisches Kino: Ning Ying – die Peking-Trilogie 11.-17. Januar 2018, Werkstattkino München Eintritt: 6 € Das Programm wird von der Filmemacherin Johanna Pauline Maier kuratiert. Die Absolventin der HFF München studierte von 1999 bis 2001 an der Filmakademie in Peking und drehte in dieser Zeit Videomaterial über die Transformierung der Stadt, das sie nun mit 15 Jahren Abstand wieder aufgegriffen hat. Der daraus entstandene Film Fragmente einer Reise nach China (AT) wird im Rahmen der Reihe ebenfalls gezeigt. Johanna Pauline Maier ist bei den Vorführungen anwesend und wird Fragen zu den Filmen beantworten.