Ausgespult |
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Geschenkt ist noch zu teuer... | ||
(Foto: Michael Haberlander) |
In meinem Blog-Eintrag Screw it (if you can) habe ich bereits erwähnt, dass mein Fernseher kaputtgegangen ist. Dieses Ereignis hat Folgen, die über die dort beschriebene Verwunderung über ein kleines Schräubchen weit hinausgehen.
Mein nun defekter Fernseher war (für den Bereich der Unterhaltungsindustrie) alt, so um die 17 Jahre, damals als No- bzw. Fake-Name Produkt günstig gekauft, trotz kleiner Macken hat er treu seinen Dienst geleistet, jetzt ist er bleischwerer (weil noch kein Flachbild- sondern Röhrenfernseher) Elektroschrott. Beim Anschließen seines neuen Nachfolgers stellte ich zwei Dinge fest.
1. Dass ich nun ungefähr zehnmal so viele Programme empfange (alter Fernseher = alter
Receiver).
2. Dass die Wiedergabe meines VHS-Recorders eine grauselige bzw. krisselige (ich habe nachgeschaut, das Wort schreibt man tatsächlich so und nicht grieselig) Bildqualität hat.
Wer bei den Ausführungen über meinen alten, unzeitgemäßen Fernseher schon den Kopf geschüttelt hat, wird bei der Nennung eines VHS-Recorders total die Fassung verlieren. Lassen Sie Ihrem Entsetzen und Unglauben ruhig freien Lauf, macht mir gar nichts, das kenne ich schon; ja, das System ist
veraltet, es war schon zu seiner Hochzeit unpraktisch, die Qualität ist im Vergleich zu den digitalen Medien jämmerlich, die digitalen Medien haben soooo viel mehr Möglichkeiten, usw. usf. Das habe ich alles schon (mehr als einmal) gehört, das meiste davon stimmt auch, ich gehöre auch nicht zu den Fanatikern, die mit Argumenten wie dem »wärmeren Bild und Ton von Magnetbändern gegenüber kalter, digitaler Speicherung« dagegenhalten, mein aktueller Recorder ist ein Kombi-Gerät, mit dem
ich auch auf DVD aufnehme, ist für mich voll OK. Mein Festhalten an VHS hat weniger nostalgisch-emotionell-mystische als vielmehr praktische Gründe, denn ich habe rund 1.800 Filme auf VHS (die wenigsten davon sind Kaufkassetten, die meisten sind also vom Fernseher aufgenommen).
Schon vor Jahren wurde mir geraten, es zu tun wie (fast) alle anderen, VHS aufgeben, komplett auf DVD umsteigen, den Video-Bestand entweder auf DVD überspielen oder (noch besser, wegen dem tollen Bonusmaterial!) regulär neu kaufen. Diese Aktion hätte mich viele Zeit und / oder viel Geld gekostet, Sinn sah ich darin keinen. Meine Schallplatten und Audio-Kassetten habe ich auch nicht gegen CDs ersetzt, meine CDs wiederum habe ich nicht gegen iTunes oder andere virtuelle Medien ersetzt, alle drei Ton-Medien nutze ich noch heute, mindestens zwei davon sind jetzt wieder populär bzw. „kult“.
Gerade die Geschichte und Entwicklung der genannten Ton-Medien ließ mich zu der Einsicht gelangen, dass auch VHS weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwinden, in einer kleinen Nische aber überleben und früher oder später fröhliche Urständ feiern würde. Irgendwer würde (wie im Audio-Bereich) immer einen VHS-Recorder bzw. -Player bauen, solange sich meine Kassetten nicht entmagnetisierten (was mir schon lange vorhergesagt wurde aber nie eintrat), könnte ich meine VHS-Film-Bibliothek weiter nutzen, der qualitative Unterschieden zu DVD und Co. stört mich nicht wirklich, ein Leben und Sehen unterhalb der 2K-Grenze ist (für mich) möglich.
Mit dieser beruhigenden Annahme habe ich die letzten Jahre gelebt. Jetzt ging mein Fernseher kaputt und das Verhältnis zwischen altem VHS-Recorder und neuem Fernseher ist „gestört“. Der Hersteller gibt in seiner Betriebsanleitung zwar an, dass der neue Fernseher mit dem PAL-Signal meines VHS-Recorders kompatibel ist, ergänzt aber vorsorglich: »In einigen Fällen kann unter Umständen ein Signal nicht richtig auf dem TV angezeigt werden.« Ich habe hier wohl doppelt Pech, da
ich zu den einigen Fällen zähle, die unter Umständen Inkompatibilitätsprobleme haben (können).
Ich bin Realist, ich mache mir nichts vor, mir ist schon klar, dass ein Fernsehhersteller im Jahr 2018 nur bedingt Rücksicht auf die Betreiber von VHS-Recordern nimmt, im Computerbereich ist die Inkompatibilitäts–Obsoleszenz (man beachte das Bild im deutschen Wikipedia-Eintrag zur Obsoleszenz!) noch viel extremer. Kaufe ich mir halt einen neuen VHS-Recorder, der sich
für die nächsten zwanzig Jahre wieder mit meinem Fernseher verträgt. So mein einfacher Plan, der gar nicht aufging.
Im ganzen Internet fand ich keinen neuen VHS-Recorder mehr, kurze Recherche führte mich zu den diversen Meldungen aus dem Jahr 2016, in denen die Einstellung der letzten VHS-Recorderproduktion und damit das offizielle Ende von VHS verkündet wurde. Meine Einschätzung, dass die VHS-Technik als Nischen- bzw. Spezialistenprodukt wie Plattenspieler überleben würde, erwies sich als falsch. Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass gerade in den vergangenen Jahren Dokus wie Rewind this!, Adjust Your Tracking, Das VHS-Imperium und der Spielfilm Be Kind Rewind den Kult um VHS genährt haben. Doch offensichtlich waren das alles Abgesänge und keine Vorzeichen einer vitalen Subkultur.
Meine Situation ist nun folgende. Noch funktioniert mein Videorecorder, als Kombi-Gerät kann ich jederzeit auf DVD überspielen, mit sog. Video-Grabbern könnte ich problemlos die Filme auch auf den PC digitalisieren.
Soll ich jetzt hektisch beginnen, die Filme digital zu konservieren? Wie lange braucht man, um 1.800 Filme zu digitalisieren? Also nur eine Auswahl treffen, nur die liebsten 100 oder 200 oder 500? Lohnt es überhaupt, auch nur einen Film von mittelmäßiger
VHS-Qualität zu digitalisieren, wenn nahezu jedes Werk als DVD (oft für günstiges Geld) zu kaufen oder kostenlos auf youtube verfügbar ist?
Ohne Digitalisierung kann ich wegen der Inkompatibilität mit dem Fernseher aktuell keinen VHS-Film vernünftig anschauen. Also einen anderen, eventuell alten Fernseher kaufen? Damit zwei Wochen später der VHS-Recorder den Geist aufgibt? In dem Fall einen gebrauchten VHS-Recorder kaufen? Solchen Irrsinn vermeiden und besser gleich die ganzen
Kassetten in die Tonne schmeißen? Oder doch warten, bis sich der Video-Kult durchsetzt und irgendeine Firma dem VHS-Recorder ein Revival verschafft? Darauf hoffen, dass ein solches neues Gerät mit meinem Fernseher kompatibel ist?
Vielen mögen solche Überlegungen abwegig, verrückt erscheinen, für sie war und ist das Festhalten an VHS keine Option, die Vorteile der neuen Techniken sind erdrückend. Wenn es nur um den reinen Filmkonsum ginge, könnte ich dem schon zustimmen, doch mein VHS-Bestand ist mehr als nur eine sterile Sammlung von Filmen. Wie in meinem Blog-Eintrag Analog-Archäologie dargelegt, ist ein Video-Bestand wie dieser (der überwiegend aus selber aufgezeichneten Kassetten besteht) ein faszinierender Blick in die Vergangenheit, eine visuelle Mischung aus Tagebuch, Dachboden und multipler Kulturgeschichte (des Fernsehens, der Werbung, meiner wie der allgemeinen kulturellen Entwicklung).
„Das kann man anders auch haben“, mag da mancher sagen. Wozu einen halben Kubikmeter Videokassetten lagern, wenn die Vergangenheit jederzeit (vor allem im Internet aber auch durch unzählige (Special-Interest) Veröffentlichungen) verfügbar ist? Stimmt schon, Fernsehwerbung aus den frühen 1990er Jahren finde ich sicher auf youtube und die unterschiedlichen Logos von Pro 7 oder alle Sprecher der Tagesthemen hat sicher irgendwer in einem Buch oder Blog gesammelt. Was
aber nur auf meinen Videokassetten erhalten ist, ist die einzigartige Kombination und ist vor allem mein persönlicher Bezug dazu. So erzählt jeder Film eben auch eine Geschichte davon, wann ich ihn aufgenommen habe, ob die Aufnahme „geglückt“ war (ganz ärgerlich etwa abgeschnittene Film-Enden wegen falscher Programmierung), wann ich sie wie oft gesehen habe. Mit dem Untergang meiner VHS-Sammlung werden all diese Momente verloren sein in der Zeit, wie Tränen im Regen.
Zeit auszuschalten.
Noch bin ich zu keinem finalen Entschluss gekommen, wie ich mit meinem Videoschatz weiter verfahre, aktuell spiele ich ein wenig auf Zeit in der leisen Hoffnung darauf, dass mich irgendwelche „Umstände“ in die ein oder andere Richtung drängen. Wie sagt man in solchen Situationen gerne: Man wird sehen.
Wenn Ihnen die VHS-Kultur fremd (geworden) ist, empfehle ich die oben genannten Filme plus zusätzlich Amazonen auf dem Mond (wunderbar die Episode mit Russ Meyer) oder themenbezogenes Surfen im Internet, da können Sie viel über die Wichtigkeit, die Eigenheiten und den Charme dieses Mediums erfahren.
Immer wieder beliebt sind
Musikvideos im VHS-Style, etwa die auf dazeddigital.com unter dem Titel The greatest music videos shot on VHS genannten, wobei die Überschrift natürlich lügt, es gibt noch viele weitere, zum Teil noch greatere, etwa die Foo Fighters mit White
Limo (mit special acting guest!) oder das liebevoll gestaltete John Holmes VHS Nightclub von Perturbator, das auf einen der wichtigsten Wirkungskreise von VHS verweist.
Ich selbst könnte auch ein paar lustige Schwänke zur VHS-Geschichte erzählen, etwa von fanatischen Sammlern und ihrem sonderbaren Kauf- und Jagdverhalten, von einem legendären Laden in München, in dem man die „schwer zu bekommenden“ Videos kaufte oder (aus dritter Hand) die Geschichte von Hr. B., dem einst ein umgestürzter Stapel Videokassetten tagelang den Zugang zum Bad versperrte. Welche Geschichten werden dagegen die Leute nach 20 Jahren Netflix-Konsum erzählen können?
Wie schon erwähnt, möchte ich mein Verhältnis zu VHS nicht emotionell überstilisieren, im Gegensatz zu echten VHS-Freaks (wie in den oben genannten Dokus zu besichtigen) bin ich sehr sachlich damit umgegangen. Klar ist aber auch, dass der Videorecorder für mich (und viele andere wohl auch) ein sehr wichtiges „Medienwerkzeug“ war, wofür ihm ewiger Dank gebührt.
Philosophisch hat mir VHS übrigens auch was gebracht. Die jahrelange Nutzung dieser Technologie hat
mir bei der Einübung einer kritisch-gelassenen Haltung gegenüber dem Wahn der Perfektion geholfen.