15.02.2018

Ausge­spult

Geschenkt ist noch zu teuer...
Geschenkt ist noch zu teuer...
(Foto: Michael Haberlander)

Auch altgediente Medienwerkzeuge leben nicht ewig. Aber was tun, wenn nach dem Röhrenfernseher auch gleich noch der VHS-Recorder seinen Geist aufgibt?

Von Michael Haberlander

In meinem Blog-Eintrag Screw it (if you can) habe ich bereits erwähnt, dass mein Fernseher kaputt­ge­gangen ist. Dieses Ereignis hat Folgen, die über die dort beschrie­bene Verwun­de­rung über ein kleines Schräub­chen weit hinaus­gehen.

Mein nun defekter Fernseher war (für den Bereich der Unter­hal­tungs­in­dus­trie) alt, so um die 17 Jahre, damals als No- bzw. Fake-Name Produkt günstig gekauft, trotz kleiner Macken hat er treu seinen Dienst geleistet, jetzt ist er blei­schwerer (weil noch kein Flachbild- sondern Röhren­fern­seher) Elek­tro­schrott. Beim Anschließen seines neuen Nach­fol­gers stellte ich zwei Dinge fest.
1. Dass ich nun ungefähr zehnmal so viele Programme empfange (alter Fernseher = alter Receiver).
2. Dass die Wieder­gabe meines VHS-Recorders eine grau­se­lige bzw. kris­se­lige (ich habe nach­ge­schaut, das Wort schreibt man tatsäch­lich so und nicht grieselig) Bild­qua­lität hat.
Wer bei den Ausfüh­rungen über meinen alten, unzeit­ge­mäßen Fernseher schon den Kopf geschüt­telt hat, wird bei der Nennung eines VHS-Recorders total die Fassung verlieren. Lassen Sie Ihrem Entsetzen und Unglauben ruhig freien Lauf, macht mir gar nichts, das kenne ich schon; ja, das System ist veraltet, es war schon zu seiner Hochzeit unprak­tisch, die Qualität ist im Vergleich zu den digitalen Medien jämmer­lich, die digitalen Medien haben soooo viel mehr Möglich­keiten, usw. usf. Das habe ich alles schon (mehr als einmal) gehört, das meiste davon stimmt auch, ich gehöre auch nicht zu den Fana­ti­kern, die mit Argu­menten wie dem »wärmeren Bild und Ton von Magnet­bän­dern gegenüber kalter, digitaler Spei­che­rung« dage­gen­halten, mein aktueller Recorder ist ein Kombi-Gerät, mit dem ich auch auf DVD aufnehme, ist für mich voll OK. Mein Fest­halten an VHS hat weniger nost­al­gisch-emotio­nell-mystische als vielmehr prak­ti­sche Gründe, denn ich habe rund 1.800 Filme auf VHS (die wenigsten davon sind Kauf­kas­setten, die meisten sind also vom Fernseher aufge­nommen).

Schon vor Jahren wurde mir geraten, es zu tun wie (fast) alle anderen, VHS aufgeben, komplett auf DVD umsteigen, den Video-Bestand entweder auf DVD über­spielen oder (noch besser, wegen dem tollen Bonus­ma­te­rial!) regulär neu kaufen. Diese Aktion hätte mich viele Zeit und / oder viel Geld gekostet, Sinn sah ich darin keinen. Meine Schall­platten und Audio-Kassetten habe ich auch nicht gegen CDs ersetzt, meine CDs wiederum habe ich nicht gegen iTunes oder andere virtuelle Medien ersetzt, alle drei Ton-Medien nutze ich noch heute, mindes­tens zwei davon sind jetzt wieder populär bzw. „kult“.

Gerade die Geschichte und Entwick­lung der genannten Ton-Medien ließ mich zu der Einsicht gelangen, dass auch VHS weit­ge­hend aus der Öffent­lich­keit verschwinden, in einer kleinen Nische aber überleben und früher oder später fröhliche Urständ feiern würde. Irgendwer würde (wie im Audio-Bereich) immer einen VHS-Recorder bzw. -Player bauen, solange sich meine Kassetten nicht entma­gne­ti­sierten (was mir schon lange vorher­ge­sagt wurde aber nie eintrat), könnte ich meine VHS-Film-Biblio­thek weiter nutzen, der quali­ta­tive Unter­schieden zu DVD und Co. stört mich nicht wirklich, ein Leben und Sehen unterhalb der 2K-Grenze ist (für mich) möglich.

Mit dieser beru­hi­genden Annahme habe ich die letzten Jahre gelebt. Jetzt ging mein Fernseher kaputt und das Verhältnis zwischen altem VHS-Recorder und neuem Fernseher ist „gestört“. Der Hersteller gibt in seiner Betriebs­an­lei­tung zwar an, dass der neue Fernseher mit dem PAL-Signal meines VHS-Recorders kompa­tibel ist, ergänzt aber vorsorg­lich: »In einigen Fällen kann unter Umständen ein Signal nicht richtig auf dem TV angezeigt werden.« Ich habe hier wohl doppelt Pech, da ich zu den einigen Fällen zähle, die unter Umständen Inkom­pa­ti­bi­li­täts­pro­bleme haben (können).
Ich bin Realist, ich mache mir nichts vor, mir ist schon klar, dass ein Fern­seh­her­steller im Jahr 2018 nur bedingt Rücksicht auf die Betreiber von VHS-Recordern nimmt, im Compu­ter­be­reich ist die Inkom­pa­ti­bi­li­täts–Obso­le­s­zenz (man beachte das Bild im deutschen Wikipedia-Eintrag zur Obso­le­s­zenz!) noch viel extremer. Kaufe ich mir halt einen neuen VHS-Recorder, der sich für die nächsten zwanzig Jahre wieder mit meinem Fernseher verträgt. So mein einfacher Plan, der gar nicht aufging.

Im ganzen Internet fand ich keinen neuen VHS-Recorder mehr, kurze Recherche führte mich zu den diversen Meldungen aus dem Jahr 2016, in denen die Einstel­lung der letzten VHS-Recor­der­pro­duk­tion und damit das offi­zi­elle Ende von VHS verkündet wurde. Meine Einschät­zung, dass die VHS-Technik als Nischen- bzw. Spezia­lis­ten­pro­dukt wie Plat­ten­spieler überleben würde, erwies sich als falsch. Zu meiner Entschul­di­gung muss ich sagen, dass gerade in den vergan­genen Jahren Dokus wie Rewind this!, Adjust Your Tracking, Das VHS-Imperium und der Spielfilm Be Kind Rewind den Kult um VHS genährt haben. Doch offen­sicht­lich waren das alles Abgesänge und keine Vorzei­chen einer vitalen Subkultur.

Meine Situation ist nun folgende. Noch funk­tio­niert mein Video­re­corder, als Kombi-Gerät kann ich jederzeit auf DVD über­spielen, mit sog. Video-Grabbern könnte ich problemlos die Filme auch auf den PC digi­ta­li­sieren.
Soll ich jetzt hektisch beginnen, die Filme digital zu konser­vieren? Wie lange braucht man, um 1.800 Filme zu digi­ta­li­sieren? Also nur eine Auswahl treffen, nur die liebsten 100 oder 200 oder 500? Lohnt es überhaupt, auch nur einen Film von mittel­mäßiger VHS-Qualität zu digi­ta­li­sieren, wenn nahezu jedes Werk als DVD (oft für günstiges Geld) zu kaufen oder kostenlos auf youtube verfügbar ist?
Ohne Digi­ta­li­sie­rung kann ich wegen der Inkom­pa­ti­bi­lität mit dem Fernseher aktuell keinen VHS-Film vernünftig anschauen. Also einen anderen, eventuell alten Fernseher kaufen? Damit zwei Wochen später der VHS-Recorder den Geist aufgibt? In dem Fall einen gebrauchten VHS-Recorder kaufen? Solchen Irrsinn vermeiden und besser gleich die ganzen Kassetten in die Tonne schmeißen? Oder doch warten, bis sich der Video-Kult durch­setzt und irgend­eine Firma dem VHS-Recorder ein Revival verschafft? Darauf hoffen, dass ein solches neues Gerät mit meinem Fernseher kompa­tibel ist?

Vielen mögen solche Über­le­gungen abwegig, verrückt erscheinen, für sie war und ist das Fest­halten an VHS keine Option, die Vorteile der neuen Techniken sind erdrü­ckend. Wenn es nur um den reinen Film­konsum ginge, könnte ich dem schon zustimmen, doch mein VHS-Bestand ist mehr als nur eine sterile Sammlung von Filmen. Wie in meinem Blog-Eintrag Analog-Archäo­logie dargelegt, ist ein Video-Bestand wie dieser (der über­wie­gend aus selber aufge­zeich­neten Kassetten besteht) ein faszi­nie­render Blick in die Vergan­gen­heit, eine visuelle Mischung aus Tagebuch, Dachboden und multipler Kultur­ge­schichte (des Fern­se­hens, der Werbung, meiner wie der allge­meinen kultu­rellen Entwick­lung).

„Das kann man anders auch haben“, mag da mancher sagen. Wozu einen halben Kubik­meter Video­kas­setten lagern, wenn die Vergan­gen­heit jederzeit (vor allem im Internet aber auch durch unzählige (Special-Interest) Veröf­fent­li­chungen) verfügbar ist? Stimmt schon, Fern­seh­wer­bung aus den frühen 1990er Jahren finde ich sicher auf youtube und die unter­schied­li­chen Logos von Pro 7 oder alle Sprecher der Tages­themen hat sicher irgendwer in einem Buch oder Blog gesammelt. Was aber nur auf meinen Video­kas­setten erhalten ist, ist die einzig­ar­tige Kombi­na­tion und ist vor allem mein persön­li­cher Bezug dazu. So erzählt jeder Film eben auch eine Geschichte davon, wann ich ihn aufge­nommen habe, ob die Aufnahme „geglückt“ war (ganz ärgerlich etwa abge­schnit­tene Film-Enden wegen falscher Program­mie­rung), wann ich sie wie oft gesehen habe. Mit dem Untergang meiner VHS-Sammlung werden all diese Momente verloren sein in der Zeit, wie Tränen im Regen. Zeit auszu­schalten.
Noch bin ich zu keinem finalen Entschluss gekommen, wie ich mit meinem Video­schatz weiter verfahre, aktuell spiele ich ein wenig auf Zeit in der leisen Hoffnung darauf, dass mich irgend­welche „Umstände“ in die ein oder andere Richtung drängen. Wie sagt man in solchen Situa­tionen gerne: Man wird sehen.

Wenn Ihnen die VHS-Kultur fremd (geworden) ist, empfehle ich die oben genannten Filme plus zusätz­lich Amazonen auf dem Mond (wunderbar die Episode mit Russ Meyer) oder themen­be­zo­genes Surfen im Internet, da können Sie viel über die Wich­tig­keit, die Eigen­heiten und den Charme dieses Mediums erfahren.
Immer wieder beliebt sind Musik­vi­deos im VHS-Style, etwa die auf dazed­di­gital.com unter dem Titel The greatest music videos shot on VHS genannten, wobei die Über­schrift natürlich lügt, es gibt noch viele weitere, zum Teil noch greatere, etwa die Foo Fighters mit White Limo (mit special acting guest!) oder das liebevoll gestal­tete John Holmes VHS Nightclub von Pertur­bator, das auf einen der wich­tigsten Wirkungs­kreise von VHS verweist.

Ich selbst könnte auch ein paar lustige Schwänke zur VHS-Geschichte erzählen, etwa von fana­ti­schen Sammlern und ihrem sonder­baren Kauf- und Jagd­ver­halten, von einem legen­dären Laden in München, in dem man die „schwer zu bekom­menden“ Videos kaufte oder (aus dritter Hand) die Geschichte von Hr. B., dem einst ein umge­stürzter Stapel Video­kas­setten tagelang den Zugang zum Bad versperrte. Welche Geschichten werden dagegen die Leute nach 20 Jahren Netflix-Konsum erzählen können?

Wie schon erwähnt, möchte ich mein Verhältnis zu VHS nicht emotio­nell über­sti­li­sieren, im Gegensatz zu echten VHS-Freaks (wie in den oben genannten Dokus zu besich­tigen) bin ich sehr sachlich damit umge­gangen. Klar ist aber auch, dass der Video­re­corder für mich (und viele andere wohl auch) ein sehr wichtiges „Medi­en­werk­zeug“ war, wofür ihm ewiger Dank gebührt.
Philo­so­phisch hat mir VHS übrigens auch was gebracht. Die jahre­lange Nutzung dieser Tech­no­logie hat mir bei der Einübung einer kritisch-gelas­senen Haltung gegenüber dem Wahn der Perfek­tion geholfen.