20.09.2018

Save Oleg Sentsov!

Nicht einmal die mediale Aufmerksamkeit durch die Fussball-WM in Russland hat dem ukrainischen Regisseur Oleg Sentsov geholfen, ein Einlenken Putins zu erzwingen. In einem Brief vom 10. September scheint Sentsov sich nun auf das tödliche Ende seines Hungerstreiks vorzubereiten. Dies wäre auch der bittere Schlusspunkt eines der bizarrsten und skurrilsten Prozesse gegenwärtiger russischer Rechtssprechung.

Von Tatiana Moll

Die russische Realität scheint vielen russi­schen Kultur­schaf­fenden momentan leider näher an den sowje­ti­schen Zeiten zu sein, in denen unschul­dige Menschen zu Gefängnis und Tod ohne Gerichts­ver­fahren verur­teilt wurden, als man glaubt oder hofft. Der Fall des ukrai­ni­schen Regis­seurs Oleg Sentsov ist ein deut­li­cher Beweis dafür. Der auf der Krim lebende und mit deren Annek­tie­rung seitens Russlands nicht einver­stan­dene Oleg Sentsov wurde am 11. Mai 2014 zusammen mit dem Akti­visten Oleksandr Kolt­schenko, dem Foto­grafen Gennadi Afanasjev und dem Histo­riker Oleksi Tschirni unter dubiosen Vorwänden fest­ge­nommen und nach Moskau ausge­lie­fert. Ihnen wurde vorge­worfen, Terror­an­schläge auf Brücken und öffent­liche Denkmäler orga­ni­siert zu haben. Zum anderen wurde ihnen unter­stellt, Mitglieder einer ukrai­ni­schen natio­na­lis­ti­schen Gruppe des Rechten Sektors zu sein. Nach einem absurden, kafka­esken Gerichts­pro­zess wurde Oleg Sentsov ohne über­zeu­gende Beweise zu 20 Jahren Haft verur­teilt. Der russische Präsident Vladimir Putin behauptet dennoch, die russische Justiz sei »unvor­ein­ge­nommen und unab­hängig« und Sentsov sei von ihr wegen der Ausübung des Terro­rismus zurecht verur­teilt worden. Dennoch hängt laut dem russi­schen Politiker Grigori Javlinski Sentsovs Leben allein von Putins Willen ab.

Sowohl die inter­na­tio­nale Öffent­lich­keit als auch die russische kultu­relle Elite sind sich absolut bewusst darüber, dass der ganze Prozess einen poli­ti­schen Hinter­grund hat und somit »Fake-Charak­ter­züge« trägt. Wie die russische Zeitung »Nowaja Gazeta« berichtet, würde das Urteil gegen Sentsov ausschließ­lich auf den Aussagen seiner Mitan­ge­klagten, die unmit­telbar nach der Festnahme mit den Ermitt­lern zu koope­rieren begannen, beruhen. Sentsov wollte mit niemandem koope­rieren. Er habe sich dafür entschieden, gegen Lügen und Selbst­willkür zu kämpfen, so Javlinski.

Nach dem Gerichts­ur­teil wurde Sentsov nach Irkutsk in der Nähe des Polar­kreises verlegt, um seine Strafe anzu­treten.

Es gibt immer wieder Proteste gegen den Fall Sentsov. Hier und da appel­lieren russische und vor allem inter­na­tio­nale Intel­lek­tu­elle und Kultur­schaf­fende an die russische Regierung, Sentsov frei­zu­lassen. Am 12. August 2018 hat z. B. die fran­zö­si­sche Zeitung Le Monde einen Brief zur Frei­las­sung von Oleg Sentsov veröf­fent­licht. Der Brief wurde von 120 Menschen, unter anderem Jean-Luc Godard, Françoise Nyssen etc., unter­schrieben. Auch andere euro­päi­sche Länder verfassen Briefe zur Befreiung von Sentsov, die seit seinem, im Mai 2018 ange­fan­genen, unbe­fris­teten Hunger­streik an Quantität zuge­nommen haben. Inzwi­schen sind 128 Tage seit seinem Hunger­streik-Beginn vergangen. Er könne in der Tat jeden Augen­blick sterben, erinnert Javlenski wieder­holt und mit Nachdruck in seinem Blogtext auf der Inter­net­seite des Radio­sen­ders Echo moskvy. Sentsovs einzige Nahrung, die ihn seit Monaten am Leben hält, ist ein Nahrungs­er­gän­zungs­mittel namens Nutrid­rink. In seinem Streik verlangt er, dass alle aus der Ukraine stam­menden 64 poli­ti­schen Häftlinge in Russland frei­ge­lassen werden. Falls nur er alleine entlassen werden würde, würde er das selbst als Scheitern seines Unter­neh­mens betrachten, so Sentsov. Bis jetzt gab es noch keine Reaktion vonseiten der russi­schen Regierung.

Der Regisseur Askold Kurov, der über den Gerichts­pro­zess von Oleg Sentsov einen Doku­men­tar­film gedreht hat – Prozess: der russische Staat gegen Oleg Sentsov (2017) –, erkennt in der heutigen russi­schen Realität einen Nachhall sowje­ti­scher Zeiten. Alles rieche nach sowje­ti­schem Staub, so Kurov. Der Vergleich mit diesem Sowjet­russ­land lässt auch die letzten Illu­sionen einer sich vor vielen Jahren anbah­nenden Demo­kratie verpuffen. Merk­würdig ist nur, dass der wesent­liche Teil der russi­schen Bevöl­ke­rung sich nur über »Krim nasch« gedan­kenlos freut und weder über weit­ge­hende Konse­quenzen nachdenkt noch im Stande ist, Paral­lelen zum tota­li­tären Russland der 1930er Jahre zu sehen. Und diese Paral­lelen sind für viele Kultur­schaf­fende, wie z. B. für den Film­kri­tiker Juri Bogomolov, evidenter denn je. Auch Sergej Loznitsa verglich auf dem Inter­na­tio­nalen Festival von Toronto am 11. September 2018 die Situation um Oleg Sentsov mit der gericht­li­chen Willkür der 1930er Jahre.

Es gibt aller­dings einen kleinen bzw. wesent­li­chen Unter­schied – je nachdem, wie man es sieht – zu den repres­siven 1930er Jahren des 20. Jahr­hun­derts: Die poli­ti­sche Macht gehe weniger massen­haft gegen ihre Gegner vor, sondern mehr punktuell, gezielt, so Juri Bogomolov in einem Interview. Sein Gesprächs­partner, der Thea­ter­re­gis­seur Aleksandr Gnesdilov, bestätigt, dass die angst­ein­flößende Atmo­s­phäre des Jahres 1937 heut­zu­tage mit erheblich weniger Opfern erreicht werde. Eines dieser Opfer wurde 2014 Oleg Sentsov: ein Opponent der russi­schen Politik, ein Maidan-Anhänger sowie ein ukrai­ni­scher Staats­an­gehö­riger in der von Russland annek­tierten Krim. Zudem ist er mit seinem Film Gamer (2011) auf dem Inter­na­tio­nalen Film Festival Rotterdam der inter­na­tio­nalen Öffent­lich­keit als aufstre­bendes Talent bekannt geworden.

Das Absur­deste sei dabei, dass er ohne nach­voll­zieh­bare Beweise seiner Schuld für 20 Jahre Haft verur­teilt worden wäre, während die Leute, die tatsäch­lich Unruhen gestiftet hätten, im Vergleich »nur« sieben Jahre bekommen hätten, so der Haupt­re­dak­teur der Film­zeit­schrift Iskusstvo kino Anton Dolin. Alle an ihn gerich­teten Anschul­di­gungen, die man übrigens auf Media Zona nachlesen kann, waren aus den Fingern gesogen und ohne Beweise aufge­stellt. Sentsovs Gegen­ar­gu­mente wurden in keinerlei Hinsicht in Betracht gezogen. Sentsov hat sich als unschuldig erklärt und hat den Fall als politisch und fabri­ziert bezeichnet. Auch viele andere betrachten den Sentsov-Fall als einen Muster­pro­zess, als pure Show und Demons­tra­tion tota­li­tärer Macht.

Als ein indi­rekter Beweis von Sentsovs Schuld gelten zwei DVDs »faschis­ti­schen Charak­ters«, die während der Durch­su­chung seiner Wohnung gefunden worden seien: Eine davon ist Der gewöhn­liche Faschismus von Michael Romm aus dem Jahr 1965 – was umso skurriler und grotesker ist, zeugt der Besitz eines solchen Films doch eher vom Gegenteil als der Sympathie mit dem faschis­ti­schen Regime. Beim Lesen des Gerichts­ver­lauf-Proto­kolls kommt man sich tatsäch­lich wie in einem surrea­lis­ti­schen Film vor! Und vergisst bei all den absurden Details fast, dass es kein Film, sondern bittere Realität ist.

Oleg als ein Anders­den­kender, ein nicht mit der Macht, Politik und Ermitt­lungs­behörden und Koope­rie­render, scheint viel gefähr­li­cher zu sein, als ein Verbre­cher mit einer Granate, so Anton Dolin. 20 Jahre Gefängnis als längste Inhaf­tie­rungs­strafe in diesem Gerichts­ver­fahren ist ein deut­li­cher und somit ein selbst­ent­lar­vender Beweis dafür. Somit scheine die russische Regierung vor allem mit der anders­den­kenden, oppo­si­tio­nellen Intel­li­genz, der soge­nannten »fünften Kolonne ›, zu kämpfen, schreibt Dolin in der Zeitung »Afischa«.‹«

Nach der Aussage von Sentsovs Cousine Natalia Kaplan, zu der er von allen Fami­li­en­an­gehö­rigen am meisten Kontakt pflegte, verschlim­mert sich Sentsovs Zustand aufgrund des Hunger­streiks zunehmend. In einem Brief vom 10. September 2018 schrieb Oleg an sie: »Ich gebe auf keinen Fall auf. Aller­dings glaube ich nicht mehr an das glück­liche Ende dieser ganzen Story. Mein Zustand ist stabil-schlecht. Vor kurzem habe ich zusätz­lich Hypoxie bekommen – Sauer­stoff­mangel im Herzen und Gehirn. Mir ist schwin­delig; Der Rumpf, Kopf und Glied­maßen sterben ab.« Vor kurzem schrieb sie, dass er nach seiner eigenen Aussage den nahenden Tod spürt.

Die Bitte von Sentsovs Mutter um seine Amnestie wurde von Putin abgelehnt, berichtet Media Zona am 5. September 2018. Er selbst verlangt danach gar nicht, er will nur die Freiheit für seine Lands­leute. Aller­dings merkt er allmäh­lich, dass er Abschied von dieser Illusion nehmen muss. So findet das Thema seines Films »Gamer«, in der er sich haupt­säch­lich mit dem Verlust von Illu­sionen beschäf­tigt, einen déjà-vu-artigen Widerhall in seinem Gerichts­ver­fahren, das für ihn mehr als desil­lu­sio­nie­rend verlaufen ist. Die Regie­ar­beit wurde nun von Anderen über­nommen, während er selbst die Haupt­rolle spielen musste.

Doch trotz aller Schick­sals­schläge und der Ausweg­lo­sig­keit bleibt er sich und seinen Prin­zi­pien treu und somit unglaub­lich stark, was in höchstem Maße bewun­derns­wert ist. Er scheint angstfrei zu sein, was seine letzte Rede im Gericht bestätigt: »Ich habe keine Bitten oder Wünsche. Hier ist doch alles allen klar. Das Okku­panten-Gericht kann allein per defi­ni­tionem nicht gerecht sein. (…) Die größte Sünde auf Erde ist Feigheit – das schrieb bereits der heraus­ra­gende Schrift­steller Michail Bulgakov in seinem Roman Der Meister und Margarita. Und ich bin bereit, seine Worten zu unter­schreiben. (…) Ich wünsche allen Russen, dass sie lernen, ohne Angst zu leben.«

Sergej Loznitsa, der sowohl tiefes Mitleid mit seiner miss­li­chen Lage als auch große Bewun­de­rung für Sentsov empfindet, sprach von ihm auf dem Festival in Cannes 2018 als von einem, der für Freiheit, Ehre und letzt­end­lich für Mensch­lich­keit kämpft.

Im Grunde genommen ist Oleg Sentsov, obgleich äußerlich inhaf­tiert, durch seine Furcht­lo­sig­keit und seine humanen Werte und Ideale, denen er bis zum bitteren Ende treu bleibt, innerlich wesent­lich freier als so viele andere, in Freiheit lebende.