Save Oleg Sentsov! |
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Von Tatiana Moll
Die russische Realität scheint vielen russischen Kulturschaffenden momentan leider näher an den sowjetischen Zeiten zu sein, in denen unschuldige Menschen zu Gefängnis und Tod ohne Gerichtsverfahren verurteilt wurden, als man glaubt oder hofft. Der Fall des ukrainischen Regisseurs Oleg Sentsov ist ein deutlicher Beweis dafür. Der auf der Krim lebende und mit deren Annektierung seitens Russlands nicht einverstandene Oleg Sentsov wurde am 11. Mai 2014 zusammen mit dem Aktivisten Oleksandr Koltschenko, dem Fotografen Gennadi Afanasjev und dem Historiker Oleksi Tschirni unter dubiosen Vorwänden festgenommen und nach Moskau ausgeliefert. Ihnen wurde vorgeworfen, Terroranschläge auf Brücken und öffentliche Denkmäler organisiert zu haben. Zum anderen wurde ihnen unterstellt, Mitglieder einer ukrainischen nationalistischen Gruppe des Rechten Sektors zu sein. Nach einem absurden, kafkaesken Gerichtsprozess wurde Oleg Sentsov ohne überzeugende Beweise zu 20 Jahren Haft verurteilt. Der russische Präsident Vladimir Putin behauptet dennoch, die russische Justiz sei »unvoreingenommen und unabhängig« und Sentsov sei von ihr wegen der Ausübung des Terrorismus zurecht verurteilt worden. Dennoch hängt laut dem russischen Politiker Grigori Javlinski Sentsovs Leben allein von Putins Willen ab.
Sowohl die internationale Öffentlichkeit als auch die russische kulturelle Elite sind sich absolut bewusst darüber, dass der ganze Prozess einen politischen Hintergrund hat und somit »Fake-Charakterzüge« trägt. Wie die russische Zeitung »Nowaja Gazeta« berichtet, würde das Urteil gegen Sentsov ausschließlich auf den Aussagen seiner Mitangeklagten, die unmittelbar nach der Festnahme mit den Ermittlern zu kooperieren begannen, beruhen. Sentsov wollte mit niemandem kooperieren. Er habe sich dafür entschieden, gegen Lügen und Selbstwillkür zu kämpfen, so Javlinski.
Nach dem Gerichtsurteil wurde Sentsov nach Irkutsk in der Nähe des Polarkreises verlegt, um seine Strafe anzutreten.
Es gibt immer wieder Proteste gegen den Fall Sentsov. Hier und da appellieren russische und vor allem internationale Intellektuelle und Kulturschaffende an die russische Regierung, Sentsov freizulassen. Am 12. August 2018 hat z. B. die französische Zeitung Le Monde einen Brief zur Freilassung von Oleg Sentsov veröffentlicht. Der Brief wurde von 120 Menschen, unter anderem Jean-Luc Godard, Françoise Nyssen etc., unterschrieben. Auch andere europäische Länder verfassen Briefe zur Befreiung von Sentsov, die seit seinem, im Mai 2018 angefangenen, unbefristeten Hungerstreik an Quantität zugenommen haben. Inzwischen sind 128 Tage seit seinem Hungerstreik-Beginn vergangen. Er könne in der Tat jeden Augenblick sterben, erinnert Javlenski wiederholt und mit Nachdruck in seinem Blogtext auf der Internetseite des Radiosenders Echo moskvy. Sentsovs einzige Nahrung, die ihn seit Monaten am Leben hält, ist ein Nahrungsergänzungsmittel namens Nutridrink. In seinem Streik verlangt er, dass alle aus der Ukraine stammenden 64 politischen Häftlinge in Russland freigelassen werden. Falls nur er alleine entlassen werden würde, würde er das selbst als Scheitern seines Unternehmens betrachten, so Sentsov. Bis jetzt gab es noch keine Reaktion vonseiten der russischen Regierung.
Der Regisseur Askold Kurov, der über den Gerichtsprozess von Oleg Sentsov einen Dokumentarfilm gedreht hat – Prozess: der russische Staat gegen Oleg Sentsov (2017) –, erkennt in der heutigen russischen Realität einen Nachhall sowjetischer Zeiten. Alles rieche nach sowjetischem Staub, so Kurov. Der Vergleich mit diesem Sowjetrussland lässt auch die letzten Illusionen einer sich vor vielen Jahren anbahnenden Demokratie verpuffen. Merkwürdig ist nur, dass der wesentliche Teil der russischen Bevölkerung sich nur über »Krim nasch« gedankenlos freut und weder über weitgehende Konsequenzen nachdenkt noch im Stande ist, Parallelen zum totalitären Russland der 1930er Jahre zu sehen. Und diese Parallelen sind für viele Kulturschaffende, wie z. B. für den Filmkritiker Juri Bogomolov, evidenter denn je. Auch Sergej Loznitsa verglich auf dem Internationalen Festival von Toronto am 11. September 2018 die Situation um Oleg Sentsov mit der gerichtlichen Willkür der 1930er Jahre.
Es gibt allerdings einen kleinen bzw. wesentlichen Unterschied – je nachdem, wie man es sieht – zu den repressiven 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts: Die politische Macht gehe weniger massenhaft gegen ihre Gegner vor, sondern mehr punktuell, gezielt, so Juri Bogomolov in einem Interview. Sein Gesprächspartner, der Theaterregisseur Aleksandr Gnesdilov, bestätigt, dass die angsteinflößende Atmosphäre des Jahres 1937 heutzutage mit erheblich weniger Opfern erreicht werde. Eines dieser Opfer wurde 2014 Oleg Sentsov: ein Opponent der russischen Politik, ein Maidan-Anhänger sowie ein ukrainischer Staatsangehöriger in der von Russland annektierten Krim. Zudem ist er mit seinem Film Gamer (2011) auf dem Internationalen Film Festival Rotterdam der internationalen Öffentlichkeit als aufstrebendes Talent bekannt geworden.
Das Absurdeste sei dabei, dass er ohne nachvollziehbare Beweise seiner Schuld für 20 Jahre Haft verurteilt worden wäre, während die Leute, die tatsächlich Unruhen gestiftet hätten, im Vergleich »nur« sieben Jahre bekommen hätten, so der Hauptredakteur der Filmzeitschrift Iskusstvo kino Anton Dolin. Alle an ihn gerichteten Anschuldigungen, die man übrigens auf Media Zona nachlesen kann, waren aus den Fingern gesogen und ohne Beweise aufgestellt. Sentsovs Gegenargumente wurden in keinerlei Hinsicht in Betracht gezogen. Sentsov hat sich als unschuldig erklärt und hat den Fall als politisch und fabriziert bezeichnet. Auch viele andere betrachten den Sentsov-Fall als einen Musterprozess, als pure Show und Demonstration totalitärer Macht.
Als ein indirekter Beweis von Sentsovs Schuld gelten zwei DVDs »faschistischen Charakters«, die während der Durchsuchung seiner Wohnung gefunden worden seien: Eine davon ist Der gewöhnliche Faschismus von Michael Romm aus dem Jahr 1965 – was umso skurriler und grotesker ist, zeugt der Besitz eines solchen Films doch eher vom Gegenteil als der Sympathie mit dem faschistischen Regime. Beim Lesen des Gerichtsverlauf-Protokolls kommt man sich tatsächlich wie in einem surrealistischen Film vor! Und vergisst bei all den absurden Details fast, dass es kein Film, sondern bittere Realität ist.
Oleg als ein Andersdenkender, ein nicht mit der Macht, Politik und Ermittlungsbehörden und Kooperierender, scheint viel gefährlicher zu sein, als ein Verbrecher mit einer Granate, so Anton Dolin. 20 Jahre Gefängnis als längste Inhaftierungsstrafe in diesem Gerichtsverfahren ist ein deutlicher und somit ein selbstentlarvender Beweis dafür. Somit scheine die russische Regierung vor allem mit der andersdenkenden, oppositionellen Intelligenz, der sogenannten »fünften Kolonne ›, zu kämpfen, schreibt Dolin in der Zeitung »Afischa«.‹«
Nach der Aussage von Sentsovs Cousine Natalia Kaplan, zu der er von allen Familienangehörigen am meisten Kontakt pflegte, verschlimmert sich Sentsovs Zustand aufgrund des Hungerstreiks zunehmend. In einem Brief vom 10. September 2018 schrieb Oleg an sie: »Ich gebe auf keinen Fall auf. Allerdings glaube ich nicht mehr an das glückliche Ende dieser ganzen Story. Mein Zustand ist stabil-schlecht. Vor kurzem habe ich zusätzlich Hypoxie bekommen – Sauerstoffmangel im Herzen und Gehirn. Mir ist schwindelig; Der Rumpf, Kopf und Gliedmaßen sterben ab.« Vor kurzem schrieb sie, dass er nach seiner eigenen Aussage den nahenden Tod spürt.
Die Bitte von Sentsovs Mutter um seine Amnestie wurde von Putin abgelehnt, berichtet Media Zona am 5. September 2018. Er selbst verlangt danach gar nicht, er will nur die Freiheit für seine Landsleute. Allerdings merkt er allmählich, dass er Abschied von dieser Illusion nehmen muss. So findet das Thema seines Films »Gamer«, in der er sich hauptsächlich mit dem Verlust von Illusionen beschäftigt, einen déjà-vu-artigen Widerhall in seinem Gerichtsverfahren, das für ihn mehr als desillusionierend verlaufen ist. Die Regiearbeit wurde nun von Anderen übernommen, während er selbst die Hauptrolle spielen musste.
Doch trotz aller Schicksalsschläge und der Ausweglosigkeit bleibt er sich und seinen Prinzipien treu und somit unglaublich stark, was in höchstem Maße bewundernswert ist. Er scheint angstfrei zu sein, was seine letzte Rede im Gericht bestätigt: »Ich habe keine Bitten oder Wünsche. Hier ist doch alles allen klar. Das Okkupanten-Gericht kann allein per definitionem nicht gerecht sein. (…) Die größte Sünde auf Erde ist Feigheit – das schrieb bereits der herausragende Schriftsteller Michail Bulgakov in seinem Roman Der Meister und Margarita. Und ich bin bereit, seine Worten zu unterschreiben. (…) Ich wünsche allen Russen, dass sie lernen, ohne Angst zu leben.«
Sergej Loznitsa, der sowohl tiefes Mitleid mit seiner misslichen Lage als auch große Bewunderung für Sentsov empfindet, sprach von ihm auf dem Festival in Cannes 2018 als von einem, der für Freiheit, Ehre und letztendlich für Menschlichkeit kämpft.
Im Grunde genommen ist Oleg Sentsov, obgleich äußerlich inhaftiert, durch seine Furchtlosigkeit und seine humanen Werte und Ideale, denen er bis zum bitteren Ende treu bleibt, innerlich wesentlich freier als so viele andere, in Freiheit lebende.