18.10.2018

Zu Besuch bei den Perlen­fi­schern

Ray meets Helen
Alan Rudolph in alter Stärke: Ray Meets Helen
(Foto: Alan Rudolph / Filmfest Oldenburg)

Es lohnt sich allein schon für Filme, die die Grenzen des Gewohnten auf überraschende Weise sprengen, jedes Jahr im September aufs Neue für fünf Tage ins nordwestliche Niedersachsen zum Internationalen Filmfest Oldenburg zu fahren. Aber das ist noch längst nicht alles, was im „European Sundance“ geboten wird

Von Eckhard Haschen

Natürlich spielt Oldenburg nicht in der Top-Liga der inter­na­tio­nalen Film­fes­ti­vals. Das lässt sich schon daran ablesen, dass es gleich­zeitig mit Toronto (bis vor ein paar Jahren auch mit Venedig) statt­findet. Und mit seinen rund 50 neuen Filmen plus Tribute und Retro­spek­tive ist es auch sehr viel kleiner als deutsche Groß­stadt­fes­ti­vals wie München oder Hamburg – ganz abgesehen von einem sehr viel gerin­geren Etat. Doch in den nun 25 Jahren seines Bestehens – also bald halb so lange wie Hof – hat es sich zu einer aner­kannten Größe in der Festi­valland­schaft entwi­ckelt.

Seit seiner Gründung im Jahr 1994 hat sich das Festival das Label »Inde­pen­dent« auf die Fahnen geschrieben. In jenem Jahr konnte man zwar nicht gleich Quentin Taran­tinos Pulp Fiction (der lief damals in München) nach Oldenburg holen, aber immerhin Spike Lees Crooklyn. Doch von Anfang an haben die Gründer Thorsten Ritter und Torsten Neumann, der das Festival seit 1999 allein leitet, weniger um die Filme gebuhlt, die etwa in Cannes Aufsehen erregen, sondern lieber auf kleineren Festivals Ausschau nach Entde­ckungen gehalten. Mit großer Konse­quenz hat sich das Festival über die Jahre seine eigene Nische erar­beitet, so dass es durchaus folge­richtig ist, wenn Bran­chen­blätter wie »Variety«, »Hollywood Reporter« oder »Screen Inter­na­tional« Oldenburg heute als »European Sundance« bezeichnen.

So gut scheint der Ruf des Festivals in gewissen Teilen der inter­na­tio­nalen Film­branche inzwi­schen zu sein, dass nicht nur deutsche Filme­ma­cher, sondern auch manch aufstre­bender inter­na­tio­nale Regisseur seinen Film zuerst hier präsen­tiert. So waren die zwei größten Entde­ckungen in diesem Jahr tatsäch­lich Welt­pre­mieren: Zum einen ist dies Is That You, der erste Film des kuba­ni­schen Regis­seurs Rudy Riverón Sánchez. Dieses mit Horror­ele­menten ange­rei­cherte Fami­li­en­drama hätte selbst ein Bergman wohl kaum beklem­mender hinbe­kommen können. Für die 13-jährige Lily (Gabriela Ramos, die dafür die eine Hälfte des diesmal geteilten Seymour Cassel Awards erhielt, die andere ging an Victoria Carmen Sonne in Holiday von der schwe­di­schen Regis­seurin Isabella Eklöf) ist es jeden­falls keine Befreiung, als der herrschsüch­tige Vater, der die Mutter in Ketten gefangen gehalten hatte, mit einem Mal verschwunden ist, im Gegenteil: Sie veran­staltet ein Voodoo-Ritual, um ihn zurück­zu­bringen. Wie sehr hier die gegen­wär­tige kuba­ni­sche Gesell­schaft als Ganzes gemeint ist, kann man sich als Zuschauer leicht selbst ausmalen.

Harter Stoff von ganz anderer Art ist dagegen der Doku­men­tar­film King of Beasts, den das Festival als Abschluss­film im Staats­theater präsen­tierte. Die israe­li­schen Regis­seure Tomer Almagor und Nadav Habel begleiten darin den ameri­ka­ni­schen Groß­wild­jäger Aaron, der in Tansania auf Safari geht, als wäre die Zeit vor mindes­tens 50 Jahren stehen geblieben. Mag dieser Aaron auch eine recht komplexe Persön­lich­keit sein, gehört er doch zu den weißen Jägern mit schwarzem Herzen, denen schon längst das Handwerk gelegt gehörte. Die Chan­cen­lo­sig­keit der Löwen ist jeden­falls erschre­ckend mitan­zu­sehen.

Lohnt es sich allein schon für Filme, die wie diese die Grenzen des Gewohnten auf über­ra­schende Weise sprengen, jedes Jahr im September aufs Neue für fünf Tage ins nord­west­liche Nieder­sachsen zu fahren, ist das jedoch noch längst nicht alles: Denn irgendwie schaffen es Neumann und sein Team immer wieder, aus dem riesigen Meer mittel­mäßiger Inde­pend­ent­filme echte Perlen heraus­zu­fi­schen. So zum Beispiel All These Small Moments von Melissa Miller Costanzo, der es in ihrem ersten Film um einen Teenager, der sich unglück­lich in eine alternde Schönheit verliebt, gelingt, dem ziemlich ausge­lutschten Coming-of-Age-Genre noch einmal ganz neues Leben einzu­hau­chen. Besonders über­zeu­gend in der Rolle der Mutter: Molly Ringwald. Ebenso erfri­schend ist Write When You Get Work geraten, in dem ein einstiges High School-Pärchen neun Jahre später mit seinen jewei­ligen Lebens­ent­würfen hadert. Die Regis­seurin, Stacy Cochran, der das Festival bereits 1990 einen Tribute gewidmet hatte, und deren Debüt My New Gun zu den schönsten US-Inde­pend­ent­filmen der 1990er Jahre zählt, würde es wirklich verdienen, endlich einmal mehr als ein Geheim­tipp zu sein.

Eher schon ein wenig vergessen als übersehen ist dagegen Alan Rudolph, der sich mit Ray Meets Helen in nahezu alter Stärke zurück­meldet. Wie einst in Choose Me gelingt ihm auch hier der schwie­rige Spagat zwischen Leicht­füßig­keit und Melan­cholie. In der Rolle des geal­terten Charmeurs, der noch ein letztes Mal zu großer Form aufläuft, überzeugt darin – an der Seite von Sondra Locke – Keith Carradine, dem auch der dies­jäh­rige Tribute gewidmet war, bei dem passen­der­weise auch Rudolphs Trouble in Mind gezeigt wurde.

Einen Film, den nach den Enthül­lungen über James Toback – dem im Zuge der MeToo-Debatte von über 400 Frauen sexuelle Über­griffe vorge­worfen werden – wohl kein anderes Festival noch zu zeigen wagt, ist dessen im vergan­genen Jahr in Venedig urauf­ge­führter und seitdem in der Versen­kung verschwun­dener Thriller The Private Life of a Modern Woman. In der für Toback seit seinem Debüt, Fingers, typischen Mischung aus Hoch­kultur und Gangs­tertum ist der Film ein wahres Fest für Sienna Miller, Alec Baldwin und Charles Grodin. Die Entschei­dung des Festivals, den Film dieses nun Verfemten – dem 2008 hier die Retro­spek­tive gewidmet war – dennoch zu zeigen, ist sicher­lich angreifbar, im Sinne einer Trennung zwischen Künstler und Werk aber wohl doch eher zu begrüßen.