Zu Besuch bei den Perlenfischern |
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Alan Rudolph in alter Stärke: Ray Meets Helen | ||
(Foto: Alan Rudolph / Filmfest Oldenburg) |
Von Eckhard Haschen
Natürlich spielt Oldenburg nicht in der Top-Liga der internationalen Filmfestivals. Das lässt sich schon daran ablesen, dass es gleichzeitig mit Toronto (bis vor ein paar Jahren auch mit Venedig) stattfindet. Und mit seinen rund 50 neuen Filmen plus Tribute und Retrospektive ist es auch sehr viel kleiner als deutsche Großstadtfestivals wie München oder Hamburg – ganz abgesehen von einem sehr viel geringeren Etat. Doch in den nun 25 Jahren seines Bestehens – also bald halb so lange wie Hof – hat es sich zu einer anerkannten Größe in der Festivallandschaft entwickelt.
Seit seiner Gründung im Jahr 1994 hat sich das Festival das Label »Independent« auf die Fahnen geschrieben. In jenem Jahr konnte man zwar nicht gleich Quentin Tarantinos Pulp Fiction (der lief damals in München) nach Oldenburg holen, aber immerhin Spike Lees Crooklyn. Doch von Anfang an haben die Gründer Thorsten Ritter und Torsten Neumann, der das Festival seit 1999 allein leitet, weniger um die Filme gebuhlt, die etwa in Cannes Aufsehen erregen, sondern lieber auf kleineren Festivals Ausschau nach Entdeckungen gehalten. Mit großer Konsequenz hat sich das Festival über die Jahre seine eigene Nische erarbeitet, so dass es durchaus folgerichtig ist, wenn Branchenblätter wie »Variety«, »Hollywood Reporter« oder »Screen International« Oldenburg heute als »European Sundance« bezeichnen.
So gut scheint der Ruf des Festivals in gewissen Teilen der internationalen Filmbranche inzwischen zu sein, dass nicht nur deutsche Filmemacher, sondern auch manch aufstrebender internationale Regisseur seinen Film zuerst hier präsentiert. So waren die zwei größten Entdeckungen in diesem Jahr tatsächlich Weltpremieren: Zum einen ist dies Is That You, der erste Film des kubanischen Regisseurs Rudy Riverón Sánchez. Dieses mit Horrorelementen angereicherte Familiendrama hätte selbst ein Bergman wohl kaum beklemmender hinbekommen können. Für die 13-jährige Lily (Gabriela Ramos, die dafür die eine Hälfte des diesmal geteilten Seymour Cassel Awards erhielt, die andere ging an Victoria Carmen Sonne in Holiday von der schwedischen Regisseurin Isabella Eklöf) ist es jedenfalls keine Befreiung, als der herrschsüchtige Vater, der die Mutter in Ketten gefangen gehalten hatte, mit einem Mal verschwunden ist, im Gegenteil: Sie veranstaltet ein Voodoo-Ritual, um ihn zurückzubringen. Wie sehr hier die gegenwärtige kubanische Gesellschaft als Ganzes gemeint ist, kann man sich als Zuschauer leicht selbst ausmalen.
Harter Stoff von ganz anderer Art ist dagegen der Dokumentarfilm King of Beasts, den das Festival als Abschlussfilm im Staatstheater präsentierte. Die israelischen Regisseure Tomer Almagor und Nadav Habel begleiten darin den amerikanischen Großwildjäger Aaron, der in Tansania auf Safari geht, als wäre die Zeit vor mindestens 50 Jahren stehen geblieben. Mag dieser Aaron auch eine recht komplexe Persönlichkeit sein, gehört er doch zu den weißen Jägern mit schwarzem Herzen, denen schon längst das Handwerk gelegt gehörte. Die Chancenlosigkeit der Löwen ist jedenfalls erschreckend mitanzusehen.
Lohnt es sich allein schon für Filme, die wie diese die Grenzen des Gewohnten auf überraschende Weise sprengen, jedes Jahr im September aufs Neue für fünf Tage ins nordwestliche Niedersachsen zu fahren, ist das jedoch noch längst nicht alles: Denn irgendwie schaffen es Neumann und sein Team immer wieder, aus dem riesigen Meer mittelmäßiger Independentfilme echte Perlen herauszufischen. So zum Beispiel All These Small Moments von Melissa Miller Costanzo, der es in ihrem ersten Film um einen Teenager, der sich unglücklich in eine alternde Schönheit verliebt, gelingt, dem ziemlich ausgelutschten Coming-of-Age-Genre noch einmal ganz neues Leben einzuhauchen. Besonders überzeugend in der Rolle der Mutter: Molly Ringwald. Ebenso erfrischend ist Write When You Get Work geraten, in dem ein einstiges High School-Pärchen neun Jahre später mit seinen jeweiligen Lebensentwürfen hadert. Die Regisseurin, Stacy Cochran, der das Festival bereits 1990 einen Tribute gewidmet hatte, und deren Debüt My New Gun zu den schönsten US-Independentfilmen der 1990er Jahre zählt, würde es wirklich verdienen, endlich einmal mehr als ein Geheimtipp zu sein.
Eher schon ein wenig vergessen als übersehen ist dagegen Alan Rudolph, der sich mit Ray Meets Helen in nahezu alter Stärke zurückmeldet. Wie einst in Choose Me gelingt ihm auch hier der schwierige Spagat zwischen Leichtfüßigkeit und Melancholie. In der Rolle des gealterten Charmeurs, der noch ein letztes Mal zu großer Form aufläuft, überzeugt darin – an der Seite von Sondra Locke – Keith Carradine, dem auch der diesjährige Tribute gewidmet war, bei dem passenderweise auch Rudolphs Trouble in Mind gezeigt wurde.
Einen Film, den nach den Enthüllungen über James Toback – dem im Zuge der MeToo-Debatte von über 400 Frauen sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden – wohl kein anderes Festival noch zu zeigen wagt, ist dessen im vergangenen Jahr in Venedig uraufgeführter und seitdem in der Versenkung verschwundener Thriller The Private Life of a Modern Woman. In der für Toback seit seinem Debüt, Fingers, typischen Mischung aus Hochkultur und Gangstertum ist der Film ein wahres Fest für Sienna Miller, Alec Baldwin und Charles Grodin. Die Entscheidung des Festivals, den Film dieses nun Verfemten – dem 2008 hier die Retrospektive gewidmet war – dennoch zu zeigen, ist sicherlich angreifbar, im Sinne einer Trennung zwischen Künstler und Werk aber wohl doch eher zu begrüßen.