Mit der Faust aufs Auge des Betrachters |
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Höchste Weihen: Herzog und Gorbatschow eröffneten DOK Leipzig | ||
(Foto: Werner Herzog, André Singer / DOK Leipzig) |
»Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts.«
Vladimir Putin
»Positive Disturbance«, »positive Störung« – es wäre ein gutes Motto gewesen für die diesjährige Ausgabe der DOK Leipzig, dem Festival für Dokumentarfilm und Animation. Viele vor Ort hielten es auch dafür; trotzdem war es das beileibe nicht, sondern ein Einfall der österreichischen Filmemacherin Ruth Beckermann, von der der Festival-Trailer stammte, in dem die Formulierung auftauchte – wobei Beckermann selbst allerdings nach meinem sicheren Eindruck nicht sehr
glücklich damit war, dass das Festival dann mit ihrem Film recht frei umgegangen war, ihn gewissermaßen als Material benutzt hatte.
Da wird man in Zukunft in Leipzig wieder etwas vorsichtiger agieren müssen. Wie mit so manchem.
Mit »Positive Disturbance« war immerhin aber benannt, was Kunst überhaupt leisten sollte, auch der Dokumentarfilm, dort wo er künstlerisch ambitioniert ist und sich nicht nur als journalistische Reportage versteht: Irritation, Störfeuer und
produktive Erschütterung von Weltbildern oder festgefahrenen Meinungen.
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Andererseits werden an Dokumentarfilme auch noch andere Ansprüche gestellt: Information bis zu einem gewissen Grad, das Nicht-Ausgedachtsein, um mal das gefährliche Wort »Realismus« vermieden zu haben. Dokumentarfilme sollten bis zu einem gewissen Grad »zeigen, was ist«, zumindest aus der persönlichen Sicht des Filmemacher-Autors. Das ist der unausgesprochene, aber fest geschlossene Vertrag mit dem Zuschauer. Dokumentarfilme sollten keine alternativen
Wirklichkeiten oder bewusst falschen Szenarien und Figuren kreieren. Ein Dokumentarfilm, der das dennoch tut, ist mindestens ein schlechter Film, und wenn er lügt, dann ist er Propaganda oder Schlimmeres. Und wer einmal lügt, dem glaubt man nicht – darum riskiert der Dokumentarfilm da, wo er Spekulationen und Subjektivität nicht als solche klar macht, ein ganzes Genre. Aber für wen klar macht? Nur für den klugen Zuschauer? Oder auch – mit der Faust aufs Auge des
Betrachters – noch für den letzten dösenden Trottel im Publikum?
Eine Mockumentary aber ist jedenfalls kein Dokumentarfilm, und wenn sie auf einem Dokumentarfilmfestival läuft, schädigt das den Ruf des Festivals. Dieser Hinweis bezieht sich ausdrücklich nicht auf die DOK Leipzig, sondern ist eher generell gemeint.
Dokumentarfilme sollten zugleich nicht an der Oberfläche verharren, sondern tiefer schürfen als die Fernsehnachrichten, und mit all dem auch dem
grassierenden Hang zu »Fake News« und »Alternative Facts« klassische Wahrheitsansprüche entgegenstellen.
Neben der Zerstörung allzu einfacher Wahrheiten kann ein Dokumentarfilm es sich auch zur Aufgabe machen, Wahrheiten überhaupt ans Licht zu bringen, oder an Einsichten zu erinnern, die mit der Zeit vergessen oder verzerrt wurden.
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Von seiner Geschichte her ist die DOK Leipzig ein Festival des traditionellen Dokumentarfilms: Politisch, auf relevante Themen fixiert und auf technische Präzision. Weniger offen für Experimente und künstlerische Capricen. Filmemachen und -gucken als Arbeit, weniger als Kunst und Kunstgenuss.
Aber auch Leipzig kann sich den neueren Tendenzen und Moden nicht verschließen. Zu diesen gehört die Aufhebung der klaren Trennung zwischen Dokumentarfilm und Fiktion. Gerade jüngere Dokumentarfilmemacher betonen die Subjektivität ihres Zugangs, sie wollen – und sollen wenn es nach den co-finanzierenden Fernsehsendern geht – Geschichten erzählen.
Aber wie weit darf das gehen? In Zeiten des »postfaktischen« Redens und der Allgegenwart mächtiger PR-Agenturen
ist diese modische Aufhebung schon heute politisch überholt.
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Warum eigentlich »die« DOK Leipzig, wurde ich vom Grammatik-Syndikat gefragt. Es wäre doch »das« Dokumentarfilmfestival. Das stimmt schon, jedenfalls in der Welt der Logik. Im Kino und auf Filmfestivals geht es aber nicht logisch zu. Darum sagen alle »die« DOK Leipzig, selbst auf meine Nachfrage, die ich dann ganz irritiert eingeübt hatte.
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Dass das Festival mit Werner Herzog eröffnete, war ein Coup: Denn Herzog ist weltberühmt, und sein neuer Film Meeting Gorbachev passte oberflächlich betrachtet ideal zu einem Festival, das bereits aufs kommende Jubiläum des Mauerfalls vorausblickte, und sich traditionell als Brücke zwischen Ost und West versteht, mit besonderem Interesse für die Facetten des Staatssozialismus und seines Scheiterns.
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»Wie war Ihre erste Begegnung mit einem Deutschen?« fragt Werner Herzog sein Gegenüber Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Offenbar erwartet er, von dem 1931 geborenen letzten Präsidenten der Sowjetunion etwas über den Krieg zu erfahren, und das Verhältnis zu seinem Volk, das einen Krieg entfesselte, bei dem über 25 Millionen Sowjetbürger starben. Doch er bekommt etwas anderes zu hören: Die Geschichte einer Kindheitserinnerung: Man sei ins Nachbardorf gefahren und habe dort bei einer befreundeten Familie wunderbare eingelegte Gurken gegessen. Das waren die ersten Deutschen, die Bewohner des Nachbardorfes, die Schöpfer der Wundergurken. So weit so authentisch, obschon vielleicht auch nostalgisch verklärt, obschon vielleicht auch nur eine kluge, weil mit Erwartungen brechende Anekdote eines professionellen Politikers und Anekdotenerzählers.
Dann schwebt die Kameradrohne über ein ödes Dorf, irgendwo in den Weiten Russlands. Hier wuchs Michail Gorbatschow auf. Die Kamera zeigt den Friedhof, und die Gräber von Gorbatschows Vorfahren. Herzog kann sich nur für Dinge interessieren, die er sich einverleiben kann, die ihm erlauben, »Ich« zu sagen. Also muss in den ersten Minuten die persönliche Nähe zwischen ihm und seinem Objekt klar gemacht werden: Wie er, Herzog, sei auch Gorbatschow in einem Dorf aufgewachsen, eng dem Leben der Bauern verbunden, wie er, Herzog, sei auch Gorbatschow als Kind barfuß zur Schule gelaufen, habe auf den Feldern arbeiten müssen.
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Herzog hat Michail Gorbatschow für drei lange Interviews getroffen. Mit ihnen garniert er seine chronologisch und konventionell erzählte Film-Biographie. Auf den Flug über das Stoppelfeld und das Dorf im Nirgendwo des russischen Middle-West folgt noch eine zweite Anekdote: Als der Vater, ein Frontkämpfer gegen die Nazi-Invasion, dann aus dem Krieg siegreich heimgekehrt ist, blickte er seinem 15-jährigen Sohn tief in die Augen und sagte zu ihm: »Wir kämpften, bis uns der Kampf ausging. Genau so musst du dein Leben führen.« Der Sohn erzählt es ernsthaft, als habe der Satz Bedeutung für sein eigenes Dasein. Und wenn es nicht wahr ist, ist es gut erfunden.
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In den Interviews dazwischen dominiert Belangloses, das aber Gorbatschows Person umreißen und greifbar machen soll. Die Einsamkeit ohne Ehefrau Raissa. Der zuckerfreie Schokoladenkuchen, den der zuckerkranke Ex-Präsident vom Regisseur als Mitbringsel bekommt. Die Hoffnung des weit über 80-jährigen: »Ich wünsche mir noch drei Jahre« – vermutlich um das 30.Jubiläum des Zusammenbruchs der UdSSR zu erleben.
Dann wieder Zeitreise: Der Hunger der Bauern in den 40er Jahren.
Die Begabung des jungen Michail. Die Moskauer Studenten in den 50er Jahren. Alte Photos. Wieder ein Drohnenflug, diesmal um eine Lenin-Statue. Am Spannendsten ist hier vor allem das alte, oft unbekannte Material aus jener Zeit, als Gorbatschow erst zu dem Mann wurde, der mit »Glasnost« und »Perestroijka« den Kalten Krieg beendete.
Es geht schnell voran. Plötzlich studiert der junge Komsomol Jura, lernt die bildhübsche Raissa kennen. 1971 ist er bereits ein bedeutender Funktionär.
1974 durfte er die Einweihung des unter Stalin begonnenen Stawropol-Kanals übernehmen. 1981 wird er vom bereits senilen Breschniew geehrt. Die UdSSR befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits in rasantem Abstieg.
Das aufstrebende Mitglied des Politbüros reist nach Ungarn, um von der dortigen Agrarindustrie zu lernen. Den Ungarn gelangen in den 70er und 80er Jahren gute Erträge, sie produzierten weit über Bedarf. Die Bauern der Sowjetunion taten das Gegenteil. Ungarische
Funktionäre erinnern sich an Gorbatschows Qualitäten: »Man konnte sehen: Da war einer mit offenem, wachem Geist, er war nicht korrupt, sondern in jeder Hinsicht gerade heraus. Ein guter Zuhörer, er stellte die richtigen Fragen. Und: Er trank keinen Alkohol.
In Moskau tuschelten zur gleichen Zeit unter den Konkurrenten die ersten: ›Dieser Mann wird das Grab für unser System graben.‹«
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Hier nun gestattet sich Herzog einen Moment der Realsatire, in der filmischen Form fast Slapstick: Er schildert die rasche Aufeinanderfolge der Beerdigungen und kurzen Regierungen von Breschniew, Andropow und Tschernenko. Dann hat Gorbatschows Stunde geschlagen. Von Beginn an war klar, dass mit ihm ein neuer Wind wehte. Gegenüber dem jungen Staatschef sah die Reagan-USA plötzlich alt aus. Es ist klar, dass Gorbatschows Wunsch nach Offenheit und Restrukturierung ernsthaft war:
Er redete mit den Menschen auf der Straße, hörte ihnen zu – das waren nicht nur werbewirksame Bilder.
Und außenpolitisch begannen sensationelle Abrüstungsschritte, die bis heute ohne Beispiel sind. Der Kalte Krieg war 1985 so kalt, wie er nur sein konnte. Aber Margaret Thatcher begriff und bekannte öffentlich: »We can do business together.« Und zwischen Ronald Reagan und Gorbatschow stimmte die persönliche und damit auch politische Chemie. »That sort of
clicked« berichtet US-Außenminister Shultz über das entscheidende Treffen in Rejkjavik.
Dies ist ein Beispiel dafür, dass wirklich mal einzelne Männer Geschichte machen – es machte eben schon einen Unterschied, ob Gorbatschow oder Breschniew an der Spitze der UdSSR stand, ob sich zwei Präsidenten mögen und vertrauen oder persönlich verabscheuen. Ob einer Mut hat oder ein Feigling ist. Ein weiterer Gedanke am Rand: Bush, Thatcher, Kohl waren im Vergleich zu heute bessere
Führungspolitiker. Es waren Konservative, aber keine Vollidioten, und man wusste mehr von ihnen als Menschen, als von Trump, Merkel und co. heute.
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Nur Lech Walensa, der intellektuell eher schlicht gestrickte polnische »Arbeiterführer«, hält Gorbatschow offenkundig für einen Idioten. »Dass er glaubte, den Kommunismus zu retten.« Es ist ein Augenblick unglaublicher, wenn auch nicht überraschender Arroganz, mit dem der Pole in Herzogs Film zu sehen ist. Wenn er behauptet, »die Polen sind immer dagegen [gegen den Kommunismus] gewesen«, dann stimmt das nicht wirklich, aber vor allem formuliert Walensa da auch einen der Gründe, warum es mit dem Kommunismus vielleicht nicht so geklappt hat, wie es hätte klappen können. Man kann den Polen als Bundesgenossen nicht trauen. Sie haben immer ihre eigene Agenda – wie sie gerade in Europa wieder demonstrieren.
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Man vergisst es leicht, was in einer Lebenszeit möglich ist – was Gorbatschow zwischen 1931 und 2018 alles erlebt hat.
Die Dynamik des Zusammenbruchs nahm dann in der zweiten Hälfte 1991 rasant zu. 1991 ging Gorbatschow dann »der Kampf aus« – freimütig gibt er zu, Jelzin unterschätzt zu haben: »Ich bin nicht diese Art Typ. Ich hätte ihn vielleicht irgendwohin schicken müssen.« Und wir Zuschauer sollen dann damit sympathisieren, dass er es nicht tat. Vielleicht
sollten wir besser einsehen, dass dem Politiker Gorbatschow die entscheidenden Fähigkeiten fehlten, die Sowjetunion in dieser Krise zu erhalten. Putin wäre das nicht passiert.
Diesen Putin sehen wir einmal in diesem Film: Auf der Beerdigung von Raissa. Allerdings bleibt Herzog hier wie insgesamt meist an der Oberfläche. Etwas mehr Nachfragen, ein bisschen weniger Hagiographie und Bewunderung für Gorbatschow und der Verzicht auf den Versuch, diesen außergewöhnlichen
Politiker zum Philosophen und zum Weltweisen zu machen, hätten dem Film gut getan.
Aber Herzogs Filme handeln eben immer alle vor allem von Herzog.
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Von Anfang an konstruiert Vitaly Manskys Film Putin’s Witnesses seine sehr eigene Wahrheit. Das Jahr 1991 beschreibt der Regisseur wie folgt: »Das Volk überwand die Roten und wählte Jelzin. Russland wählte den demokratischen Weg. Mit der Freiheit kam die Wirtschaftskrise, der Tschetschenienkrieg und Jelzin wurde Zar.«
Dann geht es richtig los: Jelzin spricht im Fernsehen, es ist der 31. Dezember 1999. »Ich möchte Euch um Vergebung bitten.« Er klingt
besoffen, die Stimme leiert. »Es stellte sich alles als schwieriger heraus, ich habe dran geglaubt, ich hab getan, was ich konnte. Ihr verdient Glück.« Und aus dem Nichts heraus erklärt der russische Präsident seinen Rücktritt mit sofortiger Wirkung. Als amtierender Präsident rückt verfassungsgemäß nach: Vladimir Putin.
Das ist die Basis dieses Films: Vitaly Mansky begleitete Putin in den folgenden Monaten mit der Kamera bei seinem Wahlkampf, der offiziell gar keiner war. Aus dem
Material entstand ein Film für das russische Fernsehen. Er wurde 2001 ausgestrahlt. Mansky nimmt sich das Material noch einmal vor, montiert es zusammen mit vielem, das unveröffentlicht blieb, zu etwas Neuem. Ein faszinierendes Dokument.
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Schon an den ersten Tagen machte Putin alles das klar, wofür ihn manche lieben und andere verdammen. Putin sagt (und hier halten wir uns wörtlich an die englische Übersetzung im Film): »Our main goal is to make people believe in everything we say and do. That ours is a heartfelt position dictated only and solely in consideration of the national interests. Solely that. This is the key to success. If people believe in it. This is the main thing.«
Und Mansky kommentiert:
»Did you get it? The task is to convince the Russian people, that national interests are more important than the individual.« Er meint das kritisch. Aber sollte nicht jeder Politiker die Interessen des Ganzen, der Gesellschaft und des Staates über die Interessen einzelner Individuen stellen?
Putin brauchte keine Wahlkampagne, er war ohnehin auf allen TV-Kanälen omnipräsent. Er besuchte alle Regionen und Städte, ohne seine Kandidatur erklärt zu haben, ließ sich
öffentlich in Wolgograd mit den Stalingrad-Veteranen sehen und dann mit Tschetschenien-Veteranen, zeigte sich mit Tony Blair in der Oper in Petersburg, wo dann – eine schöne Szene – neben dem roten Teppich alte Weiber stehen und brüllen: »Leningrad«, und junge Männer »NATO go home!« Er besucht auch seine alte Lehrerin, die ihn einst förderte, und deren besonderer Liebling er war. Deren Mann kommentiert, was man auch als Motto von Putins folgenden Amtszeiten setzen könnte:
»The state is like a garden: You have to destroy the weed so that something worthwhile grows.«
Der Beginn von Putins Wahlkampagne lag einige Monaten vorher. Man könne sie, so Mansky, ganz genau auf den 8.9.1999 um 11.59 Uhr setzen. Da gab es einen verheerenden Bombenanschlag auf ein Moskauer Wohnhaus-Gebäude. Erst 22 Tage vorher war Putin Premier geworden. Er musste »Stärke zeigen«, und das tat er. Mansky fügt gleich ein Dementi zu dem hinzu, was sein Film in den Raum stellt:
»Nur um das klar zu machen: Weder damals noch heute kann ich an Putins persönliche Verstrickung glauben.« Aber er verweist darauf, dass die Armee kurze Zeit vorher ähnlichen Sprengstoff eingesetzt hatte.
Während dieser Zeit redesignete Putin sein Image: Aus dem Mann mit der starken Hand wurde der Mann mit der glücklichen Hand. Wählerwerbung hin oder her – das Schlüsselelement von Putins Kampagnenerfolg war seine Stützung auf die Armee und die vermeintliche Bedrohung
der Sicherheit Russlands.
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Interessant sind Manskys Besuche bei Jelzin am Wahlabend. Der Expräsident guckt fern. Irgendwann erscheint Gorbatschow auf den Fernsehschirmen. Jelzin sagt: »Jungs, macht die Kamera aus.« Denn während seiner Präsidentschaft war sein Quasi-Vorgänger nicht zu sehen. Die Kamera bleibt aber an. »Mich kotzt der Typ an.« sagt Jelzin. »Wie lange müssen wir dem noch zuhören?«
Mit Bildern von Putins privater Feier am Abend seiner ersten Wahl stellt Mansky auch die zentralen Personen in
Putins Umfeld vor. Wir sehen da Mikhail Lesin, den Presse-Minister und Chef einer PR-Agentur, der RT gründete und 2015 von Unbekannten ermordet wurde; Gleb Pavlovsky, den ehemaligen Chef-Berater des Kreml, der seit 2012 in Opposition zu Putin steht; Ksenia Ponomaryova, Chefin des
Wahlkampfstabs, die kurz nach der Wahl in Opposition ging und 2016 mit nur 54 Jahren starb; Mikhail Ksyanov, den ersten Premierminister Putins, später in der Opposition und durch einen sogenannten öffentlichen »Sex-Skandal« von unbekannten Kreisen als Politiker ausgeschaltet; Valentin Yumashev, der 2002 Jelzins Tochter Tatjana heiratetete; und Vladislav Surkov, ehemaliger Chef-Ideologe des Kreml und bis heute »Graue Eminenz«.
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Mit anderen Worten: Man erfährt ungemein viel in diesem Film. Dies ist Dokumentarfilmkino und Aufklärung at its best. Eine Lehre im genauen Hingucken, aber auch in der Doppeldeutigkeit der Bilder.
Nie denunziert Mansky sein Objekt, aber er verehrt Putin auch nicht und bleibt auf Augenhöhe. So besticht seine Darstellung von Putins Aufstieg im Jahr 2000 vor allem durch Neugier für Widersprüche.
Interessant sind auch die Gespräche mit Putin gegen Ende des Films. Wir erfahren
da: »Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts«.
Der Nachfolger distanziert sich von seinem Schöpfer Jelzin. Putin reagiert auf die deprimierenden Erfahrungen während der Jelzin-Jahre. Jelzin und seine Entourage haben mit ihrem Markt-Bolschewismus alles abgeschafft und abgewickelt und ausverkauft nach 1991. Was blieb, war ein Scherbenhaufen. Putin hat an dessen Stelle allmählich wieder etwas hergestellt. Die Armee bekommt ihre Flagge
des Sieges über den Faschismus zurück. Und das Volk seine Hymne. Gegen die Rückkehr zur sowjetischen Hymne gab es eine Petition. Putin verteidigt die Entscheidung und zeigt sich hier als kluger Staatsmann: »Warum können wir bei der Hymne nicht an den Sieg im Zweiten Weltkrieg denken, statt an den Gulag? Warum müssen wir die Musik mit den schlechtesten Aspekten des Sowjet-Lebens verbinden? Die Mehrheit hat eine gewisse Nostalgie. Es ist nötig, das Vertrauen der Bürger in das
Establishment des Staates zu erneuern.«
Und es war der gleiche Autor, Alexander Michalkov, Vater des Putin-treuen Film-Regisseurs Nikita Michalkov, der 1942 den stalinistischen Text zur Musik schrieb, 1953 die Neufassung und 2000 die dritte Version. Das sind die wahren Kontinuitäten Russlands.
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Später kommt Putin noch einmal auf die Hymne zurück: »Man kann nicht immer das tun, was die Leute wollen. Ich habe keine Angst, Vertrauen zu verlieren. Es gibt Entscheidungen, die sind im Interesse des Staates. Egal ob man zustimmt oder ablehnt, man muss verstehen.« Putin macht klar, dass Politik mehr ist als die Kunst des Möglichen.
Der Präsident gibt zu: »Elemente der Autokratie sind aus der Vergangenheit in die Gegenwart gewandert. Das kann uns nicht gefallen, aber es ist sehr
schwer, dagegen anzukämpfen.«
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Diese zwei sowjetisch-russischen Geschichten, gewissermaßen von Stalin zu Putin, zeigen, dass jedes Zusammenspielen und Durcheinanderwerfen von Fakten und Fiktion vermintes Terrain ist – seltenst produktives Zusammenspiel.
Es gibt aber einzelne Filme, wo Fiktion und Fakten, Poesie und prosaische Praxis sehr gut und konkret ineinandergreifen. Zum Beispiel der Schweizer Essay-Film »Chris the Swiss« von Anja Kofmel über einen Korrespondenten im jugoslawischen
Bürgerkrieg. Dies war auch eines der wenigen Beispiele für die gelungene Verbindung von Dokumentarfilm und Animationsfilm – Animation trägt »DOK Leipzig« zwar im Titel, de facto fristet sie aber eher ein Nischendasein am Rand des Festivals.
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Unter rund 300 viel zu vielen Filmen in Leipzig gab es klarerweise sehr viel Verschiedenes zu sehen – oft vermisst man in neueren Werken das Interesse für Geschichte, Politik und gesellschaftliche Macht. Viele zeitgenössische Dokumentarfilme bieten einen allzu individualisierten Blick auf das Leben der Menschen, sie bieten viel Moral, aber wenig Analyse. Als ob das einzelne Individuum so interessant wäre.
Strukturen kommen weniger vor, ebenso wie sich kaum
Dokumentarfilme über Historisches im Programm finden. Gibt es sie nicht, oder werden sie nicht ausgewählt? Wird der Dokumentarfilm, vielleicht auch durch die Finanzierungs- und Förderbedingungen, geschichtsvergessen?
Immerhin die hervorragenden Retrospektiven zu Lutz Dammbeck und Ruth Beckermann widerlegen manche dieser Gedanken.