Vertreibung aus dem Paradies |
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Bernardo Bertolucci, 2011 | ||
(Foto: © Elisa Caldana / Cinemazero) |
»Fragt man zehn Leute, die aus dem Kinosaal kommen, was die Geschichte des Films war, wird man zehn verschiedene Versionen hören.« -Bernardo Bertolucci
Er hatte eine Brummbärstimme und einen massigen Körper, und doch strahlte Bernardo Bertolucci etwas Feines, Zartes, fast Schüchternes aus, eine Sensibilität und Intelligenz, die auch seine Filme prägt. Bertolucci steht für ein Kino, das gleichermaßen sinnlich und intellektuell ist.
1941 in Parma zur Welt gekommen, wurde Rom zu seiner eigentlichen Heimatstadt. Es war eine bürgerliche Kindheit, der Vater war Dichter und Journalist, und Bertolucci wuchs früh hinein in die kulturelle Elite des Italien der Nachkriegszeit, das vom Antifaschismus und dem »Historischen Kompromiss« zwischen Katholizismus und Sozialismus geprägt war. In der römischen Kultur-Szene lernte er unter anderem die Schriftsteller Alberto Moravia und Per Paolo Pasolini kennen. Letzterer wurde zu einer Art geistiger Vaterfigur (aber der Großvater dazu heißt Visconti; s.u.). Die Regieassistenz bei Pasolinis frühem Film »Accatone« öffnete ihm den Weg ins Kino, später verfilmte er Moravias Roman »Der Konformist« mit Jean-Luis Trintignant in der Titelrolle.
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»Bertolucci hält das Erbe von Pasolini als Fackel in die Höhe, um zu verbergen, dass er ästhetisch als Erbschleicher Viscontis in die Filmwelt kam.«
Karsten Witte »Der späte Manierist«; 1982 (= zentraler Essay im Bertolucci-Band der blauen Hanser-Reihe)
Als Filmemacher war Bertolucci ein Repräsentant der Generation nach dem Neorealismus, für den er zu jung war. In seinem opulenten, manchmal epischen, immer die Oberflächen schätzenden Stil war er einem Visconti und Pasolini mehr verpflichtet als Rossellini oder de Sica.
Das bedeutete sowohl, dass der Einfluss der Nouvelle Vague für ihn wichtig wurde, wichtiger als der der Landsleute. »Als ich das erste Mal Regie führte, 1962 mit 21 Jahren, , kamen Journalisten. Ich hatte noch nie Interviews gegeben, und naiv und brutal wie das meinem Alter entsprach, sagte ich: 'Das Interview führen wir natürlich auf Französisch.' Das waren alles Italiener, Römer und so wollten sie wissen warum. Meine Antwort: 'Weil Französisch die Sprache des Kinos
ist.'«
Bertolucci liebte auch das Amerikanische Kino, auch das Hollywood der 50er Jahre. So arbeitete er mit Schauspielern wie Marlon Brando, Burt Lancaster und Robert de Niro; später noch Liv Tyler und Michael Pitt.
Das Amerikanische liebte er so sehr, dass er sogar einen Western schrieb. Wer weiß schon, dass das Drehbuch zu dem Meisterwerk seines Kollegen Sergio Leone, Spiel mir das Lied
vom Tod (1968) von ihm stammt. Aber wer es weiß, der erkennt Bertoluccis Liebe zum Überdrehten, Hyperrealistischen, zur Künstlichkeit der Oper, einer Künstlichkeit, die den Dingen unter die Haut kriecht.
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''Politics was part of our life. People don’t seem involved or passionate anymore; politics is something distant.''
-Bernardo Bertolucci, 2014
Trotz mehrerer wichtiger Filme vor 1970 – etwa Vor der Revolution und der Borges-Verfilmung Die Strategie der Spinne – steht Bertolucci vor allem für das Kino, das die 68er Erfahrung aufzuarbeiten versucht und die politische Gemengelage im Italien der 70er. in seinen Filmen verschmelzen Marxismus und Psychoanalyse, antimarxistischer Individualismus und die Lust auf die Entdeckung der Welt außerhalb Europas.
Die wird in seinem berühmtesten Film deutlich: wurde 1987 ein Welterfolg, und gewann unter anderem neun Oscars: Als erster westlicher Regisseur durfte Bertolucci in Pekings »verbotener Stadt« drehen, dem alten Kaiserpalast. Seine Bilder, wie immer gestaltet von Vittorio Storaro, hielten auch ein China fest, das nach den Roten Garden dann der kapitalistischen Hypermodernisierung seit 1989 zum Opfer fiel, und erweisen sich so auch von enormem historischen Wert. Die Verfilmung von Pu Yis Autobiografie »Ich war Kaiser von China« entdeckte den Fernen Osten für das europäische Kinopublikum, und zeigte die Verbannung des 18-jährigen Kaisers aus der »Verbotenen Stadt« als Vertreibung aus dem Paradies. Versteckt richtete sich das auch an die Freunde und Weggefährten: Als eine sehr differenzierte Betrachtung der Revolution, die in eine Abrechnung mit dem Maoismus der Linken mündete und ihrer naiven Begeisterung für die Kulturrevolution. Damit nahm Bertolucci auch das neue Kino der 5.Generation Chinas vorweg: Erst 1989 erlebte es mit Zhang Yimou und Chen Kaige seinen Durchbruch.
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»Natürlich geht es in dem Film um Sex. Aber mehr noch um den Drang des Besitzen-wollens. Dieser Drang gipfelt in der gegenseitigen Zerstörung. Man zerstört das, was man liebt, um es ganz zu besitzen.«
»Einzig der Sexus ist in der westlichen Gesellschaft noch lebendig. Der ganze Rest ist tot: die Bourgeoisie, die Ehre, die Orden, die Familie, die Ehe und sogar die Liebe selbst.«
-Bernardo Bertolucci über Der letzte Tango in Paris
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Vorausgegangen waren zwei andere Meisterwerke: Der letzte Tango in Paris, der weit mehr ist als ein Skandalfilm zur »Sexuellen Revolution«, sondern ein großes, missverstandenes Werk der Filmgeschichte: Eine Reflexion über entfremdetes, deformiertes, todessehnsüchtiges Leben, ein Reigen über Sex und Tod.
»The Movie Breakthrough has finally come« schrieb immerhin Pauline Kael
im »New Yorker« – dies nur, um alle neueren Legenden zu widerlegen, nach denen dies »kein besonders guter Film« sei, sondern eine »Macho-Seifenoper«, »was auch damals erkannt wurde, als die Würde der Frau noch nicht so viel galt...«
Wer den Film heute sieht, und bei Sinnen ist, der erkennt die seismographische Präzision, mit der hier die Melancholie der 70er festgehalten wird, die man schon als Kind jener Jahre spüren konnte, der Sieg des Konsums und der Beginn der
Sinnlosigkeit. »Nach der Revolution« hätte dieser Film auch heißen können.
Zum Zeitgeist, den der Film erstaunlich genau repräsentiert, gehört auch ein anderes Verhältnis zur Sexualität und zu den Beziehungen von Männern und Frauen. Die recht unverblümten Sexszenen machten den Film zum Skandalstück. Was dabei genau zwischen den Hauptdarstellern Maria Schneider und Marlon Brando am Set vorging, ist gegenüber der künstlerischen Leistung des Films nicht zweit-, sondern
drittrangig.
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Noch viel wichtiger als Der letzte Tango in Paris und wohl Bertoluccis bester Film: 1900, im Original Novecento, was viel umfassender ist, und mehr meint, denn es nimmt das ganze 20. Jahrhundert in Blick und die gleichnamige italienische Künstergruppe zur Zeit des Faschismus, ist noch einmal ein anderer Versuch politisches und revolutionäres Kino zu produzieren: »Mein Ziel war es, einen politischen Film endlich einmal so populär zu machen, dass er von den Massen gesehen wird. Denn nur so kann ein politischer Film seiner Aufgabe gerecht werden: Eben eine bestimmte Ideologie optimal zu verbreiten.«
So schickt er Robert de Niro und Gerard Depardieu, die damals noch keineswegs so berühmt waren, wie heute, in den Klassenkampf gegen Donald Sutherland. Novecento ist ein Gesellschaftsporträt Italiens zwischen 1900 und 1945, voller Liebe für den ländlichen Norden der Po-Ebene. Es geht darin um das Verhältnis von Oberklasse und Unterklasse. Wie in Viscontis Der Leopard spielt Burt Lancaster einen Großgrundbesitzer – die Besetzung macht Novecento zu einer Art Fortsetzung dieses Films, und zugleich zu dessen Antithese. Denn Bertolucci erzählt hier vom Wandel der Geschichte, nicht von Beständigkeit. Und er erzählt vom Faschismus, der Ober- wie
Unterklasse an die Träume wildgewordener Kleinbürger verrät.
Novecento zeigt, wie der Faschismus aus der Ignoranz der bürgerlichen Mittelklasse groß wird.
Parallel zu den Dreharbeiten drehte Pasolini ein paar Kilometer weiter Die 120 Tage von Sodom. Zwischen der Arbeit haben sich die beiden Teams regelmäßig getroffen – zu Fußballmatches! Wie gern wäre man dabei gewesen.
2003 entstand noch einmal ein Meisterwerk: Mit Die Träumer träumte sich Bertolucci ins Paris des Mai ‘68 und damit in seine eigene Jugend zurück. Die Jugend entdeckte dort zwar nicht den »Neuen Menschen«, aber das Kino. Noch einmal sah man hier eine Erzählung vom Paradies und der Vertreibung aus ihm.
Und die visuelle Summe einer Erfahrung, die er viel früher treffend
formuliert hatte: »Die wichtigste Entdeckung, die ich nach den Ereignissen vom Mai 1968 machte, war, dass ich die Revolution nicht für die Armen gewollt hatte, sondern für mich. Die Welt hätte sich für mich ändern sollen.«
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»This is something that I dream about: to live films, to arrive at the point at which one can live for films, can think cinematographically, eat cinematographically, sleep cinematographically, as a poet, a painter, lives, eats, sleeps painting.«
-Bernardo Bertolucci
Nicht alle Filme Bertoluccis waren ähnlich bedeutend. Was auffällt in der Rückschau, ist, dass auch die schwächeren von den zentralen Themen des Regisseurs durchdrungen sind: Immer wieder das Bürgertum. Immer wieder die sympathisierende Parteinahme für de Jungen. Immer wieder der Inzest. Den sah der Marxist und Freudianer wohl mehr symbolisch als nur konkret. In dem Sinn sind auch Alfredo und Olmo in Novecento Brüder, Paul und Jeanne in Der letzte Tango in Paris Vater und Tochter. Konkret wird es auch in , Vor der Revolution, Die
Träumer, Ich und Du. Nur an Zufall mag ich da nicht glauben.
»Als ich Pasolini 1969 erzählte, dass ich mit einer Psychoanalyse beginne, war er sehr erschrocken. Er sagte zu mir: Du riskierst, Dein künstlerisches Talent zu verlieren. Mach es wie ich: Lies sein ganzes Werk. Das ist genug.« Hier aber emanzipierte sich Bertolucci vom Verehrten: »Die Psychoanalyse ist wie eine
zusätzliche Linse: Zeiss, Panavision, Sigmund Freud.«
Bemerkenswert, dass die Gesellschaft und die Geschichte in manchen seiner Filme eine große Rolle spielen, in anderen aber gar keine: In Der letzte Tango in Paris und Die Träumer bleibt sie komplett außen vor, der Schauplatz
ist das Innere einer großen bürgerlichen Wohnung.
Aber selbst und Novecento sind am Ende sehr intime, private Geschichten. Mehr als ein Hauch von Realitätsflucht.
Der Verlust der Illusionen ist das Zentrum von Bertoluccis Werk, ein Verlust, den er immer wettzumachen versucht, durch Form. Aber zu stark ist der Sog jener Leere, die mit den Faschismus und dem Konformismus
verbindet. Die reaktionäre, konsumistische Seite des Bürgerlichen hat gesiegt über die revolutionäre. Das kalte Ende der Romantik, die endgültige Vertreibung aus dem Paradies.
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Aus Bertoluccis offenen Bildern quillt eine Sinnlichkeit, wie sie in dieser überwältigenden Kraft auf den Leinwänden heute eher selten anzutreffen ist: Er war ein Magier der Sinne. Seine Filme traktieren unsere Rezeptoren sehr bewusst und sehr geschickt. Bertolucci hatte auch ein sicheres Gespür für die Aura von Originalschauplätzen: Man kann beim Betrachten seiner Filme fühlen und riechen, dass man vor Ort mit dabei ist.
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In seinem sehr schönen Nachruf in der ZEIT schreibt Georg Seeßlen treffend: »Bernardo Bertoluccis Filme haben stets betört, berauscht, überwältigt, inspiriert, erregt. Manchmal ... folgte auf den Aufruhr der Sinne und der Gedanken ein Gefühl von Gleichmut, von Aussicht auf Veränderung, meistens aber von Verzicht, Lähmung, Abschied. Alles in allem verlässt man nach Bertolucci-Filmen das Kino (und nur dort gehören sie hin) stets mit einer eigentümlichen Wehmut. Schön war das alles,
aber um welchen Preis? Das Scheitern zu begreifen? Hinter die Inszenierungen zu blicken? Dem Tod bei der Arbeit zuzusehen?
Was Luchino Visconti für das italienische Nachkriegskino war, die Verbindung von bürgerlicher Dekadenz und revolutionärer Energie, das war Bernardo Bertolucci für die Zeit nach 1968. Die wahre Schönheit war immer nur vor der Revolution, und doch musste sie, die Revolution, nicht bloß als politisches Ereignis, sondern auch in den Bildern und Worten
vollzogen werden. Darum konnten beider Filme, bei allen Unterschieden, von nichts anderem handeln als von der Hoffnung auf das Leben und der Sehnsucht nach dem Tod.«
Und Fabian Tiedke gräbt in der taz das rührende Gedicht »An einen Jungen« aus, das Pier Paolo Pasolini dem jungen Bernardo Bertolucci 1958 gewidmet hat:
»Mit dem verwirrten Lächeln dessen, der die Schüchternheit / und die Bitterkeit mit Heiterkeit erträgt // kommst Du zu den erwachsenen Freunden, voller Stolz / bescheiden, brennend stumm, sitzt du / aufmerksam unseren Ironien, unseren Leidenschaften
lauschend. / Uns zu imitieren und uns fern zu sein, bereitest Du Dich vor / Dich beinahe Deines festlichen Herzens schämend / Sie gefällt Dir, diese Welt!«
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»Man kann einen Film mit einem Piratenschiff vergleichen. Er hat sein eigenes Leben und ich bin der Kapitän dieses Schiffs. Ich muss mich nach dem Wind richten.«
-Bernardo Bertolucci
Was bleibt neben diesen Werken von Bertolucci? Weniger ein Stil, außer dem Klassizismus, dem Willen zum Epischen, zum monumentalen Malen mit der Kamera,
sondern ein Interesse und eine Haltung: Die Würde der Melancholie, die Lust an Intellektualität und den Gaben der Welt, die Sehnsucht nach Jugend.