Proust bei der Feuerwehr |
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Western, Famille et Communisme konnte nachhaltig beeindrucken | ||
(Foto: Ji.hlava) |
Von Michael Hack
Schon seit Jahren ist die Autobahn von Prag nach Brünn nur eingeschränkt befahrbar – so sehr, dass der Fahrer, der die bunt zusammengewürfelte japanisch-tschechisch-britisch-deutsche Reisegruppe nach Jihlava bringen soll, dem Stau für einige Kilometer auf Feldwege ausweichen muss. Die Reise nach Jihlava, auf halber Strecke zwischen den beiden größten Städten Tschechiens gelegen, mutet daher nach einer größeren Expedition an, als es die Entfernung eigentlich geböte –
was aber ganz und gar dem Gefühl der Entlegenheit entspricht, das sich bei der Ankunft einstellt.
»Ji.hlava«, wie das größte tschechische Dokumentarfilmfestival korrekt heißt, ist eine Ausnahmeerscheinung: Vor über zwanzig Jahren von einer Gruppe Studenten gegründet – sie leitet es noch heute –, an einem Ort, den man gemeinhin als Provinz bezeichnen würde, hat es sich zu einer wagemutigen Veranstaltung entwickelt, die zu den Gründungsmitgliedern der
»Doc.Alliance« zählt, dem Verbund der großen europäischen Dokumentarfilmfestivals.
Dabei hat »Ji.hlava« einigen Versuchungen widerstanden, denen Festivals auf einem solchen Weg regelmäßig begegnen – zuvörderst derjenigen, Bedeutung durch eine vermeintliche Popularisierung des Programms zu erreichen. Der Wettbewerb des Festivals folgt konsequent der Lust am Experiment. Talking Heads sucht man hier vergeblich. Seine Preis-Jury besteht aus einer einzigen Person, in diesem Jahr dem polnischen Regisseur und Produzenten Krysztof Zanussi.
Viele der Filme scheinen Versuchsanordnungen an der in der Dokumentarfilmszene zur Zeit viel beschworenen Grenze zur Fiktion. Da wäre zum Beispiel Albertine a disparu, von Véronique Aubouy, in dem die Regisseurin der Crew einer französischen Feuerwehrstation Sätze aus Prousts »Suche nach der verlorenen Zeit« in den Mund legt. Die Irritation funktioniert anfangs tatsächlich erstaunlich gut. Das Alter Ego des Erzählers rutscht eine Feuerwehrstange herunter und erzählt seinen empfindsam zuhörenden Kolleginnen vom Verdacht der homoerotischen Umtriebe seiner Lebensgefährtin, der Geschichte des fünften Bands des großen Romanwerks. Die Laien rezitieren zudem wortsicher. Dieses Moment der Irritation verschleift sich allerdings recht schnell, und spätestens als Proust-Bände und -Memorabilia im Regal des Feuerwehrhauses auftauchen, ist er einer glatt ablaufenden Rezitationsroutine gewichen.
Wesentlich interessanter und plastischer tritt diese Grenze in Sanaz Azaris Faites sortir les figurants in Erscheinung. Azari begleitet darin mehrere Gruppen von Statisten zu Filmsets. Der Film beginnt mit prägnanten, aber nicht ungewöhnlichen Beobachtungen von Dreharbeiten: Aufbau, Kostüme, Maske, dann Warten, kurze Dreharbeiten, fertig. Doch langsam nehmen diejenigen, die im Film keine Persönlichkeiten haben, Konturen an. Nicht nur lauschen wir Gesprächen über die Gründe, die sie an dieses Set gebracht haben, die Statisten kommentieren auch das Filmgeschehen. Das wird besonders prägnant in den Szenen, in denen die migrantischen Komparsen sich darüber austauschen, welches Bild von sich sie vor der Kamera (der anderen) verkörpern sollen. Azari stellt der glatt laufenden Maschine der Bilderproduktion gleichsam einen Chor zur Seite und damit die überkommenen Kategorien in Frage – hier die dokumentarisch gefilmten Schauspieler am Set, dort das Kunstwerk Film –, indem sie sie gleichsam essayistisch in einen Dialog bringt, ohne dazu freilich eines erläuternden Kommentars zu bedürfen, wie es in diesem Genre sonst oft üblich ist.
Auch Western, Famille et Communisme von Lauren Krief kreist um die Fiktion, die Herstellung von Bildern. Die Frau des Regisseurs hat den Auftrag zu einer künstlerischen Fotoserie aus dem Iran bekommen und reist nun mit der Familie in einem Wohnmobil durch das Land. Das Ganze hat den Charakter eines visuellen Notizbuchs, in dem sich politische Reflexionen mit Alltagsbeobachtungen und inszenierten Sequenzen abwechseln. Das macht zunächst einmal große Lust beim Zuschauen: lange verweilt Krief bei einer Schafherde, die mit dem Wasserschlauch ihrer Tränke spielt und dann von einem fußlahmen Hund durch die Steppenlandschaft geführt wird. Man beobachtet seine Frau dabei, wie sie die Tochter in einem unterirdischen Raum, der nur von einem konzentrierten Lichtstrahl erleuchtet wird, fotografieren will. Während der Vater mit den Töchtern in der kargen Wüstenlandschaft des Orients Westernsequenzen nachspielt. Der Stil der Bilder wechselt von beiläufig aufgenommenen Alltagsbeobachtungen bis hin zu spielerisch stilisierten Sequenzen mit Über- oder Unterbelichtungen. Die Betrachtungen eines iranischen Freunds über die Verfasstheit und die Zwänge der iranischen Gesellschaft geben dem Bilderreigen einen weiteren politischen Resonanzraum. So entsteht langsam ein Familienportrait, das im Kern zeigt, wie Erfahrungen zu Erinnerungen werden, wobei die Spannung zwischen Fotografie und Film als Metapher für die verschiedenen Aggregatzustände dient. Die Gerinnung gelebten Lebens ist dabei ein lustvoller Prozess, der letztlich auch auf die Erfahrung des Kinozuschauers verweist. Notwendigerweise bleiben bei einem solchen Tagebuchfilm viele Stränge offen, notwendigerweise hat er auch immer eine esoterische Seite. Allerdings irritiert Kriefs Verweben der iranischen Erzählung mit immer wieder eingestreuten Fragmenten von Demonstrationszügen in Paris, die eine Bedeutungsebene suggeriert, die wir nie verorten können. Dennoch bleibt sein Beitrag einer der Höhepunkte des Wettbewerbs.
Das gilt auch für Jacques Percontes Albâtre. Hier geht es nicht mehr um die Herstellung von Bildern, um Fiktion oder Narration, es geht um ihre Auflösung. Entstanden als Auftragswerk in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Carlos Grätzer, kostet Perconte hier das Ineinanderfließen organischer und digitaler Strukturen aus. Albâtre beginnt mit der Aufnahme der Brandung, deren sich kräuselnde Wellen und Schaumkronen sich durch Kompression langsam in digitale Artefakte verwandeln. Wie das Kommen und Gehen der Wellen zieht sich diese Kompression und Dekompression durch den ganzen Film. Bilder werden übereinandergelagert, verschwimmen – Wortspiel beabsichtigt – ineinander, wobei die Bewegungen von Vögeln oder Schiffen oftmals als Auslöser der Transformationen dienen, indem sie Schneisen in das digitale Rauschen schneiden. Albâtre ist nicht nur eine Meditation über die materielle Beschaffenheit des Bildes im digitalen Zeitalter, sondern auch eine über unsere Naturbilder, über die Naivität, die unseren visuellen Allgemeinplätzen idyllischer Landschaften innewohnen. Unvermittelt musste ich an das schöne Gedicht »Mistral« von Eugenio Montale denken, das mit den Versen endet: »Schau: / Unter dem gedrängten Blau / des Himmels zieht ein Meeresvogel dahin / und er steht nie still, denn in allen Bildern steht geschrieben / 'weiter fort'«.
Auch in »Ji.hlava« setzt man beim Wettbewerb freilich auf Welt- oder internationale Premieren, was die Auswahl vermutlich etwas einschränkt. So wird aus vielen sehr sehenswerten Beiträgen nicht wirklich ein Ganzes; sehr freie Beiträge wie der genannte Albâtre etwa stehen neben etwas ungelenk sich an narrativer Dokumentation versuchenden Filmen wie dem knackig betitelten »Until Porn Do Us Part« und Komplettausfällen wie dem französischen Nu, einem unerträglich kitschigen Reigen klischeebeladener Bilder menschlicher Eingriffe in die »unbelassene Natur«, die von einem nicht minder pathetischen und intellektuell dürftigen Voice-Over begleitet werden.
Auch jenseits des Wettbewerbs hielt »Ji.hlava« viel Interessantes bereit, eine Reihe zum libanesischen Essayfilm etwa oder eine sorgfältig kuratierte Retrospektive zum Direct Cinema. Beim Durchstöbern des gewaltigen Katalogs wird aber schnell klar: einer Versuchung hat das Festival nicht widerstanden – dem Aufblähen des Programms. Neben dem Hauptwettbewerb steht einer für Erstlingswerke, einer für mittel- und osteuropäische, einer für tschechische Arbeiten, einer für Hochschulfilme und für Kurzfilme. Ganz zu schweigen von drei thematischen Reihen zu Wissen, Natur und Politik. Dazu kommen Masterclasses, Diskussionsveranstaltungen, sowie Sektionen zu VR und Videokunst. Das kann, wie ein Blick auf die eher lieblos präsentierten Videoarbeiten zeigt, nicht immer auf hohem Niveau geschehen.
Wer die Suche und das Risiko nicht scheut, kann in »Ji.hlava« Entdeckungen unkonventioneller Arbeiten machen, die anderswo durch das Raster fallen würden. Und in jedem Fall eine pittoreske Stadt entdecken, die sich für sechs Tage vollständig in den Dienst einer ganz und gar nicht provinziellen Sichtweise auf das Kino stellt.
Transparenz-Mitteilung:
Der Autor wurde für die Moderation eines Panels im Rahmen des Industry-Programms vom Festival eingeladen.