Die Jugend von damals und heute |
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Take Me Somewhere Nice von Ena Sendijarević |
Von Holger Twele
Ein klarer Trend bei den Wettbewerbsbeiträgen im 19. Jahr von goEast: Weniger Altmeister als viele junge Filmschaffende waren diesmal mit ihren Werken vertreten, wobei Generationenkonflikte unterschiedlichster Art im Fokus standen. Der aktuell zunehmende Widerstand junger Menschen gegen die Politik und die Entscheidungen der älteren Generation ist allerdings kein rein osteuropäisches Phänomen. Doch »im Osten wird der Konflikt noch dadurch verschärft, dass die Generationen in unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Systemen aufgewachsen sind«, so Festivalleiterin Heleen Gerritsen. Zusammen mit den sechzehn Wettbewerbsbeiträgen waren diesmal 109 Filme aus 39 Ländern zu sehen, wobei auch dem Jubiläum dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer mit einer eigenen Reihe und einer erstmaligen Kooperation mit dem Filmfestival Cottbus Rechnung getragen wurde.
Bei einem so eindeutigen Trend in diesem Jahr überraschte es wenig, dass der Film, der geradezu exemplarisch für die von tiefer Verzweiflung geprägte, aber immer noch sporadisch aufflackernde Lebenskraft der Jugend steht, von der Jury auch mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde. Der russische Debütfilm Acid von Alexander Gorschilin dreht sich um die Freundschaft zwischen Petya und Sasha. Nach dem bewusst in Kauf genommenen Suizid eines Bekannten im Drogenrausch droht ihre Freundschaft zu zerbrechen. Ohne Rückhalt seitens der Eltern, die ausschließlich ihre eigenen Interessen verfolgen und um ihrer persönlichen Karriere willen keinerlei Verständnis für den Nachwuchs aufbringen, treiben die Freunde orientierungslos vor sich hin, versuchen vergeblich, mit Partys, Sex, Drogen und Selbstverstümmelung durch Säure ihrer lähmenden Vereinsamung zu entkommen. Am Ende schrecken sie auch nicht davor zurück, Unschuldige für ihr eigenes Dilemma büßen zu lassen. Es ist die filmisch radikal und konsequent umgesetzte Zustandsbeschreibung einer verlorenen Generation, selbst wenn man sich davor hüten sollte, das zu pauschalisieren.
Strip and War von Andre Kutsila, eine Koproduktion zwischen Weißrussland und Polen und von der Fipresci mit dem Preis für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet, weiß dem Thema beispielsweise schon eine weitaus positivere Variante abzugewinnen. Anatoliy, etwa im gleichen Alter der russischen Jugendlichen, lebt bei seinem Großvater, einem pensionierten Armee-Offizier, der noch ganz von den Idealen der Pflichterfüllung und des Dienstes für das Vaterland erfüllt ist. Er kann nicht verstehen, warum sein Enkel das Ingenieurstudium abgebrochen hat, um in Striplokalen aufzutreten und seine Karriere als Tänzer voranzutreiben. In einer einzigen Einstellung erfasst die Kamera beide Protagonisten, die von einer dicken Mauer voneinander getrennt sind und sich in ihrem Wohnbereich ihre eigene Welt aufgebaut haben. Trotz aller Unvereinbarkeiten und gegenseitigen Vorwürfe reden die Generationen jedoch weiterhin miteinander, während draußen auf der Straße bereits wieder die Panzer rollen.
Moments (CR, Slowakei) von Beata Parkanová hat zwar keinen Preis gewonnen, wurde aber immerhin vom 3sat-Medienpartner des Festivals angekauft und soll ein Jahr später ausgestrahlt werden. Die junge Protagonistin des Films ist außerordentlich hilfsbereit und pflichtbewusst, verkörpert in gewisser Hinsicht die Ideale der kommunistischen Gesellschaft, selbst wenn eine ähnliche Geschichte auch anderswo in Europa denkbar ist. Gedankt wird Anežka diese Hilfsbereitschaft aber nicht, ganz im Gegenteil. Da sie offenbar nicht in der Lage ist, ihre Grenzen deutlich zu ziehen, wird sie von ihrer Familie und von ihren Liebhabern gnadenlos ausgenutzt. Den Redeschwall der Großmutter, der den dementen Großvater selbst noch im Pflegeheim zu einer heftigen körperlichen Reaktion veranlasst, lässt sie widerstandslos über sich ergehen, der getrennt lebende Vater denkt nur ans Materielle und die von allen allein gelassene Mutter versinkt in tiefer Depression und bemuttert ihre Tochter wie ein Baby. Was sie selbst will, weiß die junge Frau leider nicht. In einer Kranfahrt am Ende eröffnet der Film als Zeichen der Hoffnung immerhin eine neue Perspektive, eine andere Sicht auf die Realität.
Obwohl die Generationenkonflikte natürlich alle im Rahmen der Familie spielen, setzen sich einige Wettbewerbsbeiträge noch konkreter mit zerstörten oder geretteten Familienmodellen auseinander. Home Games (Ukraine, Frankreich, Polen) von Alisa Povalenko, die dafür den Preis des Auswärtigen Amts für kulturelle Vielfalt erhielt, handelt von der 20-jährigen Ukrainerin Alina, die konsequent ihren Traum von einer professionellen Fußballkarriere verfolgt. Und das, obwohl sie als Straßenkind ums reine Überleben kämpfen muss, nachdem die Mutter ins Gefängnis wandert. Kaum entlassen, bringt die Mutter zwei weitere Kinder zur Welt, kann aber ebenfalls nicht für sie sorgen. So übernimmt Alina auch diese Rolle, versucht mit unwahrscheinlicher Energie, die angenommene Mutterrolle mit einer Fußballkarriere zu verbinden.
Weniger überzeugend dagegen End of Season (Deutschland, Aserbaidschan, Georgien) von Elmar Imanov, ein vergleichsweise eher kleines Familiendrama über eine Kernfamilie, wobei die Mutter und die Freundin des Sohnes stets den Kürzeren ziehen. Die Konflikte brechen offen aus, als die Mutter nach einem Ausflug ans Meer plötzlich spurlos verschwindet und das Familiengefüge neu aufgestellt werden muss. Ein Film, der sich in seiner Intention nur schwer einordnen lässt, zumal er den Zerfall einer Familie genau aufzeigt, während die beiden anwesenden Hauptdarsteller in Wiesbaden ausdrücklich betonten, dass er mit dem Bild der Familie in Aserbaidschan rein gar nichts zu tun habe.
Sehenswert dagegen Take Me Somewhere Nice (Niederlande, Bosnien und Herzegowina) von Ena Sendijarević, ein Roadmovie über die Suche nach der eigenen kulturellen Identität und nach Heimat. Alma ist mit ihrer Mutter nach dem Bosnienkrieg nach Holland emigriert, fühlt sich dort aber bis heute nicht heimisch. Als der nicht emigrierte Vater schwer erkrankt, entschließt sich die junge Frau, ihn in Bosnien-Herzegowina zu besuchen. Was als Kulturschock beginnt, mündet in eine hindernisreiche Reise quer durch das immer noch von den Nachwirkungen des Krieges gekennzeichnete Land, wobei der Cousin und dessen Freund zu eigennützigen Mitreisenden werden und Alma unterwegs ihre gesamten Habseligkeiten verliert. Etwas überfrachtet mit einem Drogendeal und allzu klischeehaft wirkenden Männerfiguren, lebt der Film vor allem durch seine Protagonistin, die unter großen Opfern ein Stück erwachsener wird.
White Mama (Russland) von Zosya Rodkevich und Evgeniya Ostanina weist gewisse Ähnlichkeiten mit dem Wettbewerbsbeitrag Systemsprenger der Berlinale 2019 auf. Warum die mit einem Äthiopier verheiratete Russin trotz ihrer leiblichen vier Kinder, die gut versorgt und beachtet werden wollen, auch noch einen schwer verhaltensgestörten Jungen adoptiert, bleibt zwar im Unklaren. Aber die Geduld und die Ausdauer aller Familienmitglieder, die mit dem widerspenstigen nervigen Jungen an den Rand ihrer Leistungs- und Toleranzfähigkeit geraten, ist bewundernswert. Ein Familienmodell, das dem preisgekrönten Film Acid diametral entgegensteht, selbst wenn man ahnt, dass dieser Junge als Jugendlicher vermutlich bald in einer ähnlichen Lage wäre, wenn ihm nicht jetzt schon geholfen wird.
Heutigen Filmen aus dem Osten mangelt es nicht an Stoffen und Ideen, auch nicht an fähigen Filmschaffenden, sondern vor allem an genügend Geld. An zwei Filmen war das besonders deutlich zu erkennen. Am 16. Januar 1969 verbrannte sich der Philosophiestudent Jan Pallach auf dem Prager Wenzelsplatz aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings. Robert Sedláček hat diese in der CR bis heute umstrittene Figur mit seinem titelgebenden Film in Erinnerung gerufen und sich auf die lange Vorgeschichte konzentriert. Der Traum eines Lebens in einer freien Gesellschaft wird durch den Einmarsch der russischen Truppen jäh zerstört, wobei der Film über ein Kammerspiel mit hierzulande teils unbekannten öffentlichen Personen kaum hinausweist. Pallachs Motivation und seine Entwicklung bis zur Selbstverbrennung bleiben daher mehr im Rahmen von Behauptungen als in Form einer kinotauglichen visuellen Beweisführung, wobei das tragische Ende ohnehin bereits bekannt ist.
Die kammerspielartige Inszenierung hat in Cold November (Kosovo, Albanien, Nordmazedonien) von Ismet Sijarina immerhin ihre Berechtigung. Denn im Mittelpunkt des mit einer Lobenden Erwähnung bedachten Films steht ein kosovarischer Familienvater, der vor der schier unlösbaren Entscheidung steht, ob er sich im Jahr 1992 den serbischen Machthabern willfährig zeigt, um seine Familie zu schützen, und dadurch in den Augen seiner Landsleute zum Verräter wird, oder ob er den Dienst quittiert und Widerstand leistet wie sein Arbeitskollege. Die Ironie des Schicksals ist, dass unter solchen politischen Restriktionen das Überleben in keinem Fall gewährleistet war. Etwas mehr Zeitkolorit und der (kostentreibende) Blick auch auf die äußere Realität hätten diesem Film gut getan.
Am Beispiel von vier Orten in Bosnien-Herzegowina, die inzwischen vom Tourismus beherrscht werden, geht Igor Drljača in seinem Dokumentarfilm The Stone Speakers (Kanada, Bosnien und Herzegowina) der Frage nach, was aus den Idealen von damals nach dem Zerfall des jugoslawischen Staates übrig geblieben ist. Durch die vielen Totalen und eine wenig inspirierte Kamera hinweg über religiös und esoterisch ausgerichteten Massenveranstaltungen gelingt es dem Film jedoch nicht, anhaltendes Interesse zu wecken. Weitaus spannender ist die Dokumentation Hungary 2018 (Ungarn, Portugal) von Eszter Hajdú über den Rechtsruck in Ungarn bei den Wahlen 2018. Obwohl beide Seiten, die von Viktor Orbán und insbesondere die des Gegenkandidaten Ferenc Gyursány ausführlich zu Wort kommen, bleibt am Ende nur eine große Ratlosigkeit, warum 80 Prozent der Bevölkerung sich der medialen Kontrolle Orbáns beugten und Immigranten für eine so große Gefahr halten, obwohl sie in Ungarn kaum einer wirklich zu Gesicht bekommen hat.
Politische Filme und Sozialdramen haben es heute in Mittel- und Osteuropa schwer, ihr Publikum zu finden. Möglicherweise liegt darin auch ein Grund, dass mindestens jeder vierte Wettbewerbsfilm Anleihen bei einem Genre nahm, Roadmovies und Coming-of-Age-Filme noch nicht einmal mitgezählt. Zumindest bei The Gentle Indifference of the World (Kasachstan, Frankreich) von Adilkhan Yerzhanov ging die Rechnung voll auf, denn er war der große Gewinner des Festivals. Völlig zu Recht erhielt er den Preis der Landeshauptstadt Wiesbaden für die Beste Regie und den Preis der Fipresci in der Kategorie Spielfilm. Die Mafia-Tragikomödie über die Kraft der Liebe als eines der letzten noch verbliebenen Werte, die zugleich auf alten Sagen und Erzähltraditionen von Kasachstan fußt, beeindruckte durch ihre sehr persönliche Handschrift mit langen minimalistischen Einstellungen voller Poesie, Intensität und geradezu anarchischer Situationskomik. Das mag heutigen Sehgewohnheiten zuwiderlaufen, ist aber äußerst reizvoll. Eine überschuldete Erbin vom Land wird nach dem Selbstmord ihres Vaters zum Onkel in die Stadt geschickt, der sie des Geldes wegen an einen reichen Geschäftsmann verheiraten möchte. Ein langjähriger Freund, der seit vielen Jahren in sie verliebt ist, versucht das zu verhindern und gerät dadurch selbst in mafiöse Machenschaften, wobei die beiden Liebenden am Ende zwar zueinander finden, aber nicht überleben werden.
Weniger überzeugend war Moon Hotel Kabul (Rumänien, Frankreich) von Anca Damian, der als Paranoia-Thriller im Noir-Stil angekündigt war, sich mit der gleichen Berechtigung aber als ethnografischer Film bezeichnen ließe. Vor der Folie des Mordes an einer Dolmetscherin in Kabul, die einer Verschwörung auf der Spur war, konzentriert sich der Film weitgehend auf einen mit allen Wassern gewaschenen Kriegsreporter, der ein heimliches Verhältnis mit ihr hatte und nun ihren Leichnam in ein abgelegenes Dorf in ihre rumänische Heimat überführt. So wie in der filmischen Realität Lüge und Wahrheit oft nicht klar voneinander zu unterscheiden sind, macht es der Film dem Zuschauer schwer, der Handlung zu folgen, die ohnehin mehr einer Zustandsbeschreibung gleicht als einem klar umrissenen Plot.
Kultregisseur György Pálfi verfilmte mit His Master’s Voice (Ungarn, Kanada) einen SF-Roman von Stanislaw Lem und übertrug die Handlung über die Suche eines Spätdreißigers nach seinem vor vielen Jahren verschwundenen Vaters in die Gegenwart. Dieser glaubt, den Vater in dem Video eines amerikanischen Verschwörungstheoretikers zu erkennen, begibt sich auf Spurensuche vor Ort und stößt mitten in ein geheimes Forschungsprojekt, an dem sein Vater beteiligt war. Medial aufgemotzt im Stil privater Nachrichtensendungen bleibt von der Geschichte aber nicht viel mehr als ein optisch beeindruckender Augenkitzel in Erinnerung.
The Riddle of Jaan Niemand (Estland) von Kaur Kokk geht genau den umgekehrten Weg und setzt mit einer History-Mystery ganz auf alte kinematografische Traditionen des Ostens. Estland liegt nach zehn Jahren Nordischem Krieg am Boden, die bäuerliche Bevölkerung leidet unter Hunger und Pest. In dieser fragilen Situation wird ein Fremder am Strand angeschwemmt, der sein Gedächtnis verloren hat und aufgrund eines ebenfalls angeschwemmten Arztkoffers als Jaan Niemand bezeichnet wird. Unterdessen spitzen sich die Konflikte zwischen dem Landgrafen und den Bauern weiter zu und eine bereits für tot erklärte Frau kehrt aus der Hölle zurück und prophezeit das nahe Ende der Welt. Man muss die reichlich abstruse Geschichte nicht unbedingt mögen, aber das Setting, die Kamera und die Lichtführung machen aus dieser atmosphärisch ungemein dichten Mystery ein kleines Kunstwerk.
Allen gängigen Kategorien entzieht sich Acid Forest (Litauen) von Rugilė Barzdžiukaitė, ein Dokumentarfilm über ein Vogelreservat auf der kurischen Nehrung. Dort haben Tausende von Kormoranen einen Nistplatz gefunden. Da sie unter Naturschutz stehen, dürfen sie nicht gejagt werden und vermehren sich rasant. Die Tragik dabei ist, dass sie mit ihrem sauren Kot die gesamte Vegetation und damit ihre eigene Lebensgrundlage zerstören, viele abgestorbene Bäume ragen nur noch als Gerippe mahnend in den Himmel. Aus der Totale und mit einigen Drohnenflügen über die Baumwipfel hinweg nimmt die weitgehend starre Kamera kommentarlos eine hölzerne Beobachtungsplattform ins Visier, die von Touristen aus der ganzen Welt besucht wird. Ein an dieser Stelle angebrachtes Mikrofon nimmt auf, was die Menschen dort reden. Und das setzt dem traurigen Naturschauspiel noch die Krone auf. Da kommen alle denkbaren Vorurteile über den Osten und die Politik der Europäischen Union zur Sprache, auch Radikallösungen mit dem Abknallen der Vögel werden ins Spiel gebracht. So wird dieser seltsame Tierfilm zum Zerrspiegel einer Gesellschaft, die sich und andere bedenkenlos zerstört und das auch noch als »brillant« und »unglaublich« bezeichnet.