35. DOK.fest München 2020
Kupferträume und Systemsprenger |
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Ruinenträume aus dem Iran: Copper Notes of A Dream | ||
(Foto: Reza Farahmand / DOK.fest@home) |
Von Jens Balkenborg
So sehr das Kino als Ort verteidigt werden muss, immer und immer wieder, mit Vehemenz und zur Not auch mit verbalen Fausthieben, so sehr ist aktuell gut daran getan, auch die Vorteile der Not zu benennen. In dieser besonderen, als @home gebrandeten Auflage richtet sich das DOK.fest München (zumindest potentiell) erstmals an ein deutschlandweites Publikum. Klar: Erst die Evaluation wird zeigen, ob und in welchem Ausmaß das Festival über die Grenzen der bayerischen Landeshauptstadt wahrgenommen werden wird. Aber: Status quo ist, dass hier ein großes deutsches Dokumentarfilmfestival den Kopf nicht in den Sand gesteckt hat, sondern als erstes überhaupt mit einem satten Programm aus 121 Filmen aus 42 Ländern online an den Start geht.
Genug Gelegenheit also, sich mit allen möglichen Facetten der dokumentarfilmischen Kunst auseinanderzusetzen. Und genug Gelegenheiten vor allem auch, um Fragen zu stellen. Denn: Was meint »Dokumentarfilm« heute? Wo hört die dokumentarische Form auf und wo fängt der Spielfilm an? Wie ist es und wie darf es um Parameter wie die Subjektivität bestellt sein? Aufgrund der fluiden Form, die das Dokumentarkino immer stärker annimmt, bedürfen die Antworten darauf reger Diskussion.
All diese Fragen drängen sich auch beim DOK.horizonte-Beitrag Copper Notes of a Dream des iranischen Regisseurs Reza Farahmands auf. Der mit dem DOK.fest-Preis der SOS-Kinderdörfer weltweit prämierte Film ist der zweite nach Für Sama, der in diesem Jahr aus dem syrischen Bürgerkrieg erzählt. Wie die syrische Journalistin Waad al-Kateab, die ihren Film als audiovisuellen Brief an ihre erstgeborene Tochter adressiert, wählt auch Farahmand einen zutiefst subjektiven Zugang.
Wir folgen dem zehnjährigen palästinischen Flüchtling Malook durch die Ruinen eines Vororts von Damaskus. Gemeinsam mit seiner Gang zieht und klettert der altkluge Junge durch die zerbombten Häuser und reißt die Kupferleitungen aus den Wänden. Mit dem Verkaufserlös wollen er und seine Schwester ein Konzert veranstalten. Ein teures Unterfangen, denn es braucht Technik, Musiker und einen Ort.
Während uns die Kamera mitnimmt in das Leben in den zerstörten Häuserschluchten, mitten hinein in die Ikonografien des Terrors, spricht Malook immer wieder aus dem Off: über das vom Krieg hinweggefegte alte Leben, über seine Träume, über die Gräuel des ISIS (heute IS). Farahmand begibt sich komplett auf die Augenhöhe des Jungen und der anderen Kinder und versucht gar nicht erst eine objektive Einordnung der Ereignisse.
Copper Notes of a Dream will mit filmischen Mitteln wie einem rührseligen Pianoscore eine Geschichte erzählen: eine Geschichte von Kindern im Krieg, vor allem aber eine der Hoffnung und Träume. Malook will Musiker werden. Davon, was die jungen Kinderaugen alles gesehen haben, zeugen nur die Ruinen der Stadt.
Man merkt dem Film an, dass vieles auf die Narration zurechtgebogen ist. Doch man folgt dem vorlauten, optimistischen Jungen gerne. Als Schauspieler hätte er sicher auch eine rosige Zukunft vor sich. Es fallen zwei Sätze, die den Film ziemlich gut beschreiben: »We don’t want anything artificial, but from the bottom of your heart«, sagt einmal jemand bei einer Konzertprobe zu Malooks singender Schwester. Mit den Worten »We want the world to hear us« bewirbt Malook das anstehende Konzert. Mit Herz möchte Copper Notes of a Dream uns sehen und hören machen.
Ebenfalls von jungen, allerdings nicht mehr ganz so jungen Menschen erzählt Maasja Ooms in ihrem DOK.International-Beitrag Punks. Ist das ein dokumentarisch gefilmter Spielfilm? schießt es einem nach den ersten Einstellungen durch den Kopf. Es wirkt unglaublich natürlich und gerade deshalb sehr filmisch, wie die drei Protagonisten Mike, Mitchel und Jahlano sich geben. Die von der niederländischen Regisseurin geführte Kamera scheint so unauffällig zu sein, dass die Anwesenden sie beinahe vergessen. Ihr Blick ist sensibel und emphatisch, dabei aber stets distanziert und lässt an den französischen Dokumentarmeister Raymond Depardon denken.
Die »Punks« sind verhaltensauffällige niederländische Jugendliche am Rande des geschlossenen Jugendstrafvollzugs, die zur Therapie auf einer Farm in Frankreich sind. Mike lügt notorisch und lässt sich immer wieder auf zweifelhafte Kräftemeiereien ein. Einmal, so erfahren wir im Gespräch, hat er ein Fahrrad von einem Balkon auf eine belebte Straße geworfen. Jahlano will an allem und jedem Rache nehmen und neigt zu Selbstjustiz, gerne auch mit einem Messer. Und Mitchel, der zu so etwas wie der Hauptfigur wird, hat den Tod der geliebten Mutter nicht verkraftet und ein mehr als schwieriges Verhältnis zu seinem Vater.
Ooms verzichtet auf eine Off-Stimme oder eine Exposition. Wir erfahren alles aus den Gesprächen: mit den Familienmitgliedern, die zwischendurch anreisen, zwischen den Jungs selbst, wenn sie Kette rauchend rappen oder sich tagsüber bei Abriss- und Renovierungsarbeiten an dem alten Bauernhaus abreagieren. Und vor allem in den Gesprächen mit Petra, der Therapeutin, die mit einfühlender Autorität versucht, am Bodensatz der verhaltensauffälligen Persönlichkeiten zu kratzen. »Es ist wichtig, dass du mir das sagst. Nur dann kann ich dir helfen, hilfst du dir selbst, können andere dir helfen«, sagt sie eindringlich zum trotzigen Jahlano. Sie vertraut und beherrscht die Macht der Worte.
So filmisch Punks auch daherkommt, so sehr durchkreuzt Ooms dramaturgische Momente. Immer wieder reißt der Soundtrack einfach ab und wirft uns zurück auf die Bilder und das destruktive Gebaren der Jungs. In Punks gibt es keine einfachen Antworten. Mit der Ankunft eines Mädchens wird alles noch komplizierter. Ooms gelingt ein Drahtseilakt: Sie ist nah dran und zugleich fern, niemals voyeuristisch aber doch direkt. Punks bewegt sich in konzentrischen Bewegungen langsam aber unaufhaltsam voran, ist zuweilen zermürbend und dabei doch poetisch. Ein eigenwilliges Psychogramm.
DOK.fest München
6. bis 24. Mai 2020
@home
Filme mieten: 4,50 € (5,50 € mit Soli-Beitrag für die Kinos)
Zeitfenster: 24 Stunden
Festivalflatrate: 50 € (davon gehen 3 € an die Kinos)
Hotline – technische Soforthilfe: 0800 / 5565136
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