Digital Mainstreaming |
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Virtual Reality | ||
(Foto: Kurzfilmtage Oberhausen) |
Von Dunja Bialas
Unter normalen Umständen hätte an diesem Donnerstag in München das Filmfest begonnen. Und damit das Sommerfestival der Stadt, das sich nicht nur gegen den Münchner Biergartenhedonismus, sondern auch gegen die Fußball-EM hätte stemmen müssen. All das bleibt dem Festival jetzt erspart, Corona sei Dank. Jetzt kündigt das Filmfest ein »Pop-up-Premieren-Sommerkino« an, als Open-Air-Event im Rahmen von »Kino am Olympiasee« und im Autokino, das zwei HFF-Absolventen mit Arthouse-Anspruch im Münchner Norden auf einem Parkplatz ins Leben gerufen haben. Die Kinos, die sonst in den Sommermonaten vom Filmfest profitieren, gehen in diesem Konzept leer aus. Nach virtuell abgehaltenen oder abgesagten Festivals jetzt also die Umsiedlung eines großen Festivals an alternative Spielorte. Kommen dem Kino die Filmfestivals abhanden?
Jüngst hat sich eine mit Vehemenz ausgetragene Debatte rund um die sogenannten »virtuellen Festivals« entwickelt. Hintergrund ist die Verlagerung von Festivals in den Webspace, als Corona kam. In Deutschland machten dies das Lichter Filmfest (Frankfurt am Main), das DOK.fest München sowie die Kurzfilmtage Oberhausen vor. Andere Festivals wie EMAF (Osnabrück) und Nippon Connection (Frankfurt am Main) folgten.
Jedes ins Netz verlagerte Festival wurde neu konfiguriert. Die Kurzfilmtage Oberhausen beeindruckten durch einen Video-Blog, der einen Monat vor Festivalbeginn ansetzte und das Nachdenken über Film in den Zeiten von Corona anstieß. Zugleich hielt das Festival an knapp bemessenen 48-Stunden-Slots fest, um das Event zu beschwören. Filmgespräche mit den Regisseur*innen wurden vorproduziert und zwischen die Kurzfilme geschaltet. Das DOK.fest München stellte seine Filme für drei Wochen ins Netz, sekundiert von ebenfalls vorproduzierten Filmgesprächen, aber auch Live-Schaltungen, bei denen die Zuschauer*innen an ihren Bildschirmen partizipieren konnten. Andere Festivals zeigten nur Ausschnitte ihres Programms oder verzichteten weitgehend auf ihr geplantes Programm oder auf interaktive Formate. So das Lichter Filmfest, das seinen Kongress zu »Perspektiven der deutschen Film- und Kinokultur« in den Dezember verlegt hat. Aber auch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine zweite Digitalisierungswelle nun auch Formen der menschlichen Zusammenkunft erfasst hat.
Oberhausen und München verbuchen ihre Online-Editionen mit Blick auf die Verkaufszahlen (DOK.fest: 75.000 Klicks, Kurzfilmtage: 2500 Festivalpässe) als sehr großen Erfolg und leiten nun aus ihrer Erfahrung Thesen und Erkenntnisse über die Zukunft von Festivals ab, die sie aufs Kino übertragen. So schreibt der Leiter des Dokumentarfilmfestivals München Daniel Sponsel auf der Branchenplattform »Blickpunkt:Film«: »Die Zukunft des Kinos passiert jetzt!« Aus der Headline entwickelt er sieben Thesen zum Dokumentarfilm. Auch Lars Henrik Gass, Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen, verallgemeinert im »Filmdienst« seine Festivalerfahrung unter Corona zu einem »fundamentalen Umbau der Kino-Öffentlichkeit«.
Es gibt nur wenige Stimmen, die der Digital-Euphorie etwas entgegensetzen. Auf »critic.de« antworten wenigstens der Kulturarbeiter Alejandro Bachmann und die Diagonale-Leiter Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber gemeinsam auf die Thesen von Sponsel.
Sie merken an, dass sich der Leiter des DOK.fest München »fast ausschließlich an Dimensionen und Begriffen des Marktes« orientiert, zentriert um »Reichweite«, »Verwertungskette« und »Auswertung«. Stattdessen fordern sie, auch das »zu beschreiben, was abhandengekommen ist, was die Schließung der Kinos einer Gesellschaft vorenthält«.
Sponsel antwortet wiederum auf »critic.de«: »Das Kino als Ort für Filmkultur hat seine Selbstverständlichkeit verloren.« So generalisiert Sponsel erneut die Erfahrung des Corona-Shutdown, geht aber noch einen Schritt weiter: »Wer das Kino in jeder Hinsicht erhalten will, muss den Zugang zur Filmkultur über alle Wege gewähren. (…) Wir werden keine Menschen zurück in die Kinos bekommen, wenn wir glauben, wir könnten ihnen die Art und Weise, wie sie Filme zu sehen haben, vorschreiben. Das ist eine Art Cinephilie, die weder den Kinos als Spielort noch der Filmkultur hilft.« Gass hört sich ähnlich an, wenn er sagt: »(…) die aber auch in einem kulturpolitischen Klima einer missverstandenen Cinephilie agieren, einer Cinephilie, die Kinokultur langfristig dem Untergang zuführt. Die Fetischisierung von Kinokultur ist Teil des Problems. Weil sie nämlich nicht begreift, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Kino sich extrem verändert haben.«
Nicht als Antwort, sondern als bereits im April verfassten Text (»Cargo« Nr. 46, Juni 2020) hat wiederum Alejandro Bachmann die Festschreibung der Krise als Status quo konstatiert. Er greift damit das Bonmot von der »Krise als Chance« auf, nach dem nichts wieder so sein wird, wie es war, und unterstreicht, entgegen die zur Shutdown-Zeit mantramäßig wiederholte Rechtfertigungsformel von der außergewöhnlichen Situation, die ebensolche Maßnahmen erfordert, die jetzt installierte »Neue Normalität«.
Was sich mit der Krise als Status quo ankündigt, ist die überraschende Übertragung einer singulären, unter einer Katastrophensituation gemachten Erfahrung auf das Kino insgesamt. Das Digital Mainstreaming unterwirft die Kultur, aber auch unsere Lebenswelt insgesamt und lässt sich allmählich in unserem Unbewussten nieder. Die Verfechter des Analogen – früher war es das analoge Filmmaterial, heute ist es der Ort und die reale Begegnung – geraten damit zunehmend in die Defensive. Je mehr die Digitalisierung der Lebenswelt als Status quo anerkannt ist, desto mehr Argumente müssen aufgeboten werden, will man das Kino und die Filmprojektion verteidigen. Vertreter des Analogen werden dann zu Erzkonservativen, während sie die Gegenseite mit dem Verdacht des Neoliberalen überziehen, weil diese verstärkt mit den Mechanismen des Markts argumentieren.
Die Protagonisten der einen Seite der Debatte, Gass und Sponsel, repräsentieren Filmgattungen (den Kurzfilm, den Dokumentarfilm), denen das Kino bereits abhanden gekommen ist. Trotz löblicher Förderungsmaßnahmen seitens der Filmförderungsanstalt, die das Abspielen von Kurzfilmen im Kino mit Prämien belohnt, können sich nur wenige Kinobetreiber durchringen, an Stelle von Werbung kurze Vorfilme zu zeigen. »3sat« hat dieses Jahr die seit 1999 bestehende Medienpartnerschaft mit den Kurzfilmtagen Oberhausen gekündigt, weil der Sender nicht mehr »über die entsprechenden Sendeflächen« verfüge. Sponsel ist als Vorstandsmitglied der AG Dok auch Lobbyist für den Dokumentarfilm. Der Dokumentarfilm hat es als Gattung schwer im Kino, da er außerhalb der Festivals ein Nischendasein führt und selbst von den co-produzierenden Fernsehsendern auf unattraktiven Sendeplätzen regelrecht versteckt und unsichtbar gemacht wird. Daher propagiert die AG Dok zurecht eine Stärkung des Streams als gleichwertige Auswertung zum Kino. Auch der Kurzfilm könnte im Stream eine neue, interessante Plattform – unabhängig von Fernsehintendanten im Pensionsalter und unflexiblen Kinobetreibern – finden. Das sind legitime und begrüßenswerte Vorhaben, die für die kulturelle Vielfalt stehen. Warum eine Demarkationslinie gegen das Kino und gegen die analoge Lebens- und Kulturwelt errichten?
Die Cinephilen sind ungleich offener, als Sponsel in seinem Text unterstellt. Der Hauptverband Cinephilie hat gemeinsam mit dem Bundesverband Kommunale Filmarbeit mit »Cinemalovers« ein Modell des »vierten« Kinosaals entwickelt, nach dem Kinos an einer Streamingplattform partizipieren und ihr Programm durch virtuelle Angebote anreichern können. Umfragen, nach denen die »Heavy Users«, also die begeisterten Kinogänger, auch überdurchschnittlich viel streamen, sind seit Jahren bekannt und werden durch jüngste Umfragen (aktuell: Cineplex) bestätigt. Cinephile sind auch Cinephage, Filmverschlinger, Allesfresser. Hauptsache, es bewegt sich.
Die »digitalen Mainstreamer«, die jetzt das Virtuelle gegenüber dem Analogen ausspielen, sollten überdenken, ob sie sich wirklich einen Gefallen tun, wenn sie nicht zu einem differenzierteren und weniger euphorischen Ansatz finden. Ihre virtuelle Festivalerfahrung fiel in den Shutdown, zu einer Zeit, als alle dem Motto »Stay@home« gehorchten. Keiner hatte was zu tun, die Welt hatte aufgehört zu pulsieren. Da hat sich ein Vakuum aufgetan, das mit viel Streaming gefüllt werden konnte.
Betont wird jetzt, dass es nicht darum gehe, analoge Festivals durch virtuelle zu ersetzen, sondern zu ergänzen. Das Wort der Stunde heißt »hybrid«: zugleich analog (im Kinoraum) und virtuell (im Netz). Das hört sich zunächst gut und vernünftig an, nach Win-Win-Situation, in der von allem nur das Beste mitgenommen wird: authentisches Festivalfeeling und Reichweitensteigerung, wenn man ein Publikum erreichen kann, das nicht vor Ort ist.
Die große Frage ist jedoch, ob man damit nicht anderen das Wasser abgräbt – oder gar sich selbst. Das DOK.fest München war dieses Jahr in einer Pole Position, im Herbst wird dies von Dok Leipzig abgelöst, das eine hybride Ausgabe angekündigt hat. Auch das Filmfest Hamburg geht den hybriden Weg, mit vorproduzierten Talks. Was aber wird nach der Hybrid-Welle kommen?
Wird München noch einen Film von Leipzig ins Programm aufnehmen, wenn dieser »nur in Deutschland« (Pressemeldung) online zu sehen war? Wo doch in der Vergangenheit bereits die Fernsehausstrahlung den Filmemachern für die Festivalteilnahme zum Verhängnis wurde. Führt es nicht zu einer Schwächung kleiner lokaler Festivals, wenn Filme von den großen Festivals online verfügbar gemacht werden? Wie sieht es langfristig mit der Förderung lokaler Formate aus? Mit Geoblocking, also der Streaming-Beschränkung auf ein nationales Gebiet, ist es leider nicht getan, will man nicht die Festivallandschaft ausdünnen.
Und was ist mit dem viel beschworenen Festivalfeeling, wenn sich die Fachleute nicht mehr auf den Weg machen, da sie den Content (Filme, Talks, Meetings) ohnehin online bekommen können?
Die Big Player der Festivals, die ausreichend Personal, Geld und Content haben, um eine gut funktionierende Streamingplattform neben dem konventionellen Festivalbetrieb zu installieren, könnten die Gewinner der hybriden Form sein. Was aber ist, wenn ein Festival am Ende des Tages vor allem am Internetauftritt und den generierten Zahlen gemessen wird? Wenn es sich verstärkt als Marke etablieren muss, auch um in der Aufmerksamkeitsökonomie des World Wide Web zu bestehen?
Die Euphorie über eine digitale Zukunft der Festivals – die im Übrigen schon lange vor Corona begonnen hat (Videobotschaften, Q&As via Skype und Film-Streaming gab es schon, man könnte sich fragen, warum sich das nicht bereits durchgesetzt hat) – darf für die skizzierten Problemfelder nicht blind machen. Ein Bärendienst für die Kultur wäre, wenn ein Grabenkampf zwischen den Verfechtern des »Neuen« und des »Alten« entstünde. Es braucht ein offenes und vorurteilsfreies Nachdenken über die Implikationen und Folgen der Digitalisierung unserer Lebenswelt, einen Dialog zwischen den verschiedenen Denkrichtungen und eine Offenlegung der Motivlagen. Es wäre fatal, würden die Verfechter der Kultur nun beginnen, sich gegenseitig zu kannibalisieren.
Die Autorin ist Gründungsmitglied des Hauptverbands Cinephilie und Leiterin des in München ansässigen UNDERDOX Filmfestivals, das für den Herbst eine »dezidiert analoge Edition« plant, mit Gästen vor Ort und Projektion von analogem Filmmaterial im Kinosaal – so Corona will.