Ich mag keine Filme (mehr) |
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Noch vor den Kinos kapitulieren die Zuschauer: Joseph Phillippe Karems stillgelegtes Kino »The Egg«, Beirut | ||
(Foto: Axel Timo Purr) |
Im Dezember 2015 habe ich einen Blog-Eintrag mit dem Titel Ich mag keine Musik geschrieben, in dem es nicht um die Abneigung gegenüber der Musik, sondern um eine sonderbare Marketingstrategie geht. Regelmäßig kann ich meinen Blog-Statistiken entnehmen, dass Menschen bei diesem Eintrag landen, da sie in einer Suchmaschine Aussagen wie »(ich) mag keine Musik (mehr)« eingeben, aufgrund solcher Suchanfragen ist dieser Blog-Eintrag einer meiner zugriffsstärksten.
Lassen wir einmal die immer wieder spannende Frage außer Acht, was die Menschen wie im Internet suchen (was erwartet jemand, der bei Google »ich mag keine Musik« eingibt? Eine Erklärung? Trost? Rat? Hilfe?) und wenden uns dem eigentlichen Thema zu, der Ablehnung bzw. Gleichgültigkeit gegenüber der Musik und anderen Künsten.
Die Aufteilung der Kunst in die verschiedenen Künste (und ihre jeweiligen Teilbereiche) ist ziemlich kompliziert, weshalb ich mich hier
damit gar nicht groß aufhalten möchte. Wenn ich im Folgenden pauschale Begriffe wie Musik, Film, Theater, Malerei oder Literatur verwende, sollte jeder wissen, was damit gemeint ist.
Unter den Künsten gilt die Musik als die universellste, selbst die misslaunigsten Philosophen und Autoren, die sonst an allem was auszusetzen haben, singen gerne das Hohelied auf die Musik, so wie Schopenhauer sehen manche sie »nicht neben, sondern über den anderen Künsten«. Keine Musik zu mögen (also nichts aus ihr zu ziehen, keine emotionelle Reaktion darauf zu haben) gilt gemeinhin als unnormal, weshalb betroffene Personen sogar Hilfe im Internet suchen und dabei (fälschlicherweise) bei meinem oben genannten Blog-Eintrag oder (richtiger) auf Homepages und in Foren landen, wo offen darüber verhandelt wird, ob es so etwas wirklich gibt, wie schlimm das ist und was die Ursachen dafür sein könnten. Wenn Sie auch »darunter leiden« und / oder sich über das Phänomen informieren wollen, geben Sie bitte in Ihre Suchmaschine nicht »ich mag keine Musik«, sondern »musikalische Anhedonie« ein.
Damit beweist die Musik einmal mehr ihre Ausnahmestellung, denn keine andere Kunst hat für eine Gleichgültigkeit ihr gegenüber eine eigene Bezeichnung, die auch noch fast nach einer Krankheit klingt. Wenn Sie dagegen in einem Kreis von durchschnittlich gebildeten Menschen erklären, dass Sie kein Interesse an Theater oder Malerei oder Literatur haben, dann wird das vermutlich mit einem Schulterzucken aufgenommen, im schlimmsten Fall hält man Sie für (kulturell) ungebildet bzw. einen sog. Banausen, von einer »Störung« wird aber keiner sprechen (außer den Fanatikern, die sich ein Leben ohne Theater oder Malerei oder Literatur gar nicht vorstellen können, wobei man da darüber diskutieren kann, inwiefern diese bedingungslose Begeisterung »gestört« ist). Unterschiede gibt es aber auch hier, vor allem im Extrem. Wer verkündet, noch nie ein Buch gelesen zu haben, wird vermutlich mit anderen Augen betrachtet wie der, der nach eigener Aussage noch nie eine Theateraufführung oder Tanzperformance gesehen hat.
Weshalb Künste überhaupt unterschiedlich bewertet werden, ist genauso schwer zu erklären wie die Frage, was eine Kunst(form) ist. Im Lauf der letzten 3.000 Jahre wurden viele Disziplinen den Künsten zu- und später wieder abgerechnet, bis heute hält dieser Prozess an, wie z.B. an der Diskussion über Streetart bzw. Graffiti, Netzkunst oder die Kochkunst zu sehen ist.
Fast noch schwerer zu beantworten ist die Frage, warum sich Menschen zu welchen Künsten hingezogen fühlen und wie sich
dieses Verhältnis während eines Lebens verändern kann, ein interessantes Beispiel diesbezüglich ist meine Leidenschaft für den Film.
Als Kind war ich (wie so viele) geradezu süchtig nach bewegten Bildern, was sich in endlosen Stunden vor dem Fernseher niederschlug. Angeschaut habe ich so ziemlich alles, was die wenigen Programme damals hergaben. Als Jugendlicher hat sich dann eine Begeisterung für Filme ausgeprägt, als junger Erwachsener war ich schließlich das, was man gemeinhin einen Cineasten nennt, also jemand, der nie genug Filme sehen kann, der sich für alle Aspekte des Themas interessiert, der immer weiter nach dem Speziellen, Unbekannten sucht, der sich auch kritisch (bzw. als Kritiker) damit auseinandersetzt, der von einem guten Film total überwältigt werden konnte, der dieses Gefühl der Berückung immer und immer wieder wollte.
Anfang der 2000er Jahre begann diese Begeisterung Risse zu bekommen. Filme, die mir eigentlich gefallen hätten sollen (weil von einem geschätzten Regisseur gemacht und von der Kritik hochgelobt), ließen mich kalt. Anfänglich hielt ich das für »Aussetzer«, für ein persönliches Mismatch zwischen mir und diesem einen Film. Doch das Missfallen, die Gleichgültigkeit wurde immer mehr, abzulesen etwa an meinen Jahresrückblicken, in denen ich von Jahr zu Jahr weniger Filme als
erwähnenswert empfand. In gleicher Weise nahm mein Interesse an dem Drumherum, an Stars, Filmschaffenden, Festivals, Filmhistorie, Legenden und Mythen ab.
Mittlerweile bin ich an dem Punkt, dass ich (auch ohne Corona) so gut wie gar nicht mehr ins Kino gehe, im Fernsehen probiere ich immer wieder (bereits bekannte wie mir neue) Filme aus, breche 70 % davon vorzeitig ab, schaue 25 % davon zu Ende, ohne einen bleibenden Eindruck zu behalten, und weniger als 5 % davon unterhalten oder
faszinieren oder berühren oder begeistern mich in irgendeiner Weise, wobei ich selbst bei diesen meist noch etwas finde, das mich stört.
Da frage ich mich, wie das sein kann? Wie kann eine kulturelle Leidenschaft in 30 Jahren einer Parabel gleich von ganz wenig bis ganz viel bis wieder ganz wenig verlaufen? Wieso sind meine Verhältnisse zu anderen Künsten (wie der Musik oder der Literatur) in derselben Zeit praktisch unverändert geblieben? Dass es an mir liegen muss, ist unzweifelhaft, denn nicht nur neue, sondern auch viele (nicht alle) Filme, die ich früher gut fand, langweilen mich heute. Was hat sich in mir verändert? Warum betrifft diese Veränderung nur den Film, aber nicht die Literatur (beides sind erzählende Künste)? Warum gibt es noch eine geringe Zahl von Filmen, die ich wirklich gut finde? Werde ich das Gefallen an diesen Filmen auch noch verlieren? Bin ich des Films überdrüssig, weil letztlich alles irgendwie (und oft besser) schon einmal da war? Warum werde ich dann der Musik nicht überdrüssig, die auch nach der tausendsten Wiederholung noch Spaß macht? Warum kann ich mit all diesen neuen Serien (also die mit einem durchgehenden Handlungsstrang), von denen die Leute seit ein paar Jahren derart begeistert sind, überhaupt nichts anfangen? Warum habe ich aber weiterhin großen Spaß an ausgewählten Comedy- und Cartoonserien?
Kunstgenuss besteht zu einem Teil aus Intuition und zu einem Teil aus Übung. Wer mit einer unbekannten Kunstform konfrontiert wird, kann nur intuitiv einschätzen, ob ihm das gefällt. Beschäftigt er sich mehr damit, »trainiert« er diese Kunstform, wird er immer mehr verstehen, mehr erkennen, mehr gut finden (wer hat seinen Einstieg in eine Kunstform nicht über relativ zugängliche Werke gesucht, um sich dann an die großen, komplexen Werke heranzuarbeiten). Was heißt das aber nun für mich und den Film? An der mangelnden Übung kann es eigentlich nicht liegen, schließlich habe ich jahrelang intensiv trainiert. Hat also mein intuitives Interesse nachgelassen? Oder gibt es vielleicht noch eine dritte Kraft, die hier eine Rolle spielt, z.B. blinde bzw. verklärende Begeisterung, die mir abhandengekommen ist?
Ob meine nachlassende Filmleidenschaft eine gute oder schlechte Sache ist, kann ich noch nicht abschließend sagen, der aktuelle Zwischenstand ist ambivalent. Negativ ist der Verlust eines angenehm zeitraubenden Hobbys und mancher kulturellen Anregung, positiv ist dagegen die Befreiung von Zwängen und Ängsten auf der Jagd nach dem nächsten, besten (bzw. nächstbesten) Filmereignis.
Sei es wie es sei, ändern werde ich daran nichts können, denn so viele Fragen im Vorstehenden auch offen sind, bin ich mir über eine Sache doch sicher: Eine bewusste, rationelle Entscheidung für oder gegen eine Kunstform gibt es nicht. Wie wir uns die Künste oder die Künste sich uns aussuchen, bleibt ein Geheimnis, man könnte es auch das Je ne sais comment nennen.