Alles was man schnell vergisst |
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Todo lo que se olvida en un instante von Richard Shpuntoff: Schneisen in den Dschungel der gesamt-amerikanischen Identität | ||
(Foto: Todo lo que se olvida en un instante) |
Glück im Unglück hat das diesjährige DOK Leipzig gehabt: Eine Woche vor dem neuesten Lockdown wurde dieses wichtigste deutsche Festival für Dokumentarfilm am Montag vor einer Woche eröffnet. Mit einem neuen Festivalleiter und natürlich unter Pandemie-Bedingungen – also mit Abstand, und ohne Festivalgäste, aber zumindest in größeren Teilen nicht digital, sondern mit normalen Kinobesuchern im Kino: Das DOK Leipzig, das größte deutsche Dokumentarfilmfestival. Noch zehn Tage sind die Filme des Programms online zu sehen.
Unter ihrem neuen Festivalchef Christoph Terhechte – er hat 17 Jahre lang das Forum des Jungen Film bei der Berlinale geleitet, die interessanteste Berlinale-Sektion – zeigt sich DOK Leipzig deutlich verschlankt und konzentriert. Die von ihm ohnehin geplante Konzentration des zuletzt mit über 300 Filmen allzu aufgeblähten Programms wurde durch Corona noch mal reduziert. 150 Filme sind es immer noch. Im Kino, mit Publikum, und gerade vor dem Lockdown geht alles zuende. Erste Corona-Filme gibt es dort zu sehen, aber neben der Pandemie sollen auch andere Themen nicht in Vergessenheit geraten.
Gleich in fünf Filmen portraitieren US-amerikanische Filmemacher ihre Heimat – die Beiträge wirkten wie Kommentare zu den Präsidentschafts-Wahlen. Zugleich machen sie auch klar, dass die fragwürdigen politischen Entwicklungen in den USA der letzten Jahre etwas Grundsätzliches über den Stand der Demokratie erzählen, und über eine Gesellschaft, die von kollektivem Gedächtnisverlust und Ignoranz geprägt ist. Und sie erzählen von den Wirkungen der Globalisierung. An ganz unterschiedlichen Orten legen sie den Finger in die Wunde namens Amerika. Aber es geht auch um uns Europäer.
Vor über 30 Jahren begann Clinton als Gouverneur von Arkansas seine politische Karriere. Jetzt, im Rückblick schreibt ihm der Regisseur Ben Young einen Brief in Filmform: »Hey Dude, du bist ein alter Mann geworden, du siehst aus wie ein Elvis in Rente.« Es ist eine bittere, stilistisch virtuose Abrechnung mit der Ära Clinton, mit ihren nicht gehaltenen oder gebrochenen Versprechen, und mit ihrem Erbe.
Der Scherbenhaufen, den die US-amerikanische politische Lage heute darstellt, ist weit größer als alles, was wir Beobachter von außen mit dem Namen Donald Trump verbinden. Und Youngs Film William Jefferson Wilderness, einer von gleich fünf US-amerikanischen Filmen im Programm von DOK Leipzig, zeigt, dass die Wahlen keineswegs alle Probleme lösen werden, egal wie sie ausgehen, und dass das amerikanische Kino weit mehr zur Lage des Landes zu sagen hat, als wie man Donald Trump findet. Über den sind sich sowieso die allermeisten einig.
Dazu gehört zum Beispiel auch die Lage an den Schulen, die inzwischen belagerten Festungen gleichen. Das beschreibt Bulletproof, zu deutsch »Kugelsicher« von Todd Chandler. Der Film beleuchtet das System der Sicherheits- und Waffen-Industrie, die sich auf die Hochrüstung von Schulen zur Verteidigung im Fall von Schulmassakern konzentriert.
Neben regelmäßigen Übungen zum Verhalten bei einem Angriff gehören Securitykräfte und Metalldetektoren zum
Alltag. Denn das Bedrohungsszenario Amoklauf ist allgegenwärtig. Während Cheerleader proben, Basketballteams spielen und man Homecoming-Queens kürt, bereiten die Erwachsenen im Hintergrund den Ernstfall vor: Was tun, wenn eine Schule – von außen oder von innen – angegriffen wird? Verhaltens- und Meditationstrainings, die Gewalt überhaupt verhindern sollen, sind eine Sache.
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Mehr hinein ins Amerika des Donald Trump dringt die Regisseurin Laura Gamse in Hello, we lied. Sie portraitiert Jestin Coler, den König der »Fake-News«. Die Filmemacherin scrollt sich in ihrem Film durch Nachrichten und Memes und gibt damit einen eindrucksvollen Kommentar zum Zustand westlicher Gesellschaften ab ― ein Journalismus in der Krise, die aus der Sucht nach Einschaltquoten und aus ökonomischem Druck besteht. Plötzlich sind Satiresendungen die einzig seriöse und kritische Informationsquelle.
Am tiefsten hinein ins Trumpland dringt allerdings Jim Finn. Dieser nur Experten bekannte Independentregisseur hat unter anderem schon mal einen Fake-Dokumentarfilm über den nordkoreanischen Diktator gedreht.
Hier nun begibt er sich mit seinem Publikum auf eine Reise in die amerikanischen Südstaaten und die Geschichte von Bürgerkrieg und Sklaverei. The Annotated Field Guide of Ulysses S. Grant erzählt die Route des Oberbefehlshabers der US Nordstaatenarmee und ihres Kommandeurs, des späteren Präsidenten im Amerikanischen Bürgerkrieg mit Hilfe von Brettspielen nach.
In kleinteiligen Aufnahmen zeigt Jim Finn die Spuren des Bürgerkriegs bis in die Gegenwart. Schönheit des Old South kontrastiert mit dem düsteren Unterbau des Konflikts: Tiefem Rassismus und unbeirrbarer Glaube an das Recht zur Sklavenhaltung.
Zwei Hauptpreise; sehr unterschiedliche Auszeichnungen – einmal für einen Film, der ein Fall von unverhohlenem politischen Aktivismus ist, der Botschaften hat, der parteiisch ist. Der auch auf seine Weise sehr geschlossen ist: Downstream to Kinshasa, von Dieudo Hamadi aus dem Kongo, der Sieger des Hauptpreises in Leipzig, ist Kino, das sich größtenteils in öffentlichen Räumen aufhält und dort umsieht, und das die afrikanischen
Öffentlichkeiten wiederum auf die Leinwände Europas holen möchte.
Im Zentrum stehen Kriegsversehrte aus dem Kongo, die um ihre Rechte kämpfen.
Der andere Preisträger des internationalen Wettbewerbs ist gewissermaßen das Gegenteil: Eine sensible intime Beobachtung, ein offener Film, der sich seinem Gegenstand zögernd nähert, sich in privaten Räumen bewegt: Die »Silberne Taube« gewannen die beiden argentinischen Nachwuchs-Regisseurinnen Mercedes Halfon und Laura Citarella für The Poets Visit Juana Bignozzi.
Dieser Dokumentarfilm erzählt von einer jungen Dichterin, die das künstlerische Erbe der bekannten Poetin Juana Bignozzi weitertragen möchte. Die Jury stellte den »Ideenreichtum« heraus, »mit dem der Film sein Thema mit einer Frische und Energie umgesetzt ist, die an die französische Nouvelle Vague erinnert.«
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Von dieser Ausnahme abgesehen war vor allem Afrika Trumpf auch in den anderen Preisverleihungen. Den deutschen Wettbewerb gewann der Film Lift like a girl, eine Co-Produktion aus Deutschland und Ägypten. Die Filmemacherin Mayye Zayed begleitete über vier Jahre hinweg ein junges, anfangs 14-jähriges Mädchen, das mit Hilfe ihres Coaches in Alexandria zur Gewichtheberin wird – dies war tatsächlich einer der interessantesten Filme in einem deutschen Wettbewerb, der stärker war als in den vergangenen Jahren.
Noch ein drittes Mal Afrika: Den Wettbewerb der kurzen Dokumentar- und Animationsfilme gewann »Trouble Sleep« von Alan Kassander, eine französisch-nigerianische Koproduktion, ein rhythmisch-dynamisches Portrait des Lebens in der Stadt Ibadan.
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Was ist von dieser kontinentalen Konzentration nun zu halten? Sind die Dokumentarfilme aus Afrika nun wirklich soviel besser als aus dem Rest der Welt?
Eher nicht. Eher handelt es sich um einen Fall von kultureller Projektion und Exotismus.
»Afrotopia« – so heißt einer der wichtigsten Grundlagentexte eines neuen afrikanischen Selbstbewusstseins aus den letzten Jahren. Afrika als Utopie und Sehnsuchtsort, auch für die Afrikaner. Einerseits.
Andererseits ist dieses Manifest auch schon wieder eine kritisierte Stellungnahme, weil man hier ja einen ganzen Kontinent über einen Leisten schlägt und zusammenfasst.
Das darf man natürlich, es war aber zu auffällig, dass gleich vier Filme aus Afrika jetzt beim diesjährigen DOK Leipzig ausgezeichnet wurden, um hier nicht auch unter anderem einen politischen Willen zu vermuten – und das ist leider etwas, das diese Preisentscheidungen ein bisschen beschädigt.
Die Absicht des politischen Signals überdeckt die Filme selbst. Dokumentarfilm als Fortsetzung des Aktivismus mit anderen Mitteln.
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Anderes wurde – wie das so ist auf Filmfestivals – übersehen. Etwa der Film Considering the Ends von Elsa Maury – eine vielschichtige Reflexion über das Töten von Tieren
Oder aus Deutschland Hotel Astoria, das zu seltene Beispiel eines Films mit Archivmaterial, ergänzt durch sparsame reduzierte Animation. Der Film erzählt Geschichten aus einem zu DDR-Zeiten berühmten Hotel. Gäste wie Roy Black, vom Maler Werner Tübcke, der 1958 ein riesiges Wandgemälde für eines der drei Restaurants beisteuerte. Ex-Angestellte berichten von traumhaften Bedingungen – »ich konnte von meinem Trinkgeld leben«, wie von Mobbing und
Stasi-Bedrohungen.
Der Film ist auch eine Geschichte über Luxus in der DDR- und dessen Untergang. Am »Astoria« konnte man auch ablesen, wie der Staat zugrunde gegangen ist: »Man war abgestumpft, man war nicht mit dem Herzen dabei.«
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Der wohl schönste Film war Todo lo que se olvida en un instante, ein origineller Essayfilm, der zweisprachig zwischen argentinischem Spanisch und US-amerikanischem Englisch Schneisen in den Dschungel der gesamt-amerikanischen Identität schlägt. Der Regisseur Richard Shpuntoff, hat einen Film aus schwarzweißen und (selten) farbigen Archivbildern und neugedrehtem Schwarzweiß-Material montiert.
Zu den vielen herausfordernden Reizen des Films gehört,
dass er mit mal spanischer, mal englischer Erzählstimme und parallelen Untertiteln arbeitet, deren Sprache ebenfalls wechselt; dass beide Textebenen aber keineswegs identisch sind, sondern sich ergänzen.
Shpuntoff stammt aus New York, wuchs in Queens in einer jüdischen Familie in den 1970er und 80er Jahren auf. Sein Vater war relativ alt, wurde bereits 1919 geboren, als von Emigranten aus dem Zarenreich. Seit 2002 lebt er in Buenos Aires wo seine zwei Töchter geboren wurden. Seine Perspektive wechselt auch insofern, als das er einerseits als Sohn Reminiszenzen seines Vaters und seiner jüdischen Identität festhält, zugleich für seine Töchter als Vater erzählt.
Mit den zwei
Perspektiven ist sein Film auch eine Pendelbewegung zwischen zwei Städten, zwischen der privaten und der universalen Ebene, eine Reflexion über das Verhältnis der USA zu Lateinamerika. Everything That Is Forgotten in an Instant ist ein origineller Essayfilm über Identitäten und die Verschränkung von Familien- und Kulturgeschichte.
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Insgesamt war es ein sehr gutes DOK Leipzig, mit spürbaren frischem Wind durch einen neuen Leiter und eine etwas andere Ausrichtung, vor allem eine Konzentration auf das Wesentliche: 150 Filme sind immer noch viel und in dem Fall genug für ein Filmfestival, das fünf Tage lang dauert und in den vergangenen Jahren mit über 300 Filmen oft eine Überfülle erreicht hatte, die den einzelnen Film in dieser Menge untergehen ließ.
Die Straffung war ein Erfolg – und die Filme oft sehr
gut.