Lobende Erwähnung! |
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In nur 15 Minuten volle Komplexität: The Circle von Lanre Malalou | ||
(Foto: 19. doxs!) |
Von Christel Strobel
In diesem Jahr war – wie schon bei so vielen Filmfestivals – auch in Duisburg alles anders, wobei die letzte Entscheidung dann doch absolut kurzfristig notwendig wurde. Bereits seit April wurde an alternativen Konzepten gearbeitet, die nach dem Wunsch des Festival-Teams »auch im Falle eines erneuten Anstiegs der Corona-Fallzahlen dem jungen Publikum ermöglichen sollten, die Filme zu sehen und mit den Filmschaffenden darüber direkt ins Gespräch zu kommen«. Die Hoffnung, dass Schulklassen alle 18 ausgewählten Dokumentarfilme aus elf europäischen Ländern zusammen mit den internationalen Gästen im Kino, auf der Kinoleinwand sowohl in Duisburg als auch im Rahmen von »doxs! ruhr« in Bochum, Bottrop, Dortmund, Essen, Gelsenkirchen und Moers erleben können, erfüllte sich nicht. Nachdem auf Anweisung von Bund und Ländern ab 2. November – dem ersten Tag der Duisburger Filmwoche – der zweite Lockdown in Kraft trat, der auch die Schließung aller Kinos umfasst, musste das gesamte Programm als Online-Festival durchgeführt werden. Außer der Sichtung auf einer Online-Plattform boten moderierte Videokonferenzen mit den Filmschaffenden für die Schüler*innen die Möglichkeit zum Filmgespräch.
Auch die beiden Preisverleihungen, bei denen in diesem Jahr ein Jubiläum zu feiern war, fanden in digitaler Form statt.
Die GROSSE KLAPPE, gestiftet von der Bundeszentrale für politische Bildung, mit 5000 Euro dotiert und von einer Jugendjury (14 Mitglieder von 14 bis 17 J.) vergeben, wurde zum zehnten Mal verliehen. Preisträger 2020 ist:
The Circle
(Regie: Lanre Malalou, UK 2019, 15 Min., Alterssempfehlung ab 16 J.)
Es ist beeindruckend, wie dieser 15-minütige Dokumentarfilm ein komplexes wie brisantes Thema spannend und einfühlsam vermittelt. »Schwarz und aus Hackney – für die meisten ist damit alles klar. Der Londoner Stadtteil steht für Kriminalität, Drogen und Bandenkriege.«
Für die beiden Brüder David und Sanchez ist Hackney der einzige Ort, den sie kennen, und der ist sowohl der »liebenswerteste Ort« als auch einer, aus dem sie einfach nur weg wollen, denn sie wissen, dass es ein besseres Leben außerhalb gibt. Trotz aller rassistischen Anfeindungen haben sie die Zuversicht, etwas aus ihrem Leben machen zu können: »Wir machen das schrittweise und das kriegen wir hin.« Aber sie sprechen auch über schmerzliche Erfahrungen: »Es tut weh, wenn Leute um dich herum sterben, auch wenn man das nicht zeigt.« So wie der Bruder eines Freundes, der für David wie ein Mentor war und durch eine Messerstecherei ums Leben gekommen ist. Sie reflektieren über Vorurteile, so erzählt Sanchez von einer Situation, als er einen Anzug trug, aber »das ändert nicht, wie sie mich sehen. Wenn ich eine andere Hautfarbe hätte, würde ich anders behandelt werden. Das ist schwer zu verstehen.« Es macht sie psychisch krank, wenn sie immer wieder mit Ablehnung, mit Hass und Gewalt konfrontiert werden, Aber es gab auch Männer, die wie eine Vaterfigur für David waren, sein Fußballtrainer, Leute beim Jugendtreff und »Leute da draußen, die auf mich aufpassten.« Und natürlich bedeutet ihm die Mutter alles. »Jeder könnte aufhören, mich zu lieben und mich zu hassen, aber solange meine Mutter mich liebt, wäre mir alles egal.«
Diese sehr persönlichen Aussagen der Brüder David und Sanchez Smith sind mit teils beklemmenden, teils befreienden Choreografien visualisiert. Der Film hat die Jugendjury auch deshalb überzeugt, in ihrer Begründung heißt es u.a.:
»…Im Kontrast zu den gravierenden und aktuellen Problematiken, die der Film anspricht, stehen die beeindruckenden Choreografien, die die verschiedenen Themen untermalen und die Gedanken- und Gefühlswelt der Protagonisten in physische Bewegungen umwandeln. Bemerkenswert hierbei fanden wir, dass die Choreografien von einer lokalen Tanzgruppe umgesetzt wurden. Dadurch, dass Protagonist*innen aus Hackney eine Bühne geboten wird, wirkt der Film extrem authentisch.«
The Circle entstand in Zusammenarbeit mit dem Young Actors Theatre und dem Jugendzentrum Quest in Hackney. Der Regisseur und Choreograf Lanre Malalou, selbst in Hackney aufgewachsen, ist für Theater und Film in London tätig und verbindet in seinen Werken Texte, Hip-Hop, zeitgenössischen Tanz und Bewegungstheater, um soziale und politische Gegebenheiten zu hinterfragen.
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Die Jugendjury vergab noch eine Lobende Erwähnung an:
MEZERY / Spaces
(Regie: Nora Štrbová. CZ 2020, 8 Min., ab 15 J.)
mit der Begründung: »…Der Film thematisiert den Krankheitsverlauf des Bruders der Regisseurin. Besonders erwähnenswert sind Bild und Tonebene, welche sowohl Inhalt als auch Stimmung des Films gelungen repräsentieren. Vor allem die Variation in Zeichenstil und Geräuschkulisse beeindrucken uns sehr und verdeutlichen die Originalität des Films.«
Die in Bratislava geborene Regisseurin lebt in Prag und studierte dort an der berühmten FAMU (Film- und Fernsehfakultät der Akademie der Musischen Künste) mit Schwerpunkt Animation und Dokumentarfilm. Dementsprechend arbeitet sie gern dokumentarisch und widmet sich der experimentellen Animation, wofür Mezery ein gelungenes Beispiel ist.
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Ein überzeugendes Beispiel für Realfilm mit Animationselementen zum Thema Tod ist auch WOLKENZUSJE / Wolkenschwester
(Regie: Sara Kolster. NL 2019, 16 Min., ab 12)
Hier geht es um das Mädchen Kess, dessen große Schwester gestorben ist, als Kess fünf Jahre alt war. Sie spricht eigentlich nicht gern darüber, höchstens privat mit ganz guten Freundinnen, und befürchtet die Frage, ob sie Geschwister hat, wenn sie demnächst auf eine neue Schule kommt. Kess will es nicht vor der ganzen Klasse sagen, möchte kein Mitleid. Der niederländischen Künstlerin und Filmemacherin Sara Kolster ist mit der Verbindung der beiden Ebenen – Realfilm und Animation – eine sensible Reflektion über ein immer wieder berührendes Thema gelungen.
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Ein ganz anderes Problem beschäftigt eine Elfjährige in dem Film:
Aïcha
(Regie: Laura Bleck und Faraz Shariat, DE 2020, 20 Min., ab 12)
Eine Mädchengruppe, mehrheitlich ausländischer Herkunft, diskutiert lebhaft über Namen: »Jeder Name hat eine Bedeutung – mein Name bedeutet Sonnenschein – meiner die Freundliche«… Aϊcha weist selbstbewusst auf »das i mit zwei Punkten« in ihrem Namen hin. Zu Hause ist gerade ein Brief angekommen: Der Einbürgerungsbescheid löst große Freude bei der Mutter aus, Aϊcha schaut sich den genauer an und stellt fest: »Mama, da ist ein Fehler in meinem Namen!« und auf die Frage der Mutter: »Der zweite Punkt ist nicht da!« Nach deren Erklärung stellt die Tochter sie streng zur Rede, warum sie ihren Namen in Aicha geändert habe und lässt auch deren Erklärung, dass man manche Namen hier in Deutschland anders schreibt, nicht gelten. Aϊcha beharrt, dass ihr Namen mit zwei Punkten auf dem i geschrieben wird und nicht anders!
Was als amüsanter Disput erscheinen mag, ist nicht zuletzt ein ernsthafter Beitrag zur Diskussion über Identität, Selbstverständnis und Anpassung.
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Von einem Land, das allgemein nicht gerade für musikalische Aktivitäten bekannt ist, berichtet:
ORCHESTER Z KRAJINY TICHA / Orchester aus dem Land der Stille
(Regie: Lucia Kašov, SK 2020, 30 Min., ab 14 J.)
Kabul, Afghanistan 2019 – Der Film beginnt mit einem Vorwort: »Denen, die Musik hören, wird am Tag der Auferstehung geschmolzenes Blei in die Ohren gegossen. Hadith veröffentlicht von der Taliban in 1994 (Regierende Partei in Afghanistan 1996 – 2001)«
Und so wuchs Marzia mit dem Gebot ihres Vaters auf: »Gute Muslime machen keine Musik«, also erklang auch nie Musik, nicht mal auf Hochzeiten. Im Dorf hatte sie ein hartes Leben, konnte nie spielen, weil sie arbeiten und auch in ihrer Freizeit Hausarbeiten machen musste. Sie erzählt, dass es anderen Mädchen noch viel schlimmer geht, weil sie verheiratet sind, Kinder haben und zusätzlich noch arbeiten müssen.
Marzia aber hatte die Kraft zum Weggang nach Kabul, wurde dort im Zohra Ensemble aufgenommen, dem ersten und einzigen Frauenorchester Afghanistans. Nachdem sie schon sieben Jahre an der Musikschule in Kabul studiert hat, rief ihre Mutter an, dass sie dort aufhören soll – ihr Dorf wird von der Taliban kontrolliert und die Familie fürchtet Anschläge. Der Lehrerin jedoch gelingt es, dass Marzia im Orchester bleibt und schließlich auf Einladung mit zum »Festival Pohadka« in die Slowakei fährt. Dort werden die Musikerinnen jubelnd empfangen, und auch das Interesse an Informationen aus erster Hand über das wenig bekannte kulturelle Leben ist sichtlich groß. Der Orchesterleiter erinnert an die Zeit in Afghanistan, wo keine Mädchen die Schule besuchen durften – heute sind über 9 Mio. Kinder eingeschult und 40 % davon sind Mädchen. Er erinnert auch an den Anschlag eines Selbstmordattentäters auf das Orchester in 2014, wobei er sein Hörvermögen verlor und erst nach mehreren OPs seine Arbeit im Orchester wieder aufnehmen konnte. »Wir tun unser Bestes, diese Gegner zu schlagen mit der Schönheit der Musik.«
Und am Ende ist Marzia zu hören mit ihrem Wunsch, eine Dirigentin zu werden und in ihrem Dorf eine Schule zu bauen, um den Menschen dort zu helfen. Die Stärke des Dokumentarfilms Orchester aus dem Land der Stille liegt in der Vermittlung eines anderen Bildes, was in der Berichterstattung üblicherweise kaum beachtet wird.
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Die ECFA-Jury (European Children’s Film Association) vergab zum fünften Mal (was auch ein kleines Jubiläum war) den ECFA Documentary Award.Nominiert waren sechs Filme und die in diesem Jahr online beratende Jury (Linda Paulsen, Hamburg; Anna Pedroli, Amsterdam; Claudia Schmid, Luzern) entschied sich für
Wellen aus Licht
(Samuel Schwarz, DE 2019, 16 Min. ab 10 J.)
Frida, 12 Jahre, tastet mit ihrer Hand über ein Kunstwerk. Sie ist auf dem linken Auge fast und auf dem rechten Auge komplett blind und wir erleben mit ihr die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Eindrücke ihrer Umgebung, die sie klar formuliert. Am liebsten hat sie den Wald, wo sie durch das gleichmäßige Rauschen der Bäume und die Gerüche der Natur zur Ruhe kommt. Die Stadt mit ihren lauten Geräuschen und spürbaren Hektik dagegen ist anstrengend, bringt sie aus dem Gleichgewicht.
Frida denkt viel nach und kommt zu verblüffenden Erkenntnissen. Unvermittelt auf einem ihrer Waldspaziergänge sagt sie »ich glaube nicht an Engel, ich glaube auch nicht an Gott. Aber an die Energie, die wir in uns haben. Wir machen ja dauernd was und da werden wir ja angetrieben. Wir bleiben ja, wenn wir ein Ziel wollen, mit dem Ziel nicht einfach stehen, sondern machen weiter. Wenn wir wirklich wollen, bringen wir die Dinge zu Ende, von denen wir geglaubt haben, dass wir sie zu Ende bringen können. … Und an diese Energie glaube ich und schließt mit schöner Selbstverständlichkeit „und an mich.“«
Wellen aus Licht vermittelt das – auch formal durchdachte und mit Animationsteilen gestaltete – beeindruckende Bild eines nachdenklichen wie starken und selbstbewussten Mädchens – ein Film, der auch mein Favorit des diesjährigen Programms war.
Der Film entstand an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, wo Samuel Schwarz (Jg. 1996) nach Abschluss in Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft ein Regiestudium begann und als Autor und Regisseur tätig ist.
Karla und Nordahl
(Regie: Elisabeth Aspelin, NO 2019, 19 Min., ab 6 J.)
Nordahl, der große Bruder, hat Epilepsie und seine kleine Schwester Karla ist die wichtigste Bezugsperson für ihn. Karla ist geduldig, spielt mit ihm, hilft beim Anziehen und ist zärtlich zu ihm – meistens jedenfalls. Nur manchmal spricht sie über ihre Situation, denn sie muss auch immer wieder mal ihre Interessen zurückstecken, zum Beispiel: Karla will ein Spiel auf ihrem Tablett machen, aber Nordahl will mit ihr und seiner Kuschel-Stoffbiene spielen… Diese nicht ganz konfliktfreie Geschwisterbeziehung ist aber eingebettet in eine gelassen-heitere Grundstimmung ihrer Umgebung. So ist Karla und Nordahl ein sympathisches Regiedebüt von Elisabeth Aspelin, die dabei auch für Kamera, Montage und Ton verantwortlich war.
Circus Zonder Tent / Zeitloser Zirkus
(Regie: Nina Landau, BE 2020, 16 Min., ab 8 J.)
»Meine Familie ist ein Zirkus« kann die zwölfjährige Romy sagen, denn sechs Monate im Jahr treten sie – Vater, Mutter, Bruder und sie – in einem Vergnügungspark in Frankreich auf, wohnen währenddessen in einem großen Campingbus, dennoch eng zusammen, müssen zwischen den Vorstellungen immer wieder hart trainieren, was Romy manchmal an die Schmerzgrenze bringt, genießen zum Ausgleich den Abend zwischen Achterbahn und Trampolin, wenn alle Besucher weg und sie die einzigen Menschen dort sind. Das Zirkusleben bedeutet für Romy aber auch immer wieder einen traurigen Abschied von der Schulklasse in Belgien, die sie in der mehrmonatigen »Zirkuspause« besucht. Nina Landau hat mit »Zeitloser Zirkus« einen rasanten Dokumentarfilm gedreht, der einen Blick hinter die Zirkus-Kulissen wirft und für die meisten Kinder vor der Leinwand ein seltenes Vergnügen sein dürfte.
Schau in meine Welt: DANCING ABDULLAH
(Regie: Marco Giacopuzzi, DE 2019, 26 Min., ab 10 J.)
Der Junge Abdullah tanzt, wo er kann – zu Hause im Wohnzimmer, im Bad, im Hof… Er bewegt sich geschmeidig und rhythmisch stimmig zum HipHop. Er ist mit seiner Familie aus Syrien nach Deutschland gekommen, die erste Zeit war schwer. Es hat ihm wehgetan, wenn er als »Kanake« beschimpft wurde. Abdullah ist ein hübscher Junge mit einem feinen Gesicht und wilden dunklen Locken. Mit dem Trainer der Tanzgruppe verbindet ihn eine Freundschaft und in diesem Jahr fährt er mit ihm ins englische Blackpool zur Weltmeisterschaft. Abdullah kommt sogar ins Finale, schafft es aber nicht weiter. So hat er sich zum Ziel gesetzt, im nächsten Jahr wieder teilzunehmen und den 1. Platz zu gewinnen…!
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Aus diesen Filmvorstellungen geht schon das inhaltliche und formale Spektrum der diesjährigen doxs!-Ausgabe hervor und für das Team war es eine enorme Leistung, unter den gegebenen Umständen so kurzfristig das Festival als komplette Online-Ausgabe durchzuführen. Was natürlich fehlte, war der persönliche Austausch über die Filme und über die Arbeit und Pläne der anderen Fachbesucher, die man sonst in Duisburg regelmäßig trifft. Bei so einem Festival der kurzen Wege, das zudem immer in einer angenehmen wie kommunikativen Atmosphäre stattfand, war das ein besonderer Wert der Duisburger Filmwoche. So aber bleibt die Hoffnung auf ein »physisches Wiedersehen« im nächsten Jahr!