04.01.2021

Das Fernsehgericht tagt

Ferdinand von Schirach
Bjarne Mädel wieder mal in einer Paraderolle
(Foto: ARD)

Wie würden Sie entscheiden? Foltern – ja bitte! Der ARD-Ferdinand-von-Schirach-Film »Feinde« versucht sich an der Antwort auf eine rechtsphilosophischen Grundsatzfrage

Von Rüdiger Suchsland

Für Elena

Alle sind gegen Folter. Oder? Auf die Frage, ob Folter unter irgend­wel­chen Umständen gerecht­fer­tigt werden kann, scheint es auf den ersten Blick nur eine einzige Antwort zu geben: Nein, auf keinen Fall. Aber so einfach ist es leider nicht.

Natürlich gibt es gute Gründe, für Folter einzu­treten. Natürlich ist dieser Stand­punkt nicht chic, zur Zeit jeden­falls. Aber selbst­ver­ständ­lich würden sich viel mehr von uns im »stillen Kämmer­lein« zu ihm bekennen, als in der Öffent­lich­keit. Spätes­tens, wenn sie ihre Phantasie anstrengen, ihre mora­li­sche Empathie. Spätes­tens, wenn sie selbst vor ein exis­ten­ti­elles persön­li­ches Dilemma gestellt werden und nicht nur abstrakt, am Stamm­tisch des guten Gewissens entscheiden dürfen.

Insofern bietet »Feinde« nach Ferdinand von Schirach eine Menge moral- und rechts­phi­lo­so­phi­schen Spreng­stoff.
Aber ach, wenn es doch nur ein guter Film wäre!

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Ein guter Film ist »Feinde« nun leider keines­wegs. Hier wird eine Geschichte, wie die ARD vermeldet, »als Expe­ri­ment« mittels zweier Filmen »aus unter­schied­li­chen Perspek­tiven« »und einer weiteren Version in der ARD-Mediathek« erzählt. »Erstmals in der Geschichte des deutschen Fern­se­hens«, so heißt es stolz, zeige man »ein Projekt zeit­syn­chron im Ersten sowie in allen Dritten Programmen der ARD«.

Tatsäch­lich handelt es sich hier um eine Mogel­pa­ckung, in den zitierten Formu­lie­rungen sogar um bewusste Täuschung. Und insgesamt um die Frechheit eines einzigen Films, mit dem zeit­gleich zehn ARD-Programme voll­ge­schmiert werden – wenn man bisher noch kein über­zeu­gendes Argument für die Abschaf­fung der Dritten Programme gefunden hat: Hier ist es.

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Denn die »Filme« »Feinde – Gegen die Zeit« und »Feinde – Das Geständnis« und der mittel­lange 45-Minuten-Film »Feinde – Der Prozess« sind tatsäch­lich nur ein sehr breit getre­tener einziger Film. Die Handlung ist eine einzige geschlos­sene, sie hat das gleiche Ende, und sehr ähnliche Anfänge; sie wird zu 75 Prozent identisch erzählt, mit teilweise vari­ierten Kame­ra­per­spek­tiven, deren Unter­schied aber nie besonders raffi­niert ist, geschweige denn, dass er neue Erkennt­nisse oder gar unter­schied­liche Bewer­tungen des Falls eröffnete.

Der erste, »Feinde – Gegen die Zeit« ist in der ARD zum »Tatort«-Termin um 20.15 Uhr gesetzt und somit klar privi­le­giert. Die Haupt­figur ist hier der vom »Tatort­rei­niger« Bjarne Mädel gespielte Entfüh­rungs­ex­perte der Berliner Polizei namens Peter Nadler.
Als die zwölf­jäh­rige Lisa aus reichem Hause am Morgen auf dem Schulweg entführt wird, schaltet man ihn ein. Schnell kommt er durch Indizien auf den Sicher­heits­mann Georg Kelz. Wir Zuschauer wissen, dass Kelz tatsäch­lich der Täter ist. Wir wissen auch, was Nadler nur vermuten kann: Um die Lebens­ge­fahr für das Opfer, in deren Versteck der Sauer­stoff knapp wird. Aber der Täter schweigt. Nadler, der hier ganz seiner Intuition vertraut, ist deshalb nach stun­den­langen frucht­losen Verhören und einer schlaf­losen Nacht auch bereit, den Tatver­däch­tigen zu foltern. Und tatsäch­lich erfährt er nach ein paar Runden Water­boar­ding den Aufent­haltsort der Zwölf­jäh­rigen. Aber er kommt zu spät. Das Opfer ist erstickt.
Zunächst bleibt die Folter unbekannt, im Prozess arbeitet sie der Anwalt des Ange­klagten, Konrad Biegler, ein Vertei­diger der alten Schule, gespielt von Klaus Maria Brandauer, mit sicherem Instinkt heraus, bringt Nadler zu einem Geständnis und führt mit ihm eine rechts­phi­lo­so­phi­sche Debatte über das Prinzip der »Rettungs­folter«, wie Nadler analog zum »finalen Rettungs­schuss« gegen Geisel­nehmer, die Geiseln zu töten drohen, seine Handlung nennt.

Der parallel in den dritten Programmen ausge­strahlte »Feinde – Das Geständnis« erzählt diese Geschichte zunächst aus Bieglers Perspek­tive: Sich beide Teile nach­ein­ander anzu­schauen ist aber im Effekt vor allem ziemlich öde, da es weit­ge­hend dieselben Bilder sind, dieselbe Handlung und alles auch inhalt­lich sehr redundant. Außerdem ist die zusätz­liche Rahmen­hand­lung in der zweiten Version weitaus unin­ter­es­santer. Wen inter­es­siert es schon, ob der Anwalt, der eindeutig über 65 Jahre alt ist, irgend­welche gesund­heit­li­chen Probleme hat? Und dann von seinem Arzt (Samuel Finzi, wie so vieles verschenkt bzw. auf bloßes Name­drop­ping reduziert in einem Ein-Szenen-Auftritt) gesagt bekommt, er solle Fahrrad fahren und müsste auch sonst was für sich tun?

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Der dritte Film »Feinde – Der Prozess« wiederum ist gar nicht so achro­no­lo­gisch, wie behauptet wird, sondern setzt einfach erst mit dem Water­boar­ding ein – es folgen so ambi­tio­nierte wie auftrump­fend einge­setzte, affige Split­screens. Auch hier: Kein bisschen mehr Handlung und Erkenntnis als im ersten Teil – und man sollte jetzt bitte nicht argu­men­tieren, dass das nicht möglich gewesen wäre. So hätte man, um nur ein paar Beispiele zu nennen, im zweiten Teil andere Prozess­szenen zeigen können. Man hätte zeigen können, was der Ange­klagte im Nach­hinein zur Folter zu sagen hat. Man hätte zeigen können, wie die Eltern des toten Mädchens darauf reagieren, dass der Polizist sogar seine eigene Freiheit und sein eigenes Gewissen dafür aufs Spiel gesetzt hat, die Tochter zu retten. Man hätte zeigen können, wie die Kollegin Lansky (Katharina Schlot­hauer, eine der wenigen schau­spie­le­ri­schen Licht­blicke der ganzen Veran­stal­tung), die Nadlers Ansinnen zumindest skeptisch gegenü­ber­steht, aber doch ein gewisses Verständnis für den Kollegen hat, die Situation im Nach­hinein denn beurteilt. Schließ­lich hätte man zeigen können, wie Nadler der Prozess gemacht wird – und da wäre es etwa eine schöne Pointe gewesen, wenn Anwalt Biegler, der im Prozess durchaus mora­li­sches, aber nicht juris­ti­sches Verständnis für Nadler äußert, nun den Mann vertei­digt, dessen Tat er überhaupt erst aufge­deckt hat.

Aber für all das hätte man nicht nur Enga­ge­ment und ein bisschen Einfalls­reichtum an den Tag legen müssen, Produzent Oliver Berben hätte auch etwas Geld in die Hand nehmen müssen. So wirkt es zumindest, als hätte er der ARD/Degeto clever einen Film zum Preis für drei unter­ge­ju­belt.

Und die prak­ti­ziert ihr Lieb­lings­prinzip der Wieder­ho­lung, und zwar der Wieder­ho­lung des Immer­glei­chen zum Zeitpunkt der Erst­aus­strah­lung.

Schließ­lich: Was soll überhaupt der Titel »Feinde«? Wer sind hier die Feinde des Titels? Nadler und Biegler? Nadler und Kelz? Moral und Recht ? Genau dass solche Fragen entstehen, offenbart die Ambi­va­lenz und die Unent­schie­den­heit dieses Film­pro­jekts.

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Nun aber zur philo­so­phi­schen Frage, die der »Ein-Mann-Ethikrat der ARD« (SZ) Ferdinand von Schirach aufwirft. Dem ARD-Film liegt diesmal kein Stück oder Roman Schirachs zugrunde, sondern ein »Konzept und Drehbuch« des Autors. Das merkt man, denn die mora­li­schen, recht­li­chen und poli­ti­schen Alter­na­tiven sind weitaus weniger fein­ge­tuned, als in »Terror« oder »Gott«.

»Persön­li­ches Gerech­tig­keits­ge­fühl oder geltendes Recht? Das ist das Kernthema des Projekts 'Feinde'«. So wirbt die ARD für ihr »TV-Event« am heutigen Sonn­tag­abend. Diese Gegenü­ber­stel­lung ist hane­büchener Quatsch, ebenso wie der Verlauf des Prozesses, der die komplette zweite Hälfte des Films einnimmt. Denn faktisch macht der Film aus der vermeint­li­chen Unent­schie­den­heit seiner Frage eine ästhe­ti­sche Form, und posi­tio­niert sich dabei trotzdem ganz klar, auf der emotio­nalen wie visuellen Ebene zugunsten des Folterns, und hält sich zugleich auf der Wort-Ebene heraus und bleibt im Unent­schie­denen.

Vage zugrunde liegt allem zwar der scho­ckie­rende Fall des Entfüh­rungs­op­fers Jakob von Metzler. Zugleich ist im Fall Metzler offen­sicht­lich vieles anders gelagert und gelaufen. Beginnend mit der Tatsache, dass der Entführer sein Opfer bereits vor der ersten Löse­geld­for­de­rung ermordet hatte, dass er bereits vor seiner Verhaf­tung als Täter feststand, und dass es in seinem Fall nur zur Androhung von Folter kam, nicht zur Ausfüh­rung.
Was »Feinde« tatsäch­lich inter­es­sant macht, ist aber das philo­so­phi­sche Problem, das dem Fall zugrunde liegt. Man kann es so zusam­men­fassen: Darf man aus Menschen­liebe foltern? Kann eine demo­kra­ti­sche Gesell­schaft Folter zulassen?

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Die furchtbar recht­schaf­fenen absoluten Gegner der Folter argu­men­tierten bereits im Fall Metzler damit, dass es im Fall der Folter um die Vertei­di­gung prin­zi­pi­eller Rechts­normen ginge, nicht um eine höhere Moral.
Aber so einfach ist es nicht. Es geht bei dem Problem, das hier verhan­delt wird, nämlich gar nicht darum, dass diese Norm des Folter­ver­bots in irgend­einer Weise umstritten wäre. Es geht vielmehr um die Frage, ob diese Norm in jedem Fall absolut gilt? Und was passiert, wenn ihr etwas annähernd Gleich­wer­tiges, etwa eine andere Norm gegenü­ber­zu­stellen ist? Der Zweck einer Norm ist ja nicht die Norm selbst.

Denn natürlich gibt es neben allen Gegen­ar­gu­menten in bestimmten Fällen auch mora­li­sche Argumente für die Folter. Dies heißt nicht, dass diese letzt­end­lich über­wiegen und über­zeugen. Es heißt aber, dass sie legi­ti­mer­weise gestellt werden dürfen. Zum Beispiel die Frage: Darf man Tausende sterben lassen, ehe gefoltert wird, um diese zu retten?

Bei der Frage, ob Folter unter Umständen erlaubt sein darf, steht nicht wirklich indi­vi­du­elle Moral gegen Staats­räson, oder Gerech­tig­keits­emp­finden gegen Verant­wor­tung.
Tatsäch­lich könnte auch der folternde Ermittler neben seinem Gewissen ein über­ge­ord­netes Rechts­prinzip für sich in Anspruch nehmen: In diesem Fall das Recht des Opfers auf Leben und auf körper­liche Unver­sehrt­heit.
Er könnte gegen alle, die mit Immanuel Kants »Kate­go­ri­schem Imperativ« – »handle stets so, dass die Grundlage deines Handelns Prinzip einer allge­meinen Gesetz­ge­bung sein kann« – dafür argu­men­tieren, dass Folter bedin­gungslos verboten ist, gegen­fragen: Darf man zugunsten eines gerecht­fer­tigten allge­meinen Prinzips ein Menschen­leben opfern?
Kant hätte und hat die Frage bejaht. Aber es ist der alte Einwand gegen Kant, den schon zu dessen Lebzeiten Friedrich von Gentz erhob: »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.«

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Es steht das Allge­meine hier gegen das Einzelne. Und bevor man sicher ist, dass ein Einzel­fall kein allge­meines Recht wider­legen kann, möge man sich vorstellen, es wäre das eigene Kind, oder der Bruder, die Schwester, das entführt ist.

Wie hätten wir uns verhalten als Bürger des liberalen Rechts­staats? Zugesehen, wie ein Kind erbärm­lich verreckt? Oder gehandelt in einem Notstand? Was hätten Sie gemacht, liebe Leserin? Das Gleiche, was viele Gelehrte, schlaue Kommen­ta­toren, und weise Rechts­phi­lo­so­phen, im Fall Jakob von Metzler eilends zu Protokoll gegeben haben?

Wir möchten alle nicht wissen, wie die CIA, der Mossad, der BND zu ihren Infor­ma­tionen gelangen. Aber wir nehmen dann doch freudig an, dass der nächste Terror­an­schlag noch etwas auf sich warten lässt.

Fiat justitia pereat mundus – die Welt mag unter­gehen, wenn nur das Recht gilt?

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Das wahre Problem des Falls von »Feinde« ist gar nicht, dass der Polizist hier gefoltert hat, sondern dass er zu spät gefoltert hat. Dass ihn büro­kra­ti­sche Hemmnisse und juris­ti­sche Grund­satz­er­wä­gungen daran gehindert haben, früher zu handeln. Dann hätte das Mädchen gerettet werden können.

Das Problem des Films, eines von sehr vielen, ist hier der Verweis auf die Intuition des Experten. Der Polizist könnte sich irren und einen foltern, der kein Wissen preis­zu­geben hat.
Besser, der Dreh­buch­autor hätte diese Unklar­heit vermieden, und so das Dilemma um so klarer heraus­ge­ar­beitet.

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Man könnte sogar die mora­li­sche Kardinal-Frage noch verschärfen: Darf man einen Folter­knecht durch Folter vom Foltern abhalten?
Welche Würde hat einer, der anderen die Würde nimmt?

Die Antwort kann nur jeder Einzelne für sich geben. Und jeder Einzelne muss die Konse­quenzen seiner Antwort, nicht nur die juris­ti­schen, selber tragen.

Die produk­tive Provo­ka­tion von Schirachs Gedanken-Expe­ri­ment liegt darin, dass er die Möglich­keit aufwirft, hierfür juris­ti­schen Raum zu schaffen.

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»Denn der Mensch ist nicht der Justiz wegen, sondern diese Justiz ist des Menschen wegen.«
Ludwig Feuerbach