04.02.2021

Die Welt auf der Couch

In Therapie - Serie
Philippe Dayan (Frédéric Pierrot) hört Ariane (Mélanie Thierry) zu
(Foto: ARTE France)

Auf arte ist die französische Adaption eines der meist exportierten Serienformate überhaupt angelaufen – In Therapie erzählt aber nicht nur französische Traumata

Von Axel Timo Purr

„Wenn Sie verstanden haben, liegen Sie falsch.“
Jacques Lacan

Israe­li­sche Serien werden auf dem inter­na­tio­nalen Seri­en­markt seit Jahren wie hoch­wer­tige Rohdia­manten gehandelt. Man denke nur an das Remake von Prisoners of War – חטופים (Homeland: 2011-2020). Oder halt BeTipul – בטיפול, auf Englisch »In Treatment«, auf Deutsch »In Therapie«, das schon fast ein Serien-Urgestein ist, stand es doch ganz am Anfang des großen Serien-Booms. Die Serie lief schon von 2005 bis 2008 in Israel, also lange, bevor Netflix 2012 nach Europa kam. Dann nahm sich HBO dieses mit zahl­rei­chen Preisen bedachten, inno­va­tiven Formats an, das ober­fläch­lich, über fünf Wochen­tage verteilt, die Gespräche eines Thera­peuten mit vier Patienten und einer Super­vi­sorin schildert, gleich­zeitig aber die Traumata einer ganzen Gesell­schaft trans­pa­rent macht.

Die ameri­ka­ni­sche Adaption, die zwischen 2007 und 2010 in drei Staffeln produ­ziert wurde (jede Staffel mit neuen Patienten), ist allein schon durch das schau­spie­le­ri­sche Aufgebot – Gabriel Byrne als Therapeut, die junge Mia Wasi­kowska als Jugend­liche und Dianne Wiest als frühe Mentorin und jetzige Super­vi­sorin – ein Monolith im Reigen der dann folgenden Ausgaben, der kaum eine Welt­re­gion ausge­lassen hat: von Argen­ti­nien über Maze­do­nien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Portugal, Polen, Ungarn, Tsche­chien, Slowakei, Rumänien, Moldawien, Nieder­lande, Japan, Kanada, Russland, Italien bis Brasilien – und in diesem Jahr eine vierte Staffel für die USA, aller­dings mit völlig neuem Cast.

Und die Welt wie sie ist, hat es ja nicht nur wegen der gegen­wär­tigen Covid-Pandemie dringend nötig, sich auf die Couch zu legen. Denn inzwi­schen hat ja nicht nur Israel den »Krieg vor der eigenen Haustür«, und ist eine »thera­peu­ti­sche Serie« ein nicht zu unter­schät­zender Baustein, um unseren Verstö­rungen, Leiden und Trau­ma­ti­sie­rungen so etwas wie ein filmisch-thera­peu­ti­sches Auffang­be­cken zu bieten.

Für die nun auf arte ausge­strahlte fran­zö­si­sche Adaption zeichnet das durch Ziemlich beste Freunde bekannt gewordene Regie-Duo Éric Toledano und Olivier Nakache verant­wort­lich, die erst 2019 mit ihrem in den deutschen Kinos leider völlig unter­ge­gan­genen, großar­tigen Alles außer gewöhn­lich gezeigt haben, wie zerbrech­lich die fran­zö­si­sche Gesell­schaft und erst recht die fran­zö­si­sche Psyche ist.

In Therapie zeigt diese Verwer­fungen aller­dings erheblich ruhiger, in einer durch die Grund­kon­stel­la­tion der Serie ange­legten Kammer­spiel-Atmo­s­phäre von klas­si­schen Thera­pie­sit­zungen, die sich der Zuschauer im besten Fall auf die gleichen Tage verteilen kann wie in der Serie, um damit der ursprüng­li­chen Seri­en­idee gerecht zu werden. Doch die Welt bricht sich selbst­ver­ständ­lich immer Bahn, auch in dieses immer wieder kontem­pla­tive Setting, mehr noch, als Toledano und Nakache sich die sieben Wochen (also 35 knapp halb­stün­digen Folgen) nach dem Anschlag des »Isla­mi­schen Staates« auf das Bataclan im November 2015 ausge­sucht haben, um die fran­zö­si­sche Gesell­schaft auf die Couch zu legen.

Die Couch steht bei Dr. Philippe Dayan (Frederic Pierrot), einem Pariser Analy­tiker in seinen 50ern, der nicht nur mit seinen Patienten, sondern zunehmend auch mit sich selbst zu kämpfen hat. Denn die junge Chirurgin (Melanie Thierry), die ihn immer Montags besucht, hat nach dem Anschlag auf das Bataclon nicht nur im Dauer­ein­satz operiert, sondern zweifelt an ihrer Beziehung und überträgt dabei ihre Sehnsucht zunehmend auf ihren Thera­peuten. Ein Elite­po­li­zist (Reda Kateb), der durch den Einsatz im Bataclan trau­ma­ti­siert wurde, stellt die Thera­pie­si­tua­tion genauso in Frage wie ein Paar, das sich mit der Frage nach einem zweiten Kind (Clemence Poesy und Pio Marmai) ausein­an­der­setzt und die eigene Bezie­hungs­kon­stel­la­tion zu hinter­fragen beginnt. Und auch eine 16-jährige selbst­mord­ge­fähr­dete Hoch­leis­tungs­schwim­merin (Celeste Brunn­quell) will eigent­lich am liebsten ganz schnell die Couch mit einem Gegen­gut­achten verlassen statt auf die beun­ru­hi­genden Wurzeln ihres Handelns zu stoßen. Die eska­lie­renden Thera­pie­si­tua­tionen und eine Bezie­hungs­krise mit seiner Frau verun­si­chern Philippe so sehr, dass er selbst psycho­lo­gi­sche Hilfe im Rahmen einer Super­vi­sion sucht und seine alte Kollegin und Mentorin Esther (Carole Bouquet) besucht, die er 12 Jahre lang nicht mehr gesehen hat und die wohl schwächste Darstel­lerin des nicht ganz ausge­wo­genen Ensembles ist – nicht nur im Vergleich mit Dianne Wiest und der geschul­deten Tatsache, dass die Rolle eigent­lich mit einer deutlich älteren Darstel­lerin besetzt hätte werden müssen. Schade ist auch, dass Toledano und Nakache die Idee der ameri­ka­ni­schen Fassung aufge­geben haben, die Vornamen der Prot­ago­nisten mit denen der Schau­spieler zu besetzen, um noch einmal mehr den gene­ra­li­sie­renden tran­szen­den­talen Aspekt einer Thera­pie­si­tua­tion zu verdeut­li­chen.

Ansonsten folgt In Therapie der israe­li­schen und ameri­ka­ni­schen Vorlage im Kern sehr genau und lässt sich gerade genug Frei­heiten, um die Serie zu einer fran­zö­si­schen Serie zu machen. Sei es durch den Bezug auf den Bataclan-Anschlag, Verweise auf Jacques Lacan oder die alge­ri­sche Abstam­mung des Elite­po­li­zisten, der in der ameri­ka­ni­schen Fassung ein im Irak-Krieg trau­ma­ti­sierter Kampf­pilot ist, aber durch seine afro-ameri­ka­ni­sche Herkunft genauso iden­ti­täts­bil­denden Konflikten ausge­setzt war wie jetzt der Polizist Adel Chibane.

Gleich­zeitig wird aber auch in dieser Adaption gerade durch die Leich­tig­keit, mit der sich die Kern­pro­bleme auch auf den fran­zö­si­schen Kultur­raum über­tragen lassen, deutlich, wie ähnlich und austauschbar Angst, Leid und Trau­ma­ti­sie­rung sind, dass wir im Kern doch ganz ähnlich leiden, egal wo wir sozia­li­siert wurden. Und es wird einmal mehr deutlich, dass sich neben den Kindheits- und Fami­li­en­fak­toren für eine Therapie auch äußeren Faktoren in einer globa­li­sierten Welt zunehmend annähern, denn fast jedes Land hat inzwi­schen sein »Bataclan«, hat Bezie­hungen, die auf dem Prüfstand stehen, hat Jugend­liche, die durch die Erwar­tungs­hal­tungen und den Miss­brauch der Gesell­schaft zerbre­chen, hat versehrte Lebens­li­nien, die uns zu dem machen, was wir sind, verletzte Menschen. Verletzte Menschen, die dann aber auch erkennen, dass genau das zum Mensch­sein dazu­gehört. So wie das Reden darüber.

In Therapie ist seit dem 28. Januar 2021 auf der arte-Mediathek abrufbar und wird ab Donnerstag, den 4. Februar, wöchent­lich über sieben Wochen auf arte TV im Abend­pro­gramm gezeigt.