Die Welt auf der Couch |
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Philippe Dayan (Frédéric Pierrot) hört Ariane (Mélanie Thierry) zu | ||
(Foto: ARTE France) |
Von Axel Timo Purr
„Wenn Sie verstanden haben, liegen Sie falsch.“
— Jacques Lacan
Israelische Serien werden auf dem internationalen Serienmarkt seit Jahren wie hochwertige Rohdiamanten gehandelt. Man denke nur an das Remake von Prisoners of War – חטופים (Homeland: 2011-2020). Oder halt BeTipul – בטיפול, auf Englisch »In Treatment«, auf Deutsch »In Therapie«, das schon fast ein Serien-Urgestein ist, stand es doch ganz am Anfang des großen Serien-Booms. Die Serie lief schon von 2005 bis 2008 in Israel, also lange, bevor Netflix 2012 nach Europa kam. Dann nahm sich HBO dieses mit zahlreichen Preisen bedachten, innovativen Formats an, das oberflächlich, über fünf Wochentage verteilt, die Gespräche eines Therapeuten mit vier Patienten und einer Supervisorin schildert, gleichzeitig aber die Traumata einer ganzen Gesellschaft transparent macht.
Die amerikanische Adaption, die zwischen 2007 und 2010 in drei Staffeln produziert wurde (jede Staffel mit neuen Patienten), ist allein schon durch das schauspielerische Aufgebot – Gabriel Byrne als Therapeut, die junge Mia Wasikowska als Jugendliche und Dianne Wiest als frühe Mentorin und jetzige Supervisorin – ein Monolith im Reigen der dann folgenden Ausgaben, der kaum eine Weltregion ausgelassen hat: von Argentinien über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Portugal, Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Rumänien, Moldawien, Niederlande, Japan, Kanada, Russland, Italien bis Brasilien – und in diesem Jahr eine vierte Staffel für die USA, allerdings mit völlig neuem Cast.
Und die Welt wie sie ist, hat es ja nicht nur wegen der gegenwärtigen Covid-Pandemie dringend nötig, sich auf die Couch zu legen. Denn inzwischen hat ja nicht nur Israel den »Krieg vor der eigenen Haustür«, und ist eine »therapeutische Serie« ein nicht zu unterschätzender Baustein, um unseren Verstörungen, Leiden und Traumatisierungen so etwas wie ein filmisch-therapeutisches Auffangbecken zu bieten.
Für die nun auf arte ausgestrahlte französische Adaption zeichnet das durch Ziemlich beste Freunde bekannt gewordene Regie-Duo Éric Toledano und Olivier Nakache verantwortlich, die erst 2019 mit ihrem in den deutschen Kinos leider völlig untergegangenen, großartigen Alles außer gewöhnlich gezeigt haben, wie zerbrechlich die französische Gesellschaft und erst recht die französische Psyche ist.
In Therapie zeigt diese Verwerfungen allerdings erheblich ruhiger, in einer durch die Grundkonstellation der Serie angelegten Kammerspiel-Atmosphäre von klassischen Therapiesitzungen, die sich der Zuschauer im besten Fall auf die gleichen Tage verteilen kann wie in der Serie, um damit der ursprünglichen Serienidee gerecht zu werden. Doch die Welt bricht sich selbstverständlich immer Bahn, auch in dieses immer wieder kontemplative Setting, mehr noch, als Toledano und Nakache sich die sieben Wochen (also 35 knapp halbstündigen Folgen) nach dem Anschlag des »Islamischen Staates« auf das Bataclan im November 2015 ausgesucht haben, um die französische Gesellschaft auf die Couch zu legen.
Die Couch steht bei Dr. Philippe Dayan (Frederic Pierrot), einem Pariser Analytiker in seinen 50ern, der nicht nur mit seinen Patienten, sondern zunehmend auch mit sich selbst zu kämpfen hat. Denn die junge Chirurgin (Melanie Thierry), die ihn immer Montags besucht, hat nach dem Anschlag auf das Bataclon nicht nur im Dauereinsatz operiert, sondern zweifelt an ihrer Beziehung und überträgt dabei ihre Sehnsucht zunehmend auf ihren Therapeuten. Ein Elitepolizist (Reda Kateb), der durch den Einsatz im Bataclan traumatisiert wurde, stellt die Therapiesituation genauso in Frage wie ein Paar, das sich mit der Frage nach einem zweiten Kind (Clemence Poesy und Pio Marmai) auseinandersetzt und die eigene Beziehungskonstellation zu hinterfragen beginnt. Und auch eine 16-jährige selbstmordgefährdete Hochleistungsschwimmerin (Celeste Brunnquell) will eigentlich am liebsten ganz schnell die Couch mit einem Gegengutachten verlassen statt auf die beunruhigenden Wurzeln ihres Handelns zu stoßen. Die eskalierenden Therapiesituationen und eine Beziehungskrise mit seiner Frau verunsichern Philippe so sehr, dass er selbst psychologische Hilfe im Rahmen einer Supervision sucht und seine alte Kollegin und Mentorin Esther (Carole Bouquet) besucht, die er 12 Jahre lang nicht mehr gesehen hat und die wohl schwächste Darstellerin des nicht ganz ausgewogenen Ensembles ist – nicht nur im Vergleich mit Dianne Wiest und der geschuldeten Tatsache, dass die Rolle eigentlich mit einer deutlich älteren Darstellerin besetzt hätte werden müssen. Schade ist auch, dass Toledano und Nakache die Idee der amerikanischen Fassung aufgegeben haben, die Vornamen der Protagonisten mit denen der Schauspieler zu besetzen, um noch einmal mehr den generalisierenden transzendentalen Aspekt einer Therapiesituation zu verdeutlichen.
Ansonsten folgt In Therapie der israelischen und amerikanischen Vorlage im Kern sehr genau und lässt sich gerade genug Freiheiten, um die Serie zu einer französischen Serie zu machen. Sei es durch den Bezug auf den Bataclan-Anschlag, Verweise auf Jacques Lacan oder die algerische Abstammung des Elitepolizisten, der in der amerikanischen Fassung ein im Irak-Krieg traumatisierter Kampfpilot ist, aber durch seine afro-amerikanische Herkunft genauso identitätsbildenden Konflikten ausgesetzt war wie jetzt der Polizist Adel Chibane.
Gleichzeitig wird aber auch in dieser Adaption gerade durch die Leichtigkeit, mit der sich die Kernprobleme auch auf den französischen Kulturraum übertragen lassen, deutlich, wie ähnlich und austauschbar Angst, Leid und Traumatisierung sind, dass wir im Kern doch ganz ähnlich leiden, egal wo wir sozialisiert wurden. Und es wird einmal mehr deutlich, dass sich neben den Kindheits- und Familienfaktoren für eine Therapie auch äußeren Faktoren in einer globalisierten Welt zunehmend annähern, denn fast jedes Land hat inzwischen sein »Bataclan«, hat Beziehungen, die auf dem Prüfstand stehen, hat Jugendliche, die durch die Erwartungshaltungen und den Missbrauch der Gesellschaft zerbrechen, hat versehrte Lebenslinien, die uns zu dem machen, was wir sind, verletzte Menschen. Verletzte Menschen, die dann aber auch erkennen, dass genau das zum Menschsein dazugehört. So wie das Reden darüber.
In Therapie ist seit dem 28. Januar 2021 auf der arte-Mediathek abrufbar und wird ab Donnerstag, den 4. Februar, wöchentlich über sieben Wochen auf arte TV im Abendprogramm gezeigt.