Netflix-Serie »Tribes of Europa«: Angriff der Angst |
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Elja (David Ali Rashed) auf der Suche nach der verlorenen Zeit... | ||
(Foto: Netflix) |
Von Axel Timo Purr
»The European idea will never die« – »Vater« in »Tribes of Europa«
Es gibt Filme und Serien, denen man den Erfolg wünscht, auch wenn sie einen in vielerlei Hinsicht enttäuschen. Philip Kochs »Tribes of Europa«, von den Machern des deutschen Serienüberraschungserfolgs Dark mitproduziert und in Tschechien, Kroatien und Deutschland gedreht, gehört auf jeden Fall dazu.
Denn »Tribes of Europa« ist einer der wenigen filmischen Kommentare der letzten Jahre, der mutig und aufbegehrend und vor allem politisch zur gegenwärtigen Lage Europas Stellung bezieht. Der einfach die europäischen Verwerfungen durch Brexit und Co., durch europafeindliche, populistische Politiker und sich radikalisierende, pseudo-politische Entitäten beim Schopf packt und sie in das Jahr 2074 überführt, in der die gebündelten Ängste unserer Gegenwart zu dem auferstehen, was sein könnte, wenn wir nicht besser auf »unser« Europa achtgeben.
Das Europa dieser Zukunft ist nach einem globalen »Blackout« in tribalistische, regionale Einheiten zerfallen, von denen vor allem zwei »Ethnien« um die Vorherrschaft Europas kämpfen. Die faschistoiden, impulsiven, Gewalt zelebrierenden Crows und die aus dem Eurokorps gewachsene Crimson Republic, die über militärische Basen und autokratische Hierarchien die Tribes beschützen und die menschliche Zivilisation aufrechterhalten möchte. Denn neben diesem dichotomen Machtgefüge hat Showrunner Philip Koch zahlreiche andere »Tribes« platziert, die immer wieder in Gefahr geraten, von den »Platzhirschen« zerrieben zu werden. Als eine dieser kleinen Gruppen, die deutsch-sprechenden und ein wenig wie Öko-Fundamentalisten zurückgezogen lebenden Origins, ein futuristisches Artefakt findet, einen sogenannten Cube, ist es mit der selbstgewählten Isolation vorbei, denn der Cube verweist auf eine vom Fallout nicht betroffene, technologisch weit entwickelte Zivilisation, die Atlantier, deren Errungenschaften nicht nur heiß umkämpft sind, sondern denen man auch zutraut zu wissen, wer eigentlich an dem Untergang Europas die Schuld trägt.
Um die Komplexität dieser fragmentierten Strukturen zu verdeutlichen, konzentriert sich Koch in seinem Plot auf die drei Geschwister Liv (Henriette Confurius), Kiano (Emilio Sakraya) und Elja (David Ali Rashed), die durch den Cube-Fund ihren »Stamm« verlieren und, voneinander getrennt, lernen müssen, bei Crows, Crimsons und auf der Suche nach den Atlantiern zu überleben.
Das sind gute Grundvoraussetzungen für ein differenziertes, dystopisches Gedankenspiel, denn im Grunde lassen sich alle Stämme, auch die am Ende noch auftauchenden »feministischen« Femen, gut in unsere Gegenwart übertragen und deuten Kerngefahren jedes multiethnischen Staatssystems an. Dementsprechend erinnern die versehrten Landschaften, Städte und menschlichen Gemeinschaften an kollektive Traumatisierungen unserer jüngsten Vergangenheit, an ein zerfallendes Jugoslawien oder die Wellen von ethnisierter Gewalt nach den kenianischen Wahlen in den Jahren 2007 und 2008.
Doch statt auf originäre Motive, Bilder und Handlungen zu vertrauen, so wie es etwa die dänische Netflix-Dystopie The Rain (2018-2020) immer wieder überraschend vorgemacht hat, entscheidet sich »Tribes of Europa« für einen Remix aus Zitaten und Plot-Elementen bekannter und weniger bekannter, alter und neuer Vorbilder. Ein bisschen Mad Max, Blue Velvet, Star Wars, Herr der Ringe, Blade Runner, The Walking Dead, und sehr viel Game of Thrones, Die Tribute von Panem und der Postapokalypse-Porn diverser Spiele-Welten. Dadurch verliert die Serie ganz so wie das dargestellte, zersplitterte Europa zunehmend ihre »Identität«, ist immer weniger ein Ganzes, sondern ein notdürftig zusammengeklebter Notbehelf statt eines ja durchaus möglichen Amalgams.
Hinzu kommen Unsicherheiten in der Dialogführung, die sich, wie etwa in dem Dachterrassen-Gespräch zwischen dem Crimson-Commander David Voss (Robert Finster) und Liv, oft mehr nach Erklärdialogen statt organischen Gesprächen anhört oder bei der Befreiung der Crow-Gefangenen durch Liv auch schauspielerisch ins unfreiwillig Komische abgleitet. Denn so wie die hölzerne Idee zur Befreiung, so hölzern und völlig durchschaubar agieren hier auch die Schauspieler. Das wird immer wieder auch in der Person des von Oliver Masucci verkörperten Moses deutlich, die durch schmerzhaftes Overacting und einen grotesken Buddy-Humor die Glaubwürdigkeit der angelegten situativen Dramatik verspielt, und man wünscht sich nur, dass hier doch irgendwer auf das alte Sprichwort: »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold« gehört hätte. Auch wenn einige dieser Dialoge in ihrem wunderbaren, klugen Mix aus unterschiedlichen deutschen Dialekten und Englisch durchaus kreative und »politische« Wucht haben, etwa als Bibi & Tina-Held Emilio Sakraya in seiner Rolle als Kiano vor seiner ersten Vergewaltigung durch seine Crow-Herrin Grieta (Ana Ularu) gedroht bekommt: »Wenn du vor mir kommst, bringe ich dich um!«
Immerhin gelingt es Henriette Confurius (Golden Twenties) mit einer intensiv gespielten, verzweifelten Hilflosigkeit der Serie immer wieder den Ernst zurückzugeben, den eine Dystopie unbedingt braucht. Und mit diesem gebrochenen Ernst und erheblich konsequenter umgesetzten, binge-würdigen Spannungselementen wird »Tribes of Europa« dann zumindest in Ansätzen das, was man sich gewünscht hat: Ein rabiater, plastischer und spannender Angriff unserer Angst auf das Ende. Das Ende von Vernunft, Verstehen und Verständnis. Das Ende Europas.
»Tribes of Europa« ist seit dem 19. Februar 2021 auf Netflix abrufbar.