25.02.2021

Netflix-Serie »Tribes of Europa«: Angriff der Angst

Tribes of Europa
Elja (David Ali Rashed) auf der Suche nach der verlorenen Zeit...
(Foto: Netflix)

Philip Kochs Dystopie eines tribalistisch fragmentierten Europas ist ein spannender und furioser politischer Kommentar, enttäuscht aber erzählerisch

Von Axel Timo Purr

»The European idea will never die« – »Vater« in »Tribes of Europa«

Es gibt Filme und Serien, denen man den Erfolg wünscht, auch wenn sie einen in vielerlei Hinsicht enttäu­schen. Philip Kochs »Tribes of Europa«, von den Machern des deutschen Seri­en­ü­ber­ra­schungs­er­folgs Dark mitpro­du­ziert und in Tsche­chien, Kroatien und Deutsch­land gedreht, gehört auf jeden Fall dazu.

Denn »Tribes of Europa« ist einer der wenigen filmi­schen Kommen­tare der letzten Jahre, der mutig und aufbe­geh­rend und vor allem politisch zur gegen­wär­tigen Lage Europas Stellung bezieht. Der einfach die euro­päi­schen Verwer­fungen durch Brexit und Co., durch euro­pa­feind­liche, popu­lis­ti­sche Politiker und sich radi­ka­li­sie­rende, pseudo-poli­ti­sche Entitäten beim Schopf packt und sie in das Jahr 2074 überführt, in der die gebün­delten Ängste unserer Gegenwart zu dem aufer­stehen, was sein könnte, wenn wir nicht besser auf »unser« Europa achtgeben.

Das Europa dieser Zukunft ist nach einem globalen »Blackout« in triba­lis­ti­sche, regionale Einheiten zerfallen, von denen vor allem zwei »Ethnien« um die Vorherr­schaft Europas kämpfen. Die faschis­to­iden, impul­siven, Gewalt zele­brie­renden Crows und die aus dem Eurokorps gewach­sene Crimson Republic, die über mili­tä­ri­sche Basen und auto­kra­ti­sche Hier­ar­chien die Tribes beschützen und die mensch­liche Zivi­li­sa­tion aufrecht­erhalten möchte. Denn neben diesem dicho­tomen Macht­ge­füge hat Showrunner Philip Koch zahl­reiche andere »Tribes« platziert, die immer wieder in Gefahr geraten, von den »Platz­hir­schen« zerrieben zu werden. Als eine dieser kleinen Gruppen, die deutsch-spre­chenden und ein wenig wie Öko-Funda­men­ta­listen zurück­ge­zogen lebenden Origins, ein futu­ris­ti­sches Artefakt findet, einen soge­nannten Cube, ist es mit der selbst­ge­wählten Isolation vorbei, denn der Cube verweist auf eine vom Fallout nicht betrof­fene, tech­no­lo­gisch weit entwi­ckelte Zivi­li­sa­tion, die Atlantier, deren Errun­gen­schaften nicht nur heiß umkämpft sind, sondern denen man auch zutraut zu wissen, wer eigent­lich an dem Untergang Europas die Schuld trägt.

Um die Komple­xität dieser frag­men­tierten Struk­turen zu verdeut­li­chen, konzen­triert sich Koch in seinem Plot auf die drei Geschwister Liv (Henriette Confurius), Kiano (Emilio Sakraya) und Elja (David Ali Rashed), die durch den Cube-Fund ihren »Stamm« verlieren und, vonein­ander getrennt, lernen müssen, bei Crows, Crimsons und auf der Suche nach den Atlan­tiern zu überleben.

Das sind gute Grund­vor­aus­set­zungen für ein diffe­ren­ziertes, dysto­pi­sches Gedan­ken­spiel, denn im Grunde lassen sich alle Stämme, auch die am Ende noch auftau­chenden »femi­nis­ti­schen« Femen, gut in unsere Gegenwart über­tragen und deuten Kern­ge­fahren jedes multi­eth­ni­schen Staats­sys­tems an. Dementspre­chend erinnern die versehrten Land­schaften, Städte und mensch­li­chen Gemein­schaften an kollek­tive Trau­ma­ti­sie­rungen unserer jüngsten Vergan­gen­heit, an ein zerfal­lendes Jugo­sla­wien oder die Wellen von ethni­sierter Gewalt nach den kenia­ni­schen Wahlen in den Jahren 2007 und 2008.

Doch statt auf originäre Motive, Bilder und Hand­lungen zu vertrauen, so wie es etwa die dänische Netflix-Dystopie The Rain (2018-2020) immer wieder über­ra­schend vorge­macht hat, entscheidet sich »Tribes of Europa« für einen Remix aus Zitaten und Plot-Elementen bekannter und weniger bekannter, alter und neuer Vorbilder. Ein bisschen Mad Max, Blue Velvet, Star Wars, Herr der Ringe, Blade Runner, The Walking Dead, und sehr viel Game of ThronesDie Tribute von Panem und der Post­apo­ka­lypse-Porn diverser Spiele-Welten. Dadurch verliert die Serie ganz so wie das darge­stellte, zersplit­terte Europa zunehmend ihre »Identität«, ist immer weniger ein Ganzes, sondern ein notdürftig zusam­men­ge­klebter Notbehelf statt eines ja durchaus möglichen Amalgams.

Hinzu kommen Unsi­cher­heiten in der Dialog­füh­rung, die sich, wie etwa in dem Dach­ter­rassen-Gespräch zwischen dem Crimson-Commander David Voss (Robert Finster) und Liv, oft mehr nach Erklär­dia­logen statt orga­ni­schen Gesprächen anhört oder bei der Befreiung der Crow-Gefan­genen durch Liv auch schau­spie­le­risch ins unfrei­willig Komische abgleitet. Denn so wie die hölzerne Idee zur Befreiung, so hölzern und völlig durch­schaubar agieren hier auch die Schau­spieler. Das wird immer wieder auch in der Person des von Oliver Masucci verkör­perten Moses deutlich, die durch schmerz­haftes Over­ac­ting und einen grotesken Buddy-Humor die Glaub­wür­dig­keit der ange­legten situa­tiven Dramatik verspielt, und man wünscht sich nur, dass hier doch irgendwer auf das alte Sprich­wort: »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold« gehört hätte. Auch wenn einige dieser Dialoge in ihrem wunder­baren, klugen Mix aus unter­schied­li­chen deutschen Dialekten und Englisch durchaus kreative und »poli­ti­sche« Wucht haben, etwa als Bibi & Tina-Held Emilio Sakraya in seiner Rolle als Kiano vor seiner ersten Verge­wal­ti­gung durch seine Crow-Herrin Grieta (Ana Ularu) gedroht bekommt: »Wenn du vor mir kommst, bringe ich dich um!«

Immerhin gelingt es Henriette Confurius (Golden Twenties) mit einer intensiv gespielten, verzwei­felten Hilf­lo­sig­keit der Serie immer wieder den Ernst zurück­zu­geben, den eine Dystopie unbedingt braucht. Und mit diesem gebro­chenen Ernst und erheblich konse­quenter umge­setzten, binge-würdigen Span­nungs­ele­menten wird »Tribes of Europa« dann zumindest in Ansätzen das, was man sich gewünscht hat: Ein rabiater, plas­ti­scher und span­nender Angriff unserer Angst auf das Ende. Das Ende von Vernunft, Verstehen und Verständnis. Das Ende Europas.

»Tribes of Europa« ist seit dem 19. Februar 2021 auf Netflix abrufbar.