18.03.2021

Macht kaputt, was Euch kaputt macht

Polizeiruf 110 Sabine
Gefährliches Spiel mit dem Feuer
(Foto: Christine Schroeder / NDR)

Viele sind high, Luise ist Heyer: Der ARD-Polizeiruf »Sabine« war nicht nur wegen seiner Hauptdarstellerin ein ungewöhnlicher Lichtblick in der deutschen Krimi-Ödnis

Von Rüdiger Suchsland

»From the hands it came down
From the side it came down
From the feet it came down
And ran to the ground«
Johnny Cash – Redemp­tion

»Veit wusste, wann man sich an die Regeln halten musste, und wann nicht.«
Aus: »Sabine« von Stefan Schaller

Sabine weiß nicht, was sie tut. Obwohl, eigent­lich weiß sie es ganz genau. Sie weiß, was sie eigent­lich tun sollte, aber noch hindert sie das, was wir ihr »Gewissen« nennen. Und zugleich treibt es sie an. Ein Gefühl für Unge­rech­tig­keit und ein uner­bitt­li­cher Schmerz. Sie weiß, was gerecht ist, aber das Gewissen sagt: Das Gerechte ist ungerecht. Das Über-Ich und das Es kämpft mit dem Ich, und all das sieht man auf Luise Heyers Gesicht. Es geht hin und her in Sabine, die Pistole sitzt am Kinn kurz vor dem Abdrücken, und sie selbst kann es nicht fassen, dass sie das nicht geschafft hat. Und dann, während sie verstört eher vor sich wegläuft als irgend­wohin, mit der Pistole in der Hand durch die Plat­ten­bau­sied­lung, dann weiß sie plötzlich, was sie tun muss. Sie geht runter, läuft ihm hinterher, sieht den Typen vor sich, der unter ihr wohnt und der seine Frau regel­mäßig zusam­men­schlägt, und sie weiß, wenn jetzt auf einmal die Kugel den Lauf verlässt, sie es einmal schafft, ihre unglaub­liche Wut loszu­werden, dann trifft es keinen Falschen.

Vorher saß sie in der Küche, dachte nach. Sie wusste: Es hat alles keinen Sinn mehr. Sie wusste, der Weg wird immer weiter bergab führen, er wird sie in den Abgrund reißen, und mir ihr ihren Sohn, sie kann ihn nicht retten, keine Chance.

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Es ging los mit der Werks­schließung. In Rostock. Zum x-ten-Mal ein Konzern, der nur an die Rendite denkt, nicht an die Menschen. Verpflich­tungen, die nicht einge­halten werden. In den Nach­richten heißt es: »Im Gegenzug hatten die 800 Ange­stellten Gehalts­kür­zungen und höhere Arbeits­zeiten ohne Lohn­aus­gleich in Kauf genommen.« Sabine ist eine von ihnen.
Die Unge­rech­tig­keiten häufen sich. Das Arbeitsamt weist sie zurück. Die Bank, obwohl dort ein Schul­freund arbeitet. In der Schule des Sohnes hört die allein­er­zie­hende Mutter auf die Frage, warum ihr Sohn keine Empfeh­lung fürs Gymnasium bekommt, Klartext: »Wer hilft Jonas beim Lernen? In Mathe, Physik, Chemie? Wer hilft ihm, den Druck auszu­halten, der dann bis zur siebten Klasse immer weiter anziehen wird? Weil aussor­tiert wird, wer den langen Weg bis zum Uni Abschluss schaffen wird, und wer eben nicht.«

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Wenn man schon mal die Mutter von Hape Kerkeling gewesen ist, dann kann einem nicht mehr viel passieren. Diese Mutter­rolle in dem Film Der Junge muss an die frische Luft bietet schon einen der vielen Schlüssel zu diesem erstaun­li­chen Film aus der Reihe »Poli­zeiruf 110«, den wir alle jetzt noch in der ARD-Mediathek nachholen können. Denn auch hier ist eine Mutter in gewissem Sinn über­for­dert und ihr Sohn ihr in gewissem Sinn überlegen, aber hier findet die Mutter einen Weg zurück ins Leben, und nutzt die eine Chance, nicht nur ihre Würde zu wahren, sondern in gewissem Sinn frei zu bleiben und zu handeln.

Luise Heyer spielt diese Mutter. Und sie hält genau die Mitte. Sie gibt ihrer Verzweif­lung eine Schönheit und Inten­sität, sie zeigt wie aus Fassungs­lo­sig­keit Wut erwächst und die Wut zur Tatkraft wird, und die Aussichts­lo­sig­keit einen kalt­blütig macht.
Kein bisschen Fana­tismus ist in dieser Figur. Auch keine selbst zurecht­ge­zim­merte Moral. Um Moral geht es Sabine nicht, um Gerech­tig­keit schon, und zu zeigen, dass das kein Wider­spruch ist, sondern konse­quentes Verhalten, ist Luise Heyers große Leistung.

Luise Heyers Sabine wird vier Leute töten, zum Teil zufällig, zum Teil genau die, die sie töten will. Und sie alle haben es in gewissem Sinn verdient.
Sabine ist keine »Amok­läu­ferin«, wie die »Bild«-Zeitung schreibt, selbst verzwei­felnd sich um den Skandal herum­drü­ckend, den dieser Film für die bürger­liche Moral des »Du sollst nicht töten« und »Jedes Leben zählt« darstellt. Denn dieser Film sagt: Nicht jedes Leben zählt gleich. Und manchmal kann das Töten gerecht sein.

Dieser Film spielt mit der klamm­heim­li­chen Freude an der Gewalt. Er spielt mit der Zustim­mung zu dieser Figur, die eine kalt­blü­tige Mörderin ist. Das macht seine Stärke aus.

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Regisseur Stefan Schaller hat mit seinem Film 5 Jahre Leben über den deutsch-türki­schen Staats­bürger und Guan­ta­namo-Häftling Murat Kurnaz gezeigt, dass er radikale Filme machen kann, dass er mindes­tens inhalt­lich radikales Kino machen will, dass er die übliche Glätte deutschen Film­schaf­fens zu vermeiden versteht und die schlechte Geschmei­dig­keit des mittleren Realismus im deutschen Film verachtet.

Schaller blickt nicht weg, er zeigt auch hier Häss­lich­keit und Elend und Not und Leiden sehr direkt, aber nie so, dass der Zuschauer zu irgend­etwas erzogen wird. Dass er »hingucken muss«, »mitleiden muss«, »verzwei­feln muss«. Das ist kein Film des Müssens, hier wird nichts forciert – darum geschieht um so mehr.

»Sabine« ist ein ARD-Poli­zeiruf, aber er wäre auch hervor­ra­gendes Kino.

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Ein inter­es­santer Eintrag findet sich auf der Wikipedia-Seite zu »Sabine« von heute. Dort heißt es: »Die Erst­aus­strah­lung erfolgte am 14. März 2021 im Ersten, wobei der drama­ti­sche Schluss durch die minu­ten­lange Einblen­dung einer angeb­li­chen ›Eilmel­dung‹ der ARD entstellt wurde, bei der es sich jedoch lediglich um einen Programm­hin­weis in eigener Sache auf die nach­fol­genden Tages­themen handelte.«

Tatsäch­lich war es so verstö­rend wie ärgerlich, mitten im Showdown, als Sabine gerade die Kommis­sare zu erschießen und sich selbst zu verbrennen droht, zu erleben, dass die ARD banale Prozent-Updates zu den längst entschie­denen Land­tags­wahlen als »Eilmel­dung« in den Film hinein­bre­zeln lässt.

Hier muss man beinahe an Absicht glauben – ih ih ih, Verschwö­rungs­theorie! -: Hat die ARD viel­leicht im letzten Moment doch Angst bekommen? Hat sie gemerkt, was sie hier tatsäch­lich tut: Der Spießer-Moral und dem wohl­tem­pe­rierten Gefühls­ma­nage­ment des deutschen Fern­se­hens einen Schlag ins Gesicht versetzen. Mit dem Baseball-Schläger.

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Dies ist ein unan­ge­nehmer Film. Weil er einem die eigene Doppel­moral klarmacht, auch da, wo wir mit Sabine mitgehen. Weil er Manager und Kredit­be­rater und sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Betriebs­räte von ihrer realis­ti­schen, also extrem unsym­pa­thi­schen Seite zeigt. Sie sind alle Menschen. Sabine aber auch. Und weil er zeigt, wie die Medien, also das den Film ausstrah­lende Fernsehen bei allem mitspielen: Beim Stel­len­abbau, beim Banken­ret­tungs­paket, beim Corona-Bekämpfen.

Am Schluss sieht Jonas, der neun­jäh­rige Sohn von Sabine die ARD-Nach­richten. Dann nimmt er den Hammer und haut den Fernseher kaputt.