Die Chaostheorie des politischen Bewusstseins |
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Typische Handbewegung des analogen Zeitalters | ||
(Foto: BBC / Adam Curtis) |
»The age of self-expression has become very rigid. One of the things I tried to put into these films but couldn’t find the stories to do it, is that everyone is very self-conscious today and feels they're being watched. It’s almost like you're in a Victorian novel, but actually there’s no one there. There’s something very deep in society at the moment. What I want to say to people is: we made the world the way it is; it didn’t just happen. And if we did that, we can make it different. You can’t say: 'Oh, it’s all going to be nice now Joe Biden’s come back into power.' Bad things happen because we and our leaders let them happen or created them. And if that’s true, then we can change it. That’s the optimistic thing I’m trying to say.«
Adam Curtis, 2021 (zitiert nach: »The Guardian«)
»Can’t Get You Out Of My Head« – von Kylie Minogues gleichnamigem Welthit stammt der Titel – und nicht nur mit dieser offenkundigen Pop-Referenz sagt uns der Filmemacher: Dies ist auch ein unterhaltsamer Film, eine kulturgeschichtliche Zeitreise, die Spaß machen soll – und die tatsächlich Spaß macht.
Zugleich ist dieser Film ein monumentales Unterfangen: In sechs Teilen, von denen jeder Teil die klassische Spielfilmlänge überschreitet, bietet »Can’t Get You Out Of My Head« eine Geschichte des »individualistischen Zeitalters«, der »Emotionsgeschichte der Moderne« und eine Diagnose der Gegenwart.
Denn was verbindet unter anderem die radikalen Schwarzen Bürgerrechtler der Black Panther mit der Mao-Gattin Tschiang Tsching, mit dem Schriftsteller Alexander Solchenyzyn, der Erfindung der Folk-Musik, und dem Rapper Tupac Shakur? Was verbindet Leonid Lubjanitsky, der in seinem ersten Leben sowjetischer Dissident des Moskauer Underground war, in seinem zweiten Leben russischer Mafiosi, Schriftsteller und Obdachloser (in dieser Reihenfolge) in Brighton Beach, in seinem dritten Leben Nationalbolschewist wieder in Moskau, mit John Lennon, mit dem RAF-Anwalt Horst Mahler, der sich aus einem linken Bürgerrechtler zu einem Rechtsextremen entwickelt hat, mit britischen Ehefrauen aus Mittelstandsverhältnissen, die in den 1960er Jahren entweder valiumsüchtig wurden, oder für ihr Recht eintraten, sich scheiden zu lassen, und mit ihren Kindern, der westeuropäischen Mittelstandsjugend, die alle »etwas Kreatives« arbeiten wollen?
Die Antwort ist eigentlich ganz einfach: Es ist der Individualismus; die Vorstellung, dass jeder Einzelne ein unverwechselbares Selbst hat, das sich ausdrücken muss. Und dieser Ausdruck, diese Selbst-Expressivität sind Ziel und Sinn des Lebens.
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»Ich hasse Verschwörungstheorien. Ich finde sie einfach ziemlich langweilig. Sie sind heute so populär, weil sie dem Denken der gegenwärtigen Menschen so gut entsprechen. Die Leute denken nur noch in Fragmenten. Sie assoziieren, parallelisieren, stellen nebeneinander, aber dahinter steckt keine echte Bedeutung. Es sind nur die Vereinfachungen und Dummheiten die Welt, in der wir leben.« Dass der Mann ein Gespür für Themen hat, die in der Luft liegen, zeigt der Zeitpunkt, an dem dieses Zitat fiel: Im Mai 2010 stellte Adam Curtis seine Filme erstmals in Deutschland bei den Kurzfilmtagen Oberhausen vor.
Aber bereits seit fast dreißig Jahren gehört Curtis, geboren 1955, zu den für eine breitere Öffentlichkeit unbekanntesten, zugleich wichtigsten Filmemachern aus Großbritannien. Seine Filme laufen auf internationalen Festivals, ab und zu sogar bei den Filmfestspielen in Cannes.
Die meisten seiner Werke sind zwar Mehrteiler; man kann sie aber auch in einem Zug, quasi als einen Film, ansehen. Manchen genügt die Spielfilmlänge, sehr viele von ihnen wurden internationale Erfolge: »Pandora’s Box«, »The Power of Nightmares« über die Vorgeschichte des 11. September und des islamischen Fundamentalismus seit den 1950er Jahren und ihre Verwandtschaft mit der neokonservativen Bewegung in den USA; und natürlich der Vierteiler, der seinen Ruhm
begründete: »The Century of the Self« über die Geschichte der Psychoanalyse, der Propaganda und die Parallelen beider Geschichten.
Eines der bemerkenswertesten Dinge, die man zu Curtis erzählen kann, ist, dass er fast alle seine Filme sehr schnell komplett frei ins Internet stellt. Man kann sie auf seiner eigenen Homepage, über Youtube und auf anderen Plattformen frei abrufen – für ihn ist das eine glasklare Sache, denn die Filme wurden von öffentlichen Geldern für
öffentlich-rechtliche Sender produziert, sie gehören also den Bürgern, die sie bezahlt haben, und sie sind als Information und Aufklärung gedacht.
Curtis ist einer der wichtigsten Filmemacher aus Großbritannien. In den letzten zwanzig Jahren hat er eine ganz eigene und eigenwillige Form von politischem Essayfilm entwickelt, die sich in mancher Hinsicht an die besten Traditionen des britischen Dokumentarfilms und des »Free Cinema« anschließt. Seine Filme sind von komplexen assoziativen Montagen geprägt und bieten eine Collage aus atemberaubenden Funden im Archivmaterial, die durch einen Off-Erzählertext zusammengehalten werden. Das Ergebnis ist ein filmischer Bewusstseinsstrom, der Material aus Soziologie, politischer Theorie, Geschichte und Psychologie zu bislang ungesehenen Bildern verbindet, im Stil derart verführerisch, dass es schwerfällt, sich als Zuschauer dem Sog von Curtis' Gedanken, auch seiner Thesen, zu entziehen.
Adam Curtis ist ein politischer Filmemacher. Er ist engagiert, zwar unparteiisch und »britisch nüchtern« im Benennen und Präsentieren von Fakten, aber nicht in ihrer Bewertung. Er nimmt kein Blatt vor den Mund und ist zornig. Curtis greift die Mächtigen an, misstraut den globalen Konzernen und den Finanzinstitutionen. Zugleich ist er offenkundig von den dunklen Seiten der Macht fasziniert. In seinen Filmen gibt es immer wieder überraschende Verbindungen, verborgene Agenden und Pläne, geheime Zirkel, Treffen abseits der Öffentlichkeit. Curtis liebt auch Koinzidenzen und überraschende Gleichzeitigkeit von Gegensätzen.
Vielen seiner Filmemacherkollegen wirft er vor, »dass sie nur das machen, von dem sie glauben, dass es das Publikum hören will und ertragen kann, ähnlich wie alle politischen Parteien mit den Wählern.« Zensur werde quasi im Hirn der Macher bereits vorweggenommen. »Das ist eine Normierung des Bewusstseins.« Es müsse aber doch das Ziel sein, aufzuklären.
Selbst möchte er sich dabei aber keinesfalls als Künstler verstanden wissen. »Ich stehe in der besten Tradition klassischen
BBC-Journalismus, meine Filme sind wie Reportagen aus den 60er oder 70er Jahren, die ihrem Publikum das Tor zu einer unbekannten Welt erschließen.« Darin mag ein Stück echter Bescheidenheit liegen, auch die bekannte Furcht eines Linken, für einen »bürgerlichen Intellektuellen« gehalten zu werden.
Tatsächlich ist Curtis in vieler Hinsicht eine Ausnahme: Einer, den man nicht einfangen kann, der durch seinen internationalen Erfolg die Lizenz zum Experiment, Zeit zur Recherche
und die Freiheit zum Außergewöhnlichen hat – und dessen Filme eher billig sind, was diese Freiheit sichert. Zugleich aber dient Curtis einer zunehmend normierten und den Controllern unterworfenen Organisation auch als Feigenblatt.
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»These films are a history of how we got to this place. And why both those in power and we find it so difficult to move on...«
Aus dem Off-Kommentar
Das neueste Werk des 65-jährigen verbindet disparate Elemente und mündet in eine Art Chaostheorie des politischen Bewusstseins: Die antikapitalistische Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre führt zum Fall des Eisernen Vorhangs in den Achtzigern und dem Triumph des Westens. In den Neunzigern erlebte die Menschheit den Gipfel der westlichen Idee des Individualismus – doch zugleich wuchsen Ängste und Verschwörungstheorien und der Wunsch, ihrer Herr zu werden
durch Wellness- und Selbstoptimierungswahn.
Auch der Brexit oder die Wahl von Donald Trump, beides im Jahr 2016, sind hier sogenannte Schmetterlingseffekte, vielleicht nur ausgelöst durch ein paar dumme Zufälle, verändern sie das ganze Bild der Geschichte.
Zugleich konstatiert Curtis die zunehmende Unfähigkeit der politischen Lager, den ermüdeten Demokratien noch weiterhin eine Zukunftsvision zu geben. Daraus entwickelt sich die Serie auch zu einem Portrait des einstweiligen Scheiterns der Linken.
So stellt sich dann die Frage nach der Zukunft der Demokratie und des westlichen Modells von Wohlfahrtsstaat und sozialpartnerschaftlicher Gesellschaftsordnung.
In prägnanter und wie gesagt oft genug verführerischer Form erklärt Adam Curtis uns allen, was wir denken und warum wir denken, was wir denken.
»Keiner, der gegen den Rechtspopulismus ist, hat eine echte Alternative«, heißt es im Film. Nur die Eliten der globalen Wirtschaft. Katastrophen wie 9/11, die Bankenkrise oder Covid-19 sind ihnen eine Chance, ihre lang präparierte Agenda in die Tat umzusetzen – davon ist jedenfalls Curtis überzeugt. Die Gefühle der Menschen
sind in seiner Emotionsgeschichte die Grube, die sie sich selbst gegraben haben.
»What you felt and what you wanted and what you dreamed of were going to become the driving force across the world. And to understand the present you have to go back and see what happened when those hopes and dreams and uncertainties inside people’s minds went to much older forces of those in power.«