15.04.2021

Das Leben in Argentinien

Silence is a falling Body
Silence is a falling Body: Eine Spurensuche...
(Foto: Invasion Filmfest)

Eine kleine Filmreise in ein anderes, fernes Land, per Online-Links – ausgelagerte Perlen des »Invasion. Das Argentinische Filmfestival«

Von Rüdiger Suchsland

Man muss Argen­ti­nien nicht mögen, um zu erkennen, dass dies ein ganz beson­deres Land ist, einmalig in Latein­ame­rika. Aber es hilft.
Das Kino dieses Landes ist auch besonders, und es gehört zu den besten, nicht nur des Konti­nents, sondern der Welt.
Da geht es anderen Leuten offenbar ähnlich wie mir. Zum Beispiel in Berlin.

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»Mein Vater hat unun­ter­bro­chen gefilmt. Sogar als er 1999 bei einem Unfall starb, hielt er seine Kamera in der Hand.« – was für ein schöner Anfang! Es ist der erste Satz zu den ersten Bildern des Films Silence is a falling Body (»El Silencio es un Cuerpo que cae«) von Agostina Comedi. Als der Vater starb, war sie erst zwölf Jahre alt, insofern ist dieser Film auch eine Form, mit dem Vater, den sie nie als Erwach­sene kannte, postum zu kommu­ni­zieren.

Dies ist eine Spuren­suche, die sich zusam­men­setzt aus Frag­menten. Bildern, Tönen, Worten, Gedanken. Suche nach der verlo­renen Zeit, nach dem verlo­renen Lebens­ge­fühl. Aufnahmen von den Euro­pa­reisen eines Argen­ti­niers, irgend­wann mal in Rom, irgend­wann in der Schweiz durch die Berge im fahrenden Zug, ein Besuch in Disney­land 1993. Manchmal sind die Daten einge­blendet in einer altmo­di­schen Digital-Schrift, die man damals, ich kann mich auch noch erinnern, als »futu­ris­tisch« empfand.

Die Regis­seurin, die den Film auch aus dem Off erzählt, weiß selber nicht genau, was sie sucht. Das gibt sie zu und diese Offenheit macht ihren sehr persön­li­chen Doku­men­tar­film spannend. Er kommt ohne »Thema« aus, ohne alles Plakative, was Doku­men­tar­filme heute leider oft haben, er zeigt einfach.
Er zeigt etwas, was der Filme­ma­cherin offen­sicht­lich sehr nahe ist. Und da sie aus »normalen« Mittel­stands­kreisen kommt, kommt das auch mir sehr nahe vor.
Allmäh­lich entfaltet sich da das Leben einer Familie in Argen­ti­nien in den 80er und 90er Jahren. Der Vater war ein Filmnarr; er war aber auch ein Aktivist bei der halb-illegalen Kommu­nis­ti­schen Partei. Und er liebte, wie man so sagt, das Leben. Also Frauen, Essen, Fußball, Reden, Kino. Nicht notwendig in dieser Reihen­folge. Er liebte auch Männer. Vor seiner Heirat war er elf Jahre mit einem liiert.

Wie das in Familien so ist, die ja nach einer Bemerkung von Tolstoi »alle auf ihre eigene Art unglück­lich« sind, gibt es Geheim­nisse und unan­ge­nehme Wahr­heiten, Beob­ach­tungen auf den zweiten Blick, kleine Zeichen und Signale, und Offen­heiten.
Und weil Argen­ti­nien das wohl euro­päischste Land Latein­ame­rikas ist, also das Land des Konti­nents, das uns Europäern am nächsten steht, hat dies alles, obwohl sehr fern, auch ganz viel mit uns zu tun.
Ich kann diesen Film nur allen empfehlen.

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Insgesamt sind es nur vier Filme, die jetzt aus dem Festival Invasion. Das Argen­ti­ni­sche Film­fes­tival ausge­la­gert und digital gegen eine Eintritts­ge­bühr zu sehen sind. Alles Doku­men­tar­filme, sehr verschieden, und sie lohnen sich alle.
Viel besser als immer nur das übliche Rumge­streame. Und auch filmisch anders, eben argen­ti­nisch.