15.04.2021

Jasmila Žbanićs Srebrenica-Film: Eine Oscar-Nominierung und die Frage Quo vadis, Bosnia?

Quo Vadis, Aida
Geschichte »übersetzen«
(Foto: Farbfilm)

Die bosnische Regisseurin Jasmila Žbanić hat sich an eine Verfilmung des Genozids in Srebrenica gewagt und für Quo vadis, Aida? eine Oscar-Nominierung erhalten. Der Film richtet sich gegen das Vergessen und für die Versöhnung – und er vermittelt politisch wirkungsvoll zwischen Hollywoodpublikum und post-jugoslawischer Realität.

Von Miranda Jakiša

Filme über tatsäch­liche Ereig­nisse machen sich vorher­sehbar die Hüter histo­ri­scher Wahrheit zum Feind, gerade jene, die sich auf Zeit­zeu­gen­schaft berufen können. 2021 jährt sich erst zum 26. Mal, dass in die kleine Stadt Srebre­nica, eine dekla­rierte Schutz­zone der UN im Osten Bosniens, die Armee der Republika Srpska einmar­schierte und im Zuge ihrer ethni­schen Säube­rungs­mis­sion Tausende musli­mi­sche Männer und Jungen ermordete. Das Feld mit ihren weißen Grab-Stelen in der Gedenks­tätte Potočari avan­cierte seither zum Schlag­bild europäi­scher Geschichte. Bilder foren­si­scher Spuren­si­che­rung, von Massen­grab- und Knochen­funden und der trau­ernden »Mütter von Srebre­nica« haben sich in das europäi­sche Gedächtnis unaus­lö­sch­lich einge­brannt.

Nun hat die bosnische Regis­seurin Jasmila Žbanić sich an eine Verfil­mung des Genozids und jener Ereig­nisse vom Juli 1995 gewagt, die wieder­holt als »größtes Verbre­chen auf europäi­schen Boden seit dem Zweiten Weltkrieg« bezeichnet werden. Der Film Quo vadis, Aida? feierte 2020 Premiere, konnte bereits auf diversen Film­fes­ti­vals über­zeugen und war für den 39. Oscar in der Rubrik »Inter­na­tional Feature Film« nominiert. Während die inter­na­tio­nale Film­kritik unisono und von Beginn an die Erin­ne­rungs- und Aufklärungs­funk­tion des Films lobend hervorhob, hat man in Bosnien und Herze­go­wina die Darstel­lung lange als nicht authen­tisch kriti­siert: Žbanić habe ausge­lassen, Žbanić habe fiktio­na­li­siert, Žbanić sei nicht dabei gewesen. Insbe­son­dere die Regie-Entschei­dung, aus der histo­ri­schen Vorlage für die Haupt­figur, den Über­setzer, Zeit­zeugen und Buchautor Hasan Nuhanović, eine fiktive Dolmet­scherin, die Figur Aida Selma­nagić, zu machen, wurde als unzu­lässig erachtet. Doch seit der Sensation einer Oscar-Nomi­nie­rung wird den Kritiker:innen im kleinen Land Bosnien und Herze­go­wina medial kaum noch Raum gegeben, zu groß ist die Aufregung um die lange ersehnte inter­na­tio­nale Aufmerk­sam­keit.

Geschichte über­setzen

Und hier wird es wirklich inter­es­sant. Jamila Žbanić, die im Interview mit Angelina Jolie sagte, sie glaube, Filme könnten die Welt verändern, ist mit Quo vadis, Aida? ein echter Coup für Bosnien gelungen. An Žbanić' Srebre­nica-Verfil­mung kommt nun keiner mehr vorbei, sie hat mit dem Film Tatsachen geschaffen. Der Film kalku­liert geschickt zwei Adres­sa­ten­gruppen für sein schwie­riges Thema ein, die beide ange­spro­chen und gleich­zeitig zuein­ander ins Verhältnis gesetzt werden: die inter­na­tio­nale Zuschau­er­ge­mein­schaft und die nach­ju­go­sla­wi­schen Opfer-Gesell­schaften. Als letztere lassen sich auch die anderen post-jugo­sla­wi­schen Staaten beschreiben, sind sie doch alle auf iden­ti­täts­stif­tende Opfer­n­ar­ra­tive gebaut, die das nackte Überleben, den Befrei­ungs­kampf oder die eigene Vorver­ur­tei­lung gegen die Täter­schaft der jeweils Anderen ins Feld führen. Während das inter­na­tio­nale Publikum in einem hand­werk­lich ausge­zeichnet gemachten Film über das histo­ri­sche Ereignis des Massakers und der Begleit­um­s­tände unter­richtet – und ja, auch unter­halten – wird, profi­tiert das heimische Publikum doppelt: Der Film richtet sich gegen das Vergessen und für die Versöh­nung. Die Regis­seurin Žbanić selbst ist in alledem – ganz wie ihre fiktive Haupt­figur Aida – eine Über­set­zerin und Vermitt­lerin zwischen den Welten: Kino­lein­wand und Holly­wood­pu­blikum auf der einen, konkrete histo­ri­sche Erfahrung und bosnische Provinz auf der anderen Seite.

Quo vadis, Aida? erzählt die Geschichte der Lehrerin Aida, die für die Schutz­truppe Dutchbat III und ihren Komman­deur Thomas Karremans dolmetscht. Als im Juli 1995 Srebre­nica von serbisch-bosni­schen Para­mi­li­tärs unter dem Ober­be­fehls­haber Ratko Mladić einge­nommen wird und die lokale Bevöl­ke­rung das Schlimmste zu befürchten beginnt, versucht Aida für ihren Mann und ihre beiden Söhne eine Ausnahme zu erwirken. Sie möchte sie aus den ins Lager der hollän­di­schen Schutz­truppe strö­menden Menschen­massen aussor­tieren und auf eine UN-Helfer­liste setzen lassen. Es misslingt Aida, ihre Familie zu retten. Mann und Söhne werden auf einen Lastwagen und gemeinsam mit zahl­rei­chen anderen Männern in ein Kultur­zen­trum verfrachtet, das vormals Film­vor­füh­rungen und anderen kultu­rellen Events diente. Die Türen werden verschlossen, die bosni­schen Serben verlassen den Raum und nach der lapidaren Ankün­di­gung: »Gleich geht der Film für euch los!« werden die Gefan­genen durch Seiten­luken in den Wänden erschossen. Auf weitere Szenen, die den Mord an der männ­li­chen Bevöl­ke­rung Srebre­nicas zeigen, hat Jasmila Žbanić gänzlich verzichtet. Es gibt keine vorher­seh­baren, erwar­teten Darstel­lungen, statt­dessen nur eine Atmo­sphäre der durchweg anhal­tenden, uner­träg­li­chen Unver­meid­lich­keit, mit der die schwer vorstell­baren, aber doch bevor­ste­henden Ereig­nisse eintreten werden.

Die Regis­seurin trägt der Unaus­weich­lich­keit auch dadurch intel­li­gent Rechnung, dass die Mörder den Beginn des Massen­mor­dens als Vorfüh­rung eines – schon bekannten – Films bezeichnen. Eine jede filmische Darstel­lung von Genozid kommt an vorhan­denen Bild­welten zum Holocaust nicht vorbei, und so erinnert die UN-Helfer­liste auch an Spiel­bergs Schind­lers Liste und die Kinoraum-Szene an unzählige künst­le­ri­sche Darstel­lungen der Gaskam­mern. Mit dem Meta-Film-Kommentar der Mörder fängt Žbanić ein, dass es ohne fiktio­na­li­sie­rende Drama­ti­sie­rung, ohne Würde­ver­lust für die darge­stellten Opfer nicht gehen wird, Srebre­nica auf die Leinwand zu bringen.

Kontra-ethnische Besetzung

Ein mindes­tens ebenso smarter Schachzug, der außerhalb Bosniens bisher kaum aufge­fallen zu sein scheint, ist die kontra-ethnische Besetzung der Rollen. Die bekannte serbische Schau­spie­lerin Jasna Đuričić spielt Aida Selma­nagić und ist im wahren Leben mit Boris Isaković, der im Film Ratko Mladić mimt, verhei­ratet. Der Wahr­heits­an­spruch der erzählten Geschichte verstärkt sich in der Gegenwart des Zuschauens versöhn­lich, wenn die bosnia­ki­sche Haupt­figur des Films in der Realität mit dem »Serben­führer« selbst verhei­ratet ist. Die Kunst bekommt dabei einen autonomen und der Geschichte verpflich­teten Status zuge­spro­chen. Đuričić, eine erfahrene Theater- und Film-Schau­spie­lerin und lang­jäh­riges Ensemble-Mitglied des Natio­nal­thea­ters in Novi Sad, spielt die Aida mehr als über­zeu­gend, selbst­ver­s­tänd­lich auch sprach­lich im für Bosnien typischen Idiom. Ihr Ehemann Isaković hingegen imitiert den serbi­schen »General« perfekt, dabei histo­ri­sche Sätze des Selbst­dar­stel­lers Mladić wörtlich rezi­tie­rend. Im ganzen Film spricht die Figur des Mladić nicht ein einziges Wort, das nicht in Youtube-Videos histo­risch veri­fi­ziert werden kann. Auch das ist eine wichtige Regie-Entschei­dung, die entspre­chender Kritik zuvor­kommt und der Täter­figur so wenig wie möglich ästhe­ti­sche wie psycho­lo­gi­sche Aufmerk­sam­keit schenkt. Der bosnische Schau­spieler Emir Hadži­ha­fiz­be­gović, Direktor des Kamerni teatar 55 in Sarajevo und promi­nentes Mitglied der bosnia­kisch-konser­va­tiven Partei SDA, spielt indes den fiktiven bosnisch-serbi­schen Militär Joka, der im menschenü­ber­füllten Hangar der UN Angst und Schrecken unter den Einge­pferchten verbreitet und sich die Wohnung der Selma­na­gićs nach dem Tod von Vater und Söhnen aneignen wird.

Die durch­dachte Beset­zungs- und Skript­po­litik Žbanić' geht Hand in Hand mit dem immens wichtigen und von der Film­kritik oft noch über­se­henen letzten »Akt« des Films: Der Rückkehr Aidas nach Srebre­nica und der Wieder­auf­nahme ihrer Arbeit als Lehrerin. Quo vadis, Aida? endet mit einer Szene, in der die Kinder aus Aidas Grund­schul­klasse vor dem gemischt ethni­schen elter­li­chen Publikum auftreten – auch der »Terror-Serbe« Joka und sein kleiner Sohn Nikola sind dabei. Hier schließt der Film einen bewusst unvoll­s­tändig blei­benden Kreis zur Anfangs­se­quenz, einer Neujah­res­feier in Srebre­nica, bei der noch alle im Ort zusam­men­kamen: Aidas Sohn Hamdija spielte mit seiner Band, die Frauen, die später im Film auch im Hangar und in Evaku­ie­rungs­bussen zu sehen sein werden, nahmen am Wett­be­werb für die »schönste Frisur Ostbos­niens« teil, und gemeinsam wurde fröhlich getrunken und Kolo getanzt. Diese jugo­sla­wisch-nost­al­gi­sche Szene, in der die Darsteller:innen anklagend direkt in die Kamera und damit den Zuschauer:innen in die Augen blicken, berührt die geschichts­re­vi­sio­nis­ti­sche Gegenwart der gesamten nach­ju­go­sla­wi­schen Region unan­ge­nehm. Ein Unbehagen, das sich inten­si­viert, wenn zum Ende des Films die Kinder Srebre­nicas in einem Schul­bühnen-Auftritt verdeut­li­chen, dass sie unschuldig und dabei alle gemeinsam in eine ungewisse bosnische Zukunft blicken müssen. In ihrem kleinen Auftritt verschließen und öffnen die Kinder die Augen mit den Händen, den Flügel­schlag eines Schmet­ter­lings nach­ah­mend. Wohin geht es für sie? Welches Bosnien steht vor ihnen?

Erin­ne­rungs­po­li­ti­sche Sackgasse

Gegen­wärtig ist in Bosnien und Herze­go­wina eine neue bosnia­ki­sche Identität im Entstehen, die sich zentral auf Opfer­n­ar­ra­tive, insbe­son­dere jenes um Srebre­nica, stützt und stark mit Ausschluss arbeitet. Zugleich gibt es auch immer noch einige, die den Genozid an der musli­mi­schen Bevöl­ke­rung leugnen oder in Zahlen­spielen und Schuld­um­kehr zu rela­ti­vieren suchen. Die Geschichte der jugo­sla­wi­schen Zerfalls­kriege ist in der gesamten nach­ju­go­sla­wi­schen Region weit entfernt davon, konso­li­diert zu sein. Das de facto geteilte Bosnien und Herze­go­wina, ein dysfunk­tio­naler Staat, und auch seine Nach­bar­staaten Serbien und Kroatien, befinden sich heute in einem histo­ri­schen Aushand­lungs­pro­zess einge­froren, der den Namen Aufar­bei­tung kaum verdient. Dem inter­na­tio­nalen Desin­ter­esse an der süds­la­wi­schen Zwick­mühle und der erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Sackgasse im Land stellt sich Žbanić' Film nun entgegen und übernimmt sorg­fältig durch­dacht, gewis­sen­haft und zukunfts­wei­send künst­le­risch-poli­ti­sche Verant­wor­tung. Außerhalb der Region sind die Ereig­nisse um Srebre­nica weitaus weniger bekannt als man annehmen möchte. Kenner:innen attes­tieren nun bereits, der Film könne für Bosnien leisten, was »Holocaust. Die Geschichte der Familie Weiss« für die Aufar­bei­tung der Vernich­tung der europäi­schen Juden geleistet und in Bewegung gesetzt hat.

Die Frage, wohin das denn alles in Bosnien noch führen soll, steht mit Quo vadis, Aida? jeden­falls wie ein Elefant im (Kino-)Raum. Jasmila Žbanić' künst­le­ri­sche Antwort richtet ihr aufklä­re­ri­sches: »Dies ist geschehen!« vor allem an die inter­na­tio­nale Gemein­schaft und vermit­telt die Ereig­nisse von Srebre­nica unter Verzicht auf weitere Ankla­ge­reden. Ihre Holländer sind schwit­zende, den Tränen nahe junge Männer in kurzen Mili­tär­hosen und ein allein gelas­sener Komman­dant. Die nieder­län­di­sche Regierung hat in letzter Instanz das Urteil zur Mitschuld der Schutz­truppe Dutchbat III und ihres Komman­deurs Thomas Karremans anerkannt. Was, so scheint Quo vadis, Aida? zu fragen, bringt es noch, weiter das Versagen der inter­na­tio­nalen Beob­achter anzu­pran­gern? Viel wichtiger scheint es, per großer Oscar-Leinwand das histo­ri­sche Geschehen und damit Bosniens heutige Situation überhaupt ins Bewusst­sein zu rufen.

Nach innen hingegen spricht sich der Film für zwei zukunfts­wei­sende Denk­rich­tungen aus: bewusste Affekt­füh­rung im Geschichts­ver­s­tändnis und histo­ri­sche Geschlech­ter­rollen-Korrektur. Als Aida einen ihrer Söhne anhand seiner Turn­schuhe iden­ti­fi­ziert, wird die Evidenz der Knochen, ihr »Sprechen« jenseits der foren­si­schen Beweis­kraft, durch eine fahrende Kamera im Raum begleitet. Mehrere Frauen schreiten in dieser Szene gemeinsam Knochen­funde ab. Es ist ihr mütter­li­ches Auge, das, neben der DNA-Analyse, die toten Männer als Teil der verlo­renen Familie wieder­kennt. Die Erfahrung und Schlüs­sel­rolle der Frauen in der Verbre­chens­auf­ar­bei­tung in Bosnien konter­ka­riert den vormals patri­li­nearen Aufbau von Familie und Gesell­schaft auf dem Balkan. Statt einer margi­nalen Rolle, lose ange­glie­dert an die männliche Ahnen­reihe, sind es nun die Frauen, die die Männer als Teil der Gemein­schaft wieder- und aner­kennen, ja mehr noch, es sind die Frauen, die für ihre Männer und Söhne sprechen. Die Inter­ven­tion der Frauen im öffent­li­chen Raum ändert das Sicht­bar­keits­re­gime der Geschlechter am Balkan und streicht die kriegs­füh­rende »heroische Lebens­form« aus. Klar und deutlich kehrt diese Botschaft in Žbanić' Entschei­dung für »Aida« statt »Hasan« wieder.

Žbanić' Zeit­zeu­gen­schaft im Film steht affektiv kontrol­liert derje­nigen der Über­le­benden gegenüber, die im Opfer nicht den Schmerz, sondern die Schuld­zu­wei­sung zentral setzen. Folgt man dem Philo­so­phen Giorgio Agamben, sind echte Zeit­ge­nossen jene, die nicht völlig in ihrer Zeit aufgehen und gerade darum aus dieser heraus­zu­sehen in der Lage sind. Sie schreiben der Gegenwart eine Zäsur ein und ermög­li­chen damit das Zusam­men­führen verschie­dener Zeiten erst. Žbanić führt in Quo vadis, Aida? Bosniens Vergan­gen­heit mit der Zukunft zusammen und liefert dabei ein produk­tives Angebot in der Gegenwart. Bereits jetzt ist klar, dass das erneute inter­na­tio­nale Hinsehen, das ihr Film ausgelöst hat, in der Region Wogen glättet. Schon jetzt berichtet das serbische Fernsehen über den Srebre­nica-Film, schon jetzt spricht die jugo­sla­wi­sche Star-Cast für ihre gemein­same Erfahrung.

Miranda Jakiša ist Profes­sorin für Süds­la­wi­sche Literatur- und Kultur­wis­sen­schaft an der Univer­sität Wien. Ihre Forschung befasst sich mit der bosni­schen, kroa­ti­schen und serbi­schen Kultur­ge­schichte und -gegenwart, den süds­la­wi­schen Lite­ra­turen und dem jugo­sla­wi­schen Film.

Zweit­ver­öf­fent­li­chung mit freund­li­cher Geneh­mi­gung von Geschichte der Gegenwart, wo Miranda Jakišas Text am 14. April 2021 erschienen ist.