Jasmila Žbanićs Srebrenica-Film: Eine Oscar-Nominierung und die Frage Quo vadis, Bosnia? |
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Geschichte »übersetzen« | ||
(Foto: Farbfilm) |
Von Miranda Jakiša
Filme über tatsächliche Ereignisse machen sich vorhersehbar die Hüter historischer Wahrheit zum Feind, gerade jene, die sich auf Zeitzeugenschaft berufen können. 2021 jährt sich erst zum 26. Mal, dass in die kleine Stadt Srebrenica, eine deklarierte Schutzzone der UN im Osten Bosniens, die Armee der Republika Srpska einmarschierte und im Zuge ihrer ethnischen Säuberungsmission Tausende muslimische Männer und Jungen ermordete. Das Feld mit ihren weißen Grab-Stelen in der Gedenkstätte Potočari avancierte seither zum Schlagbild europäischer Geschichte. Bilder forensischer Spurensicherung, von Massengrab- und Knochenfunden und der trauernden »Mütter von Srebrenica« haben sich in das europäische Gedächtnis unauslöschlich eingebrannt.
Nun hat die bosnische Regisseurin Jasmila Žbanić sich an eine Verfilmung des Genozids und jener Ereignisse vom Juli 1995 gewagt, die wiederholt als »größtes Verbrechen auf europäischen Boden seit dem Zweiten Weltkrieg« bezeichnet werden. Der Film Quo vadis, Aida? feierte 2020 Premiere, konnte bereits auf diversen Filmfestivals überzeugen und war für den 39. Oscar in der Rubrik »International Feature Film« nominiert. Während die internationale Filmkritik unisono und von Beginn an die Erinnerungs- und Aufklärungsfunktion des Films lobend hervorhob, hat man in Bosnien und Herzegowina die Darstellung lange als nicht authentisch kritisiert: Žbanić habe ausgelassen, Žbanić habe fiktionalisiert, Žbanić sei nicht dabei gewesen. Insbesondere die Regie-Entscheidung, aus der historischen Vorlage für die Hauptfigur, den Übersetzer, Zeitzeugen und Buchautor Hasan Nuhanović, eine fiktive Dolmetscherin, die Figur Aida Selmanagić, zu machen, wurde als unzulässig erachtet. Doch seit der Sensation einer Oscar-Nominierung wird den Kritiker:innen im kleinen Land Bosnien und Herzegowina medial kaum noch Raum gegeben, zu groß ist die Aufregung um die lange ersehnte internationale Aufmerksamkeit.
Und hier wird es wirklich interessant. Jamila Žbanić, die im Interview mit Angelina Jolie sagte, sie glaube, Filme könnten die Welt verändern, ist mit Quo vadis, Aida? ein echter Coup für Bosnien gelungen. An Žbanić' Srebrenica-Verfilmung kommt nun keiner mehr vorbei, sie hat mit dem Film Tatsachen geschaffen. Der Film kalkuliert geschickt zwei Adressatengruppen für sein schwieriges Thema ein, die beide angesprochen und gleichzeitig zueinander ins Verhältnis gesetzt werden: die internationale Zuschauergemeinschaft und die nachjugoslawischen Opfer-Gesellschaften. Als letztere lassen sich auch die anderen post-jugoslawischen Staaten beschreiben, sind sie doch alle auf identitätsstiftende Opfernarrative gebaut, die das nackte Überleben, den Befreiungskampf oder die eigene Vorverurteilung gegen die Täterschaft der jeweils Anderen ins Feld führen. Während das internationale Publikum in einem handwerklich ausgezeichnet gemachten Film über das historische Ereignis des Massakers und der Begleitumstände unterrichtet – und ja, auch unterhalten – wird, profitiert das heimische Publikum doppelt: Der Film richtet sich gegen das Vergessen und für die Versöhnung. Die Regisseurin Žbanić selbst ist in alledem – ganz wie ihre fiktive Hauptfigur Aida – eine Übersetzerin und Vermittlerin zwischen den Welten: Kinoleinwand und Hollywoodpublikum auf der einen, konkrete historische Erfahrung und bosnische Provinz auf der anderen Seite.
Quo vadis, Aida? erzählt die Geschichte der Lehrerin Aida, die für die Schutztruppe Dutchbat III und ihren Kommandeur Thomas Karremans dolmetscht. Als im Juli 1995 Srebrenica von serbisch-bosnischen Paramilitärs unter dem Oberbefehlshaber Ratko Mladić eingenommen wird und die lokale Bevölkerung das Schlimmste zu befürchten beginnt, versucht Aida für ihren Mann und ihre beiden Söhne eine Ausnahme zu erwirken. Sie möchte sie aus den ins Lager der holländischen Schutztruppe strömenden Menschenmassen aussortieren und auf eine UN-Helferliste setzen lassen. Es misslingt Aida, ihre Familie zu retten. Mann und Söhne werden auf einen Lastwagen und gemeinsam mit zahlreichen anderen Männern in ein Kulturzentrum verfrachtet, das vormals Filmvorführungen und anderen kulturellen Events diente. Die Türen werden verschlossen, die bosnischen Serben verlassen den Raum und nach der lapidaren Ankündigung: »Gleich geht der Film für euch los!« werden die Gefangenen durch Seitenluken in den Wänden erschossen. Auf weitere Szenen, die den Mord an der männlichen Bevölkerung Srebrenicas zeigen, hat Jasmila Žbanić gänzlich verzichtet. Es gibt keine vorhersehbaren, erwarteten Darstellungen, stattdessen nur eine Atmosphäre der durchweg anhaltenden, unerträglichen Unvermeidlichkeit, mit der die schwer vorstellbaren, aber doch bevorstehenden Ereignisse eintreten werden.
Die Regisseurin trägt der Unausweichlichkeit auch dadurch intelligent Rechnung, dass die Mörder den Beginn des Massenmordens als Vorführung eines – schon bekannten – Films bezeichnen. Eine jede filmische Darstellung von Genozid kommt an vorhandenen Bildwelten zum Holocaust nicht vorbei, und so erinnert die UN-Helferliste auch an Spielbergs Schindlers Liste und die Kinoraum-Szene an unzählige künstlerische Darstellungen der Gaskammern. Mit dem Meta-Film-Kommentar der Mörder fängt Žbanić ein, dass es ohne fiktionalisierende Dramatisierung, ohne Würdeverlust für die dargestellten Opfer nicht gehen wird, Srebrenica auf die Leinwand zu bringen.
Ein mindestens ebenso smarter Schachzug, der außerhalb Bosniens bisher kaum aufgefallen zu sein scheint, ist die kontra-ethnische Besetzung der Rollen. Die bekannte serbische Schauspielerin Jasna Đuričić spielt Aida Selmanagić und ist im wahren Leben mit Boris Isaković, der im Film Ratko Mladić mimt, verheiratet. Der Wahrheitsanspruch der erzählten Geschichte verstärkt sich in der Gegenwart des Zuschauens versöhnlich, wenn die bosniakische Hauptfigur des Films in der Realität mit dem »Serbenführer« selbst verheiratet ist. Die Kunst bekommt dabei einen autonomen und der Geschichte verpflichteten Status zugesprochen. Đuričić, eine erfahrene Theater- und Film-Schauspielerin und langjähriges Ensemble-Mitglied des Nationaltheaters in Novi Sad, spielt die Aida mehr als überzeugend, selbstverständlich auch sprachlich im für Bosnien typischen Idiom. Ihr Ehemann Isaković hingegen imitiert den serbischen »General« perfekt, dabei historische Sätze des Selbstdarstellers Mladić wörtlich rezitierend. Im ganzen Film spricht die Figur des Mladić nicht ein einziges Wort, das nicht in Youtube-Videos historisch verifiziert werden kann. Auch das ist eine wichtige Regie-Entscheidung, die entsprechender Kritik zuvorkommt und der Täterfigur so wenig wie möglich ästhetische wie psychologische Aufmerksamkeit schenkt. Der bosnische Schauspieler Emir Hadžihafizbegović, Direktor des Kamerni teatar 55 in Sarajevo und prominentes Mitglied der bosniakisch-konservativen Partei SDA, spielt indes den fiktiven bosnisch-serbischen Militär Joka, der im menschenüberfüllten Hangar der UN Angst und Schrecken unter den Eingepferchten verbreitet und sich die Wohnung der Selmanagićs nach dem Tod von Vater und Söhnen aneignen wird.
Die durchdachte Besetzungs- und Skriptpolitik Žbanić' geht Hand in Hand mit dem immens wichtigen und von der Filmkritik oft noch übersehenen letzten »Akt« des Films: Der Rückkehr Aidas nach Srebrenica und der Wiederaufnahme ihrer Arbeit als Lehrerin. Quo vadis, Aida? endet mit einer Szene, in der die Kinder aus Aidas Grundschulklasse vor dem gemischt ethnischen elterlichen Publikum auftreten – auch der »Terror-Serbe« Joka und sein kleiner Sohn Nikola sind dabei. Hier schließt der Film einen bewusst unvollständig bleibenden Kreis zur Anfangssequenz, einer Neujahresfeier in Srebrenica, bei der noch alle im Ort zusammenkamen: Aidas Sohn Hamdija spielte mit seiner Band, die Frauen, die später im Film auch im Hangar und in Evakuierungsbussen zu sehen sein werden, nahmen am Wettbewerb für die »schönste Frisur Ostbosniens« teil, und gemeinsam wurde fröhlich getrunken und Kolo getanzt. Diese jugoslawisch-nostalgische Szene, in der die Darsteller:innen anklagend direkt in die Kamera und damit den Zuschauer:innen in die Augen blicken, berührt die geschichtsrevisionistische Gegenwart der gesamten nachjugoslawischen Region unangenehm. Ein Unbehagen, das sich intensiviert, wenn zum Ende des Films die Kinder Srebrenicas in einem Schulbühnen-Auftritt verdeutlichen, dass sie unschuldig und dabei alle gemeinsam in eine ungewisse bosnische Zukunft blicken müssen. In ihrem kleinen Auftritt verschließen und öffnen die Kinder die Augen mit den Händen, den Flügelschlag eines Schmetterlings nachahmend. Wohin geht es für sie? Welches Bosnien steht vor ihnen?
Gegenwärtig ist in Bosnien und Herzegowina eine neue bosniakische Identität im Entstehen, die sich zentral auf Opfernarrative, insbesondere jenes um Srebrenica, stützt und stark mit Ausschluss arbeitet. Zugleich gibt es auch immer noch einige, die den Genozid an der muslimischen Bevölkerung leugnen oder in Zahlenspielen und Schuldumkehr zu relativieren suchen. Die Geschichte der jugoslawischen Zerfallskriege ist in der gesamten nachjugoslawischen Region weit entfernt davon, konsolidiert zu sein. Das de facto geteilte Bosnien und Herzegowina, ein dysfunktionaler Staat, und auch seine Nachbarstaaten Serbien und Kroatien, befinden sich heute in einem historischen Aushandlungsprozess eingefroren, der den Namen Aufarbeitung kaum verdient. Dem internationalen Desinteresse an der südslawischen Zwickmühle und der erinnerungspolitischen Sackgasse im Land stellt sich Žbanić' Film nun entgegen und übernimmt sorgfältig durchdacht, gewissenhaft und zukunftsweisend künstlerisch-politische Verantwortung. Außerhalb der Region sind die Ereignisse um Srebrenica weitaus weniger bekannt als man annehmen möchte. Kenner:innen attestieren nun bereits, der Film könne für Bosnien leisten, was »Holocaust. Die Geschichte der Familie Weiss« für die Aufarbeitung der Vernichtung der europäischen Juden geleistet und in Bewegung gesetzt hat.
Die Frage, wohin das denn alles in Bosnien noch führen soll, steht mit Quo vadis, Aida? jedenfalls wie ein Elefant im (Kino-)Raum. Jasmila Žbanić' künstlerische Antwort richtet ihr aufklärerisches: »Dies ist geschehen!« vor allem an die internationale Gemeinschaft und vermittelt die Ereignisse von Srebrenica unter Verzicht auf weitere Anklagereden. Ihre Holländer sind schwitzende, den Tränen nahe junge Männer in kurzen Militärhosen und ein allein gelassener Kommandant. Die niederländische Regierung hat in letzter Instanz das Urteil zur Mitschuld der Schutztruppe Dutchbat III und ihres Kommandeurs Thomas Karremans anerkannt. Was, so scheint Quo vadis, Aida? zu fragen, bringt es noch, weiter das Versagen der internationalen Beobachter anzuprangern? Viel wichtiger scheint es, per großer Oscar-Leinwand das historische Geschehen und damit Bosniens heutige Situation überhaupt ins Bewusstsein zu rufen.
Nach innen hingegen spricht sich der Film für zwei zukunftsweisende Denkrichtungen aus: bewusste Affektführung im Geschichtsverständnis und historische Geschlechterrollen-Korrektur. Als Aida einen ihrer Söhne anhand seiner Turnschuhe identifiziert, wird die Evidenz der Knochen, ihr »Sprechen« jenseits der forensischen Beweiskraft, durch eine fahrende Kamera im Raum begleitet. Mehrere Frauen schreiten in dieser Szene gemeinsam Knochenfunde ab. Es ist ihr mütterliches Auge, das, neben der DNA-Analyse, die toten Männer als Teil der verlorenen Familie wiederkennt. Die Erfahrung und Schlüsselrolle der Frauen in der Verbrechensaufarbeitung in Bosnien konterkariert den vormals patrilinearen Aufbau von Familie und Gesellschaft auf dem Balkan. Statt einer marginalen Rolle, lose angegliedert an die männliche Ahnenreihe, sind es nun die Frauen, die die Männer als Teil der Gemeinschaft wieder- und anerkennen, ja mehr noch, es sind die Frauen, die für ihre Männer und Söhne sprechen. Die Intervention der Frauen im öffentlichen Raum ändert das Sichtbarkeitsregime der Geschlechter am Balkan und streicht die kriegsführende »heroische Lebensform« aus. Klar und deutlich kehrt diese Botschaft in Žbanić' Entscheidung für »Aida« statt »Hasan« wieder.
Žbanić' Zeitzeugenschaft im Film steht affektiv kontrolliert derjenigen der Überlebenden gegenüber, die im Opfer nicht den Schmerz, sondern die Schuldzuweisung zentral setzen. Folgt man dem Philosophen Giorgio Agamben, sind echte Zeitgenossen jene, die nicht völlig in ihrer Zeit aufgehen und gerade darum aus dieser herauszusehen in der Lage sind. Sie schreiben der Gegenwart eine Zäsur ein und ermöglichen damit das Zusammenführen verschiedener Zeiten erst. Žbanić führt in Quo vadis, Aida? Bosniens Vergangenheit mit der Zukunft zusammen und liefert dabei ein produktives Angebot in der Gegenwart. Bereits jetzt ist klar, dass das erneute internationale Hinsehen, das ihr Film ausgelöst hat, in der Region Wogen glättet. Schon jetzt berichtet das serbische Fernsehen über den Srebrenica-Film, schon jetzt spricht die jugoslawische Star-Cast für ihre gemeinsame Erfahrung.
Miranda Jakiša ist Professorin für Südslawische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Wien. Ihre Forschung befasst sich mit der bosnischen, kroatischen und serbischen Kulturgeschichte und -gegenwart, den südslawischen Literaturen und dem jugoslawischen Film.
Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Geschichte der Gegenwart, wo Miranda Jakišas Text am 14. April 2021 erschienen ist.