#ausgebremst |
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Freiluftbühne beim Import-Export-Open-Air. Das war im Corona-Sommer 2020 | ||
(Foto: artechock / privat) |
Von Dunja Bialas
Es gibt Indizien, die an der Echtheit des Papiers zweifeln lassen, das seit zwei Tagen im Kreis Münchner Kulturveranstalter herumgereicht wird. Es nennt keinen Urheber, es ist undatiert, und woher das Papier stammt, kann keiner so genau sagen. Aber es ähnelt optisch auffällig den Stufenplänen der verschiedenen Bundesländer und inhaltlich auch dem gemeinsamen Papier der Ministerpräsidentenkonferenz, die für unterschiedliche Bereiche des öffentlichen Lebens für unterschiedliche Inzidenzwerte unterschiedliche Öffnungsschritte vorsehen.
Das PDF heißt »Regeln Notbremse final«, was suggeriert, dass das Papier im Zusammenhang mit der bundesweiten Coronanotbremse zu lesen ist, die nun als befristetes Gesetz bis Ende Juni regeln soll, wie unser Leben bei einer Inzidenz von über 100 auszusehen habe. Umgekehrt jedoch sieht es keinen Stufenplan für Öffnungen vor, obwohl immer wieder angemahnt wurde, dies den Menschen als Perspektive mitzugeben. Statt dessen werden die Freiheitseinschränkungen im Gesetzentwurf hervorgehoben: »Die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit der Person, der Freizügigkeit und der Unverletzlichkeit der Wohnung werden eingeschränkt.«
So stieß also das Papier diese Woche auf offene Ohren und Augen. Und man staunte nicht schlecht. Jenseits der für das Infektionsschutzgesetz vorgesehenen Regelungen bei einem Inzidenzwert von über 100 ist dort die Rede von Landesregelungen für unter 50 und zwischen 50 und 100, aufgegliedert nach den bekannten Bereichen »Private Kontakte«, »Schulen & Kitas«, »Körpernahe Dienstleistung«, »Außen-Gastronomie« und andere. Auch die Kultur wird im Papier erwähnt. Demgemäß soll der Besuch von Theatern, Konzert- und Opernhäusern sowie Kinos 14 Tage nach dem Erreichen einer 100er-Inzidenz mit Corona-Test möglich sein, erst 14 Tage nach dem Erreichen einer Inzidenz von 50 entfällt die Testpflicht.
Wiederum 14 Tage später, also zusammengezählt erst 28 Tage nach dem Erreichen einer 50er-Inzidenz, sollen Freizeitveranstaltungen im Außenbereich mit maximal 50 Teilnehmenden möglich sein. Diese nur noch vermeintliche Perspektive erscheint geradezu absurd, macht man sich die Zeitlichkeit angesichts des nahenden Sommers deutlich. Hochgerechnet für das Filmfest München, das am 24. Juni mit Open-Air-Veranstaltungen startet, hieße das also, dass vier Wochen vorher, also am 27. Mai, in München ein Inzidenzwert von 50 erreicht werden muss (München liegt heute bei 156). Für die Sommer-Berlinale, die am 9. Juni beginnt, muss der Inzidenzwert von 50 bereits am 12. Mai erreicht sein. Das ist in drei Wochen. Heute liegt dort die Inzidenz bei um die 150. Außenveranstaltungen können bei einer Inzidenz zwischen 50 und 100 überhaupt nicht stattfinden, so das Papier.
Das alles klingt nach Übertreibung und Satire, das will uns doch nur im Shutdown empören und unsere Lebens- und Kampfgeister aus dem Corona-Koma holen! Das kann sich doch nur »Die Partei« oder »Der Postillon« ausgedacht haben! Das ist doch Fake! Open Air erst nach 28 Tagen und nur bei einer Inzidenz unter 50? Besucherobergrenze bei 50? Das kann doch nicht wahr sein.
Bei näherem Studium des gestreuten Papiers aber stellt man fest: Leider entspricht dies exakt dem bereits am 8. März veröffentlichten Zeitplan der Ministerpräsidentenkonferenz, nur die Datumsangaben wurden gestrichen. Auch dort müssen zunächst 14 Tage vergehen, sollte eine Inzidenz von 50 bzw. 100 erreicht werden, ehe die Kultur unter Sicherheitsauflagen öffnen darf, und 28 Tage müssen vergehen, ehe Open Airs mit maximal 50 Teilnehmern bei einer Inzidenz von 50 zugelassen sind.
Nach der Glaubwürdigkeit des Papiers befragt, bestätigt ein Mitglied des bayerischen Landtags, dass es sich um »ein offizielles Eckpunktepapier« handelt. »Freiluftveranstaltungen und Open-Air-Kinos würde so der Garaus gemacht. Ein Ruin für viele Festivals und Kinos und den ersehnten Kultursommer.« Allerdings sei ein Eckpunktepapier nur die Basis für einen Gesetzentwurf und Grundlage parlamentarischer Debatte; es werde in den Fraktionen ausgehandelt und sei nicht öffentlich. Inwiefern es dann maßgeblich die Verordnungen bestimmen wird oder ob doch noch das Schlimmste abgewendet werden konnte, bleibe abzuwarten.
Bernd Sibler stellt laut einem Bericht der »Süddeutschen Zeitung« so auch bei »herausragenden Konzepten Sondergenehmigungen« in Aussicht, auf Bundesebene gäbe es zudem »Überlegungen für einen Sonderfonds«, um Geld an die ausgebremsten Veranstalter zu zahlen.
Aber wieder nur Geld aus der Staatskasse statt Kultur auf der Bühne? Der Münchner Kulturreferent Anton Biebl ruft in der »Süddeutschen Zeitung« das im Grundgesetz verankerte Recht auf Kunstfreiheit in Erinnerung. Das steht nun nach diesen Plänen ebenfalls zur Disposition.
»Das verhindert jegliche Planungen von Kulturveranstaltungen für den ganzen Sommer«, sagt David Boppert vom VdMK (Verband der Münchener Kulturveranstalter e.V.) am Telefon. Der »Sommer in der Stadt« nach letztjährigem Vorbild ist von verschiedenen Mitgliedern des VdMK bereits in Vorbereitung. Doch nun dürften nach dem Eckpunktepapier nur noch 50 Leute statt der 400 wie letztes Jahr für ein Konzert ins Olympiastadion mit seinen fast 70.000 Sitzplätzen. Die Impfgeschwindigkeit passe nicht zu den Restriktionen, mit denen man hinter das Vorjahr zurückfalle, außerdem gäbe es gute Hygienekonzepte, Teststrategien und FFP2-Masken.
Auch Christoph Gröner, der als künstlerischer Leiter des Filmfest München den knappen Zeitplan und die Einschränkung auf 50 Besucher nahen sieht, betont: »Das Papier ignoriert nicht nur die Forschungsergebnisse von Aerosolforschern weltweit, sondern lässt auch die steigende Impfquote völlig außer Acht.« Diese liegt heute bei 20 Prozent, bei einer Impfgeschwindigkeit von um die 500.000 Impfungen pro Tag. Bis Filmfestbeginn in 9 Wochen werden also hochgerechnet um die 31 Millionen Erwachsene in Deutschland geimpft sein, was einer Impfquote von etwa 45 Prozent entspricht.
Die Politik aber ist auf dem Auge der Kultur blind, das bringt das Corona-Brennglas deutlich zum Vorschein. Sie ist von einer merkwürdigen Ignoranz gegenüber der Kultur geprägt, obgleich das Bundeswirtschaftsamt weiß: »Die Kultur- und Kreativwirtschaft übertrifft in Sachen Wertschöpfung andere wichtige Branchen wie die chemische Industrie, die Energieversorger oder aber die Finanzdienstleister. Nur der Fahrzeugbau erzielt eine deutlich höhere Bruttowertschöpfung.«
Die Kultursituation in Deutschland ist aufgrund dieser Ignoranz verfahren. Die entsprechende Politik erscheint in der Übereinstimmung eines breiten Zusammenschlusses aus Gesundheitsministern und Virologen als alternativlos. Christian Drosten hat aber auch in einem seiner »Corona-Updates« im NDR-Podcast verraten, dass die Fragen der Kultur immer fürs Ende der langen Sitzungen aufgespart werden, wenn keiner mehr Lust hat, sich eingehend mit dem Thema zu befassen. Dass die Kultur also in ihren Feinheiten keine Berücksichtigung findet, ist der politischen Verdrängung geschuldet. Hinzu kommen jetzt das anfänglich schleppende Impftempo und die deshalb noch ungeschützten Überfünfzigjährigen, die allmählich die Intensivstationen »volllaufen« lassen, wie es im Jargon heißt. Das ist die argumentative Steilvorlage, um nicht an gerechte und plausible Öffnungsstrategien zu denken. Öffnungen seien doch nur verantwortungslose Kamikaze, das finden sogar einzelne Kulturveranstalter.
Dennoch gibt es europaweit Öffnungsmodelle, die nahelegen, dass Kultur selbst unter Corona möglich ist. So geschehen an den spanischen Kultur-Hotspots Madrid und Barcelona, wo es im März ein Konzert vor einem 5000-Leute-Publikum gab, ohne Folgeinfektionen, wie das Ärzteblatt vermeldet.
Ähnlich wie Israel und Großbritannien, wo nach einem harten Lockdown nun aufgrund der hohen Impfquote und damit einhergehenden niedrigen Infektionszahlen wieder Normalität einkehren kann, setzt auch Dänemark auf die voranschreitende Impfquote und verabschiedet sich sukzessive von den Corona-Maßnahmen. Das öffentliche Leben soll mit wenigen Ausnahmen beschränkungsfrei sein, wenn alle Risikogruppen und die Menschen über 50 ihre erste (!) Impfung gegen Covid-19 erhalten haben, so der Plan. Impfdosen werden in Dänemark, anders als in Deutschland, nicht zurückgehalten. So wird ein öffentliches Leben bald wieder möglich sein.
Dabei gab und gibt es auch in Deutschland bereits wissenschaftlich begleitete Öffnungs-Modellversuche. Trotz Inzidenz um die 100 oder gar höher sollten sie untersuchen, wie sich gezielte, durch Testung und Hygienemaßnahmen abgesicherte Öffnungen auf das Infektionsgeschehen auswirken würden. Dies war auch für Kommunen in Bayern vorgesehen, die sich begeistert meldeten. Jetzt wurde der Modellversuch abgesagt, obgleich seine Stunde eigentlich gekommen wäre.
»Team Vorsicht« hat auch ein Berliner Pilotprojekt, bei dem einzelne staatliche Bühnen einem getesteten Publikum Neuinszenierungen und Uraufführungen boten, seit Ostern gestoppt und alle Veranstaltungen trotz ausgefeilter Hygienekonzepte bis Ende April beziehungsweise sogar Ende Mai abgesagt.
Unterdessen hält das Saarland trotz steigender Infektionszahlen am landesweiten Modellversuch fest und verlängert um eine Woche, wenn auch unter größeren Sicherheitsvorkehrungen. Die Außengastronomie hat dort offen, ebenso Fitnessstudios und Theater. Auch die Kinos könnten jetzt öffnen – sie bleiben aber geschlossen. Es gäbe keine Filme, heißt es aus dem Kreis der erstaunlich einfallslosen Filmverwerter.
Auch in Tübingen geht der Modellversuch »Öffnen mit Sicherheit« weiter, nachdem noch ein wenig nachjustiert wurde. Nun erhalten sogar die im Schnelltest negativ Getesteten einen zusätzlichen PCR-Test, um die Zuverlässigkeit der Testung zu überprüfen. Für das Tübinger Arsenal-Kino wird es ein kurzer Flirt mit dem Publikum bleiben. Seit dem 16. März sind dort Filme auf der großen Leinwand zu sehen, darunter Anwärter auf die diesjährigen Academy Awards wie Thomas Vinterbergs Rausch oder Lee Isaac Chungs Minari. Jetzt aber wird die Bundesnotbremse dem Projekt ein jähes Ende bereiten, wie es aus Stadtkreisen heißt.
In Deutschland wird die Kultur auf diese Weise beharrlich ausgebremst. Für Bier und Bratwurst soll weit mehr machbar sein als für die Live-Musik. Im Biergarten könnten sich so bei einer Inzidenz unter 50 alle zuprosten, sofern sie Abstand halten. Beginnt aber die Blaskapelle zu spielen, müssen bis auf 50 Leute alle gehen.
Wo, bitte, befindet sich die Notbremse für diese sogenannte Kulturpolitik? Wie lange kann die Kultur, die jetzt je nach Sparte seit einem halben Jahr bzw. sogar über einem Jahr Betriebsverbot hat, noch überleben?
Die Bundesnotbremse bremst – vielleicht – Corona. Es wird Zeit, ignorante Kulturpolitik zu bremsen.
Hashtag: #ausgebremst.