22.04.2021

#ausgebremst

Kultursommer
Freiluftbühne beim Import-Export-Open-Air. Das war im Corona-Sommer 2020
(Foto: artechock / privat)

Pünktlich zum Corona-Notbremsen-Gesetz ist jetzt unter der Hand ein Stufenplan in Umlauf gekommen. Falls das Eckpunktepapier umgesetzt wird, ist der Kultursommer bedroht

Von Dunja Bialas

Es gibt Indizien, die an der Echtheit des Papiers zweifeln lassen, das seit zwei Tagen im Kreis Münchner Kultur­ver­an­stalter herum­ge­reicht wird. Es nennt keinen Urheber, es ist undatiert, und woher das Papier stammt, kann keiner so genau sagen. Aber es ähnelt optisch auffällig den Stufen­plänen der verschie­denen Bundes­länder und inhalt­lich auch dem gemein­samen Papier der Minis­ter­prä­si­den­ten­kon­fe­renz, die für unter­schied­liche Bereiche des öffent­li­chen Lebens für unter­schied­liche Inzi­denz­werte unter­schied­liche Öffnungs­schritte vorsehen.

Das PDF heißt »Regeln Notbremse final«, was sugge­riert, dass das Papier im Zusam­men­hang mit der bundes­weiten Corona­not­bremse zu lesen ist, die nun als befris­tetes Gesetz bis Ende Juni regeln soll, wie unser Leben bei einer Inzidenz von über 100 auszu­sehen habe. Umgekehrt jedoch sieht es keinen Stufen­plan für Öffnungen vor, obwohl immer wieder angemahnt wurde, dies den Menschen als Perspek­tive mitzu­geben. Statt dessen werden die Frei­heits­ein­schrän­kungen im Gesetz­ent­wurf hervor­ge­hoben: »Die Grund­rechte der körper­li­chen Unver­sehrt­heit, der Freiheit der Person, der Frei­zü­gig­keit und der Unver­letz­lich­keit der Wohnung werden einge­schränkt.«

Open Air erst nach 28 Tagen 50er-Inzidenz

So stieß also das Papier diese Woche auf offene Ohren und Augen. Und man staunte nicht schlecht. Jenseits der für das Infek­ti­ons­schutz­ge­setz vorge­se­henen Rege­lungen bei einem Inzi­denz­wert von über 100 ist dort die Rede von Landes­re­ge­lungen für unter 50 und zwischen 50 und 100, aufge­glie­dert nach den bekannten Bereichen »Private Kontakte«, »Schulen & Kitas«, »Körper­nahe Dienst­leis­tung«, »Außen-Gastro­nomie« und andere. Auch die Kultur wird im Papier erwähnt. Demgemäß soll der Besuch von Theatern, Konzert- und Opern­häu­sern sowie Kinos 14 Tage nach dem Erreichen einer 100er-Inzidenz mit Corona-Test möglich sein, erst 14 Tage nach dem Erreichen einer Inzidenz von 50 entfällt die Test­pflicht.

Wiederum 14 Tage später, also zusam­men­ge­zählt erst 28 Tage nach dem Erreichen einer 50er-Inzidenz, sollen Frei­zeit­ver­an­stal­tungen im Außen­be­reich mit maximal 50 Teil­neh­menden möglich sein. Diese nur noch vermeint­liche Perspek­tive erscheint geradezu absurd, macht man sich die Zeit­lich­keit ange­sichts des nahenden Sommers deutlich. Hoch­ge­rechnet für das Filmfest München, das am 24. Juni mit Open-Air-Veran­stal­tungen startet, hieße das also, dass vier Wochen vorher, also am 27. Mai, in München ein Inzi­denz­wert von 50 erreicht werden muss (München liegt heute bei 156). Für die Sommer-Berlinale, die am 9. Juni beginnt, muss der Inzi­denz­wert von 50 bereits am 12. Mai erreicht sein. Das ist in drei Wochen. Heute liegt dort die Inzidenz bei um die 150. Außen­ver­an­stal­tungen können bei einer Inzidenz zwischen 50 und 100 überhaupt nicht statt­finden, so das Papier.

Wir leben in sati­ri­schen Zeiten

Das alles klingt nach Über­trei­bung und Satire, das will uns doch nur im Shutdown empören und unsere Lebens- und Kampf­geister aus dem Corona-Koma holen! Das kann sich doch nur »Die Partei« oder »Der Postillon« ausge­dacht haben! Das ist doch Fake! Open Air erst nach 28 Tagen und nur bei einer Inzidenz unter 50? Besu­cher­ober­grenze bei 50? Das kann doch nicht wahr sein.

Bei näherem Studium des gestreuten Papiers aber stellt man fest: Leider entspricht dies exakt dem bereits am 8. März veröf­fent­lichten Zeitplan der Minis­ter­prä­si­den­ten­kon­fe­renz, nur die Datums­an­gaben wurden gestri­chen. Auch dort müssen zunächst 14 Tage vergehen, sollte eine Inzidenz von 50 bzw. 100 erreicht werden, ehe die Kultur unter Sicher­heits­auf­lagen öffnen darf, und 28 Tage müssen vergehen, ehe Open Airs mit maximal 50 Teil­neh­mern bei einer Inzidenz von 50 zuge­lassen sind.

Nach der Glaub­wür­dig­keit des Papiers befragt, bestätigt ein Mitglied des baye­ri­schen Landtags, dass es sich um »ein offi­zi­elles Eckpunk­te­pa­pier« handelt. »Frei­luft­ver­an­stal­tungen und Open-Air-Kinos würde so der Garaus gemacht. Ein Ruin für viele Festivals und Kinos und den ersehnten Kultur­sommer.« Aller­dings sei ein Eckpunk­te­pa­pier nur die Basis für einen Gesetz­ent­wurf und Grundlage parla­men­ta­ri­scher Debatte; es werde in den Frak­tionen ausge­han­delt und sei nicht öffent­lich. Inwiefern es dann maßgeb­lich die Verord­nungen bestimmen wird oder ob doch noch das Schlimmste abge­wendet werden konnte, bleibe abzu­warten.

Bernd Sibler stellt laut einem Bericht der »Süddeut­schen Zeitung« so auch bei »heraus­ra­genden Konzepten Sonder­ge­neh­mi­gungen« in Aussicht, auf Bundes­ebene gäbe es zudem »Über­le­gungen für einen Sonder­fonds«, um Geld an die ausge­bremsten Veran­stalter zu zahlen.

Aber wieder nur Geld aus der Staats­kasse statt Kultur auf der Bühne? Der Münchner Kultur­re­fe­rent Anton Biebl ruft in der »Süddeut­schen Zeitung« das im Grund­ge­setz veran­kerte Recht auf Kunst­frei­heit in Erin­ne­rung. Das steht nun nach diesen Plänen ebenfalls zur Dispo­si­tion.

Der Kultur­sommer ist in Gefahr

»Das verhin­dert jegliche Planungen von Kultur­ver­an­stal­tungen für den ganzen Sommer«, sagt David Boppert vom VdMK (Verband der Münchener Kultur­ver­an­stalter e.V.) am Telefon. Der »Sommer in der Stadt« nach letzt­jäh­rigem Vorbild ist von verschie­denen Mitglie­dern des VdMK bereits in Vorbe­rei­tung. Doch nun dürften nach dem Eckpunk­te­pa­pier nur noch 50 Leute statt der 400 wie letztes Jahr für ein Konzert ins Olym­pia­sta­dion mit seinen fast 70.000 Sitz­plätzen. Die Impf­ge­schwin­dig­keit passe nicht zu den Restrik­tionen, mit denen man hinter das Vorjahr zurück­falle, außerdem gäbe es gute Hygie­nekon­zepte, Test­stra­te­gien und FFP2-Masken.

Auch Christoph Gröner, der als künst­le­ri­scher Leiter des Filmfest München den knappen Zeitplan und die Einschrän­kung auf 50 Besucher nahen sieht, betont: »Das Papier ignoriert nicht nur die Forschungs­er­geb­nisse von Aero­sol­for­schern weltweit, sondern lässt auch die steigende Impfquote völlig außer Acht.« Diese liegt heute bei 20 Prozent, bei einer Impf­ge­schwin­dig­keit von um die 500.000 Impfungen pro Tag. Bis Film­fest­be­ginn in 9 Wochen werden also hoch­ge­rechnet um die 31 Millionen Erwach­sene in Deutsch­land geimpft sein, was einer Impfquote von etwa 45 Prozent entspricht.

Kultur­ver­drän­gung

Die Politik aber ist auf dem Auge der Kultur blind, das bringt das Corona-Brennglas deutlich zum Vorschein. Sie ist von einer merk­wür­digen Ignoranz gegenüber der Kultur geprägt, obgleich das Bundes­wirt­schaftsamt weiß: »Die Kultur- und Krea­tiv­wirt­schaft über­trifft in Sachen Wert­schöp­fung andere wichtige Branchen wie die chemische Industrie, die Ener­gie­ver­sorger oder aber die Finanz­dienst­leister. Nur der Fahr­zeugbau erzielt eine deutlich höhere Brut­to­wert­schöp­fung.«

Die Kultur­si­tua­tion in Deutsch­land ist aufgrund dieser Ignoranz verfahren. Die entspre­chende Politik erscheint in der Über­ein­stim­mung eines breiten Zusam­men­schlusses aus Gesund­heits­mi­nis­tern und Virologen als alter­na­tivlos. Christian Drosten hat aber auch in einem seiner »Corona-Updates« im NDR-Podcast verraten, dass die Fragen der Kultur immer fürs Ende der langen Sitzungen aufge­spart werden, wenn keiner mehr Lust hat, sich eingehend mit dem Thema zu befassen. Dass die Kultur also in ihren Fein­heiten keine Berück­sich­ti­gung findet, ist der poli­ti­schen Verdrän­gung geschuldet. Hinzu kommen jetzt das anfäng­lich schlep­pende Impftempo und die deshalb noch unge­schützten Über­fünf­zig­jäh­rigen, die allmäh­lich die Inten­siv­sta­tionen »voll­laufen« lassen, wie es im Jargon heißt. Das ist die argu­men­ta­tive Steil­vor­lage, um nicht an gerechte und plausible Öffnungs­stra­te­gien zu denken. Öffnungen seien doch nur verant­wor­tungs­lose Kamikaze, das finden sogar einzelne Kultur­ver­an­stalter.

Lernen am Modell

Dennoch gibt es euro­pa­weit Öffnungs­mo­delle, die nahelegen, dass Kultur selbst unter Corona möglich ist. So geschehen an den spani­schen Kultur-Hotspots Madrid und Barcelona, wo es im März ein Konzert vor einem 5000-Leute-Publikum gab, ohne Folgein­fek­tionen, wie das Ärzte­blatt vermeldet.

Ähnlich wie Israel und Groß­bri­tan­nien, wo nach einem harten Lockdown nun aufgrund der hohen Impfquote und damit einher­ge­henden niedrigen Infek­ti­ons­zahlen wieder Norma­lität einkehren kann, setzt auch Dänemark auf die voran­schrei­tende Impfquote und verab­schiedet sich sukzes­sive von den Corona-Maßnahmen. Das öffent­liche Leben soll mit wenigen Ausnahmen beschrän­kungs­frei sein, wenn alle Risi­ko­gruppen und die Menschen über 50 ihre erste (!) Impfung gegen Covid-19 erhalten haben, so der Plan. Impfdosen werden in Dänemark, anders als in Deutsch­land, nicht zurück­ge­halten. So wird ein öffent­li­ches Leben bald wieder möglich sein.

Dabei gab und gibt es auch in Deutsch­land bereits wissen­schaft­lich beglei­tete Öffnungs-Modell­ver­suche. Trotz Inzidenz um die 100 oder gar höher sollten sie unter­su­chen, wie sich gezielte, durch Testung und Hygie­nemaß­nahmen abge­si­cherte Öffnungen auf das Infek­ti­ons­ge­schehen auswirken würden. Dies war auch für Kommunen in Bayern vorge­sehen, die sich begeis­tert meldeten. Jetzt wurde der Modell­ver­such abgesagt, obgleich seine Stunde eigent­lich gekommen wäre.

»Team Vorsicht« hat auch ein Berliner Pilot­pro­jekt, bei dem einzelne staat­liche Bühnen einem getes­teten Publikum Neuin­sze­nie­rungen und Urauf­füh­rungen boten, seit Ostern gestoppt und alle Veran­stal­tungen trotz ausge­feilter Hygie­nekon­zepte bis Ende April bezie­hungs­weise sogar Ende Mai abgesagt.

Unter­dessen hält das Saarland trotz stei­gender Infek­ti­ons­zahlen am landes­weiten Modell­ver­such fest und verlän­gert um eine Woche, wenn auch unter größeren Sicher­heits­vor­keh­rungen. Die Außen­gas­tro­nomie hat dort offen, ebenso Fitness­stu­dios und Theater. Auch die Kinos könnten jetzt öffnen – sie bleiben aber geschlossen. Es gäbe keine Filme, heißt es aus dem Kreis der erstaun­lich einfalls­losen Film­ver­werter.

Auch in Tübingen geht der Modell­ver­such »Öffnen mit Sicher­heit« weiter, nachdem noch ein wenig nach­jus­tiert wurde. Nun erhalten sogar die im Schnell­test negativ Getes­teten einen zusätz­li­chen PCR-Test, um die Zuver­läs­sig­keit der Testung zu über­prüfen. Für das Tübinger Arsenal-Kino wird es ein kurzer Flirt mit dem Publikum bleiben. Seit dem 16. März sind dort Filme auf der großen Leinwand zu sehen, darunter Anwärter auf die dies­jäh­rigen Academy Awards wie Thomas Vinter­bergs Rausch oder Lee Isaac Chungs Minari. Jetzt aber wird die Bundes­not­bremse dem Projekt ein jähes Ende bereiten, wie es aus Stadt­kreisen heißt.

Wo ist die Notbremse für die Corona-Kultur­po­litik?

In Deutsch­land wird die Kultur auf diese Weise beharr­lich ausge­bremst. Für Bier und Bratwurst soll weit mehr machbar sein als für die Live-Musik. Im Bier­garten könnten sich so bei einer Inzidenz unter 50 alle zuprosten, sofern sie Abstand halten. Beginnt aber die Blas­ka­pelle zu spielen, müssen bis auf 50 Leute alle gehen.

Wo, bitte, befindet sich die Notbremse für diese soge­nannte Kultur­po­litik? Wie lange kann die Kultur, die jetzt je nach Sparte seit einem halben Jahr bzw. sogar über einem Jahr Betriebs­verbot hat, noch überleben?

Die Bundes­not­bremse bremst – viel­leicht – Corona. Es wird Zeit, ignorante Kultur­po­litik zu bremsen.
Hashtag: #ausge­bremst.