Cunst vs. Comedy |
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Porträt der Künstlerin als junge Frau (Hailee Steinfeld als Emily Dickinson) | ||
(Foto: Apple TV+) |
Von Thomas Lang
Es gibt Leben auf mehr als einem Planeten. Ich habe hier den Beweis. Aber berührt es sich? Und welcher Himmelskörper ist der fremde? Warum scheint auf beiden die amerikanische Dichterin Emily Dickinson zu leben?
Eine Szene aus dem Film A Quiet Passion – Das Leben der Emily Dickinson: Die erwachsene Emily sitzt mit ihrem Vater am Tisch. Er ist gedeckt, Porzellanteller mit einem Muster, geschliffene Weingläser, zugedeckte Terrinen, in der Mitte offen ein Braten, neben dem ein blitzendes Messer liegt. Die beiden beten still. Anschließend mustert der Vater den Teller. Er hebt ihn hoch. »Dieser Teller ist dreckig.« Er hält ihn der Tochter hin, die ihre noch gefalteten Hände löst, das Geschirr aus seiner Hand nimmt und es so auf den Tisch schlägt, dass es zerbricht. Es klirrt. Sie rückt sich auf dem Stuhl zurecht und erwidert: »Dieser Teller war dreckig.« Kurz schaut sie den Vater mit einem herausfordernden Blick an, dann faltet sie die Hände wieder und senkt den Kopf, aber nun wirkt es mokant.
Die Szene dauert in Terence Davies‘ Film von 2016 etwa fünfzehn Sekunden. In der Serie Dickinson, deren zweite Staffel seit Januar und Februar 2021 auf Apple TV+ läuft, findet sie sich ebenfalls. Hier geht ein Zornausbruch des Vaters am vollbesetzten Tisch voraus. Grund ist, dass Emily ein Gedicht publizieren lässt. Es ist nur die Reaktion der jungen Frau zu sehen, die das Donnerwetter über sich ergehen lassen muss. Sie ringt mit den Tränen und schnieft, während der Vater ihr rät, sich besser um hausfrauliche Belange zu kümmern. »Siehst du? Dieser Teller hier ist angeschlagen, siehst du es? Du hast den Tisch gedeckt, nicht wahr? Gibt man dem Herrn des Hauses so einen Teller?« Jetzt ist der Vater wieder im Bild. Zur Strafe solle Emily allein aufräumen, diktiert er und geht ab. Die Kamera bleibt auf ihrem Gesicht, zeigt sie zerknirscht wie ein kleines Mädchen, fährt leicht zurück, und nach einem weiteren Schnitt sehen wir sie allein an der Tafel sitzen. Ein großes Blumenbouquet schmückt den Tisch. Musik setzt ein. Emily steht endlich auf, nimmt den Teller und wirft ihn gegen den Kamin, wo er zerschellt. Wir sehen sie abgehen.
In der nächsten Szene steigt sie zum Tod in die Kutsche. Sie trägt ein knallrotes Kleid und der Tod, ein ultralässiger Typ mit Zylinder und Brille (gespielt vom Rapper Wiz Khalifa), sagt ihr, dass sie die einzige aus der Familie ist, über die man in zweihundert Jahren noch sprechen wird. Das wirkt wie eine schöne Genugtuung für die Demütigung durch den Vater. Es heißt aber auch: Der Tod verspricht ihr Unvergänglichkeit. Die Kutsche wird von flirrend transparenten, gleißenden Pferden gezogen. Kein Zweifel: wir befinden uns auf einer Ebene jenseits der Realität. Dennoch handelt es sich hier nicht um ein bloßes Fantasy-Element, vielmehr um die Visualisierung eines Gedichts von Dickinson: »Weil ich beim Tod nicht halten konnt / Stand freundlich er bereit / Die Kutsche trug Uns beide nur / Und die Unsterblichkeit …«
Wenn man versucht, die beiden so unterschiedlichen Annäherungen an das Leben der 1830 in Neuengland geborenen Dichterin zu beschreiben, kommt man leicht auf eine Reihe von Gegensatzpaaren, die sich sowohl auf den filmischen Stil als auch auf die Hauptfigur selbst beziehen. Davies ist sparsam, arbeitet häufig mit festen, beinah starr wirkenden Einstellungen, schafft jedoch mit kleinen Kamerabewegungen weiche Übergänge. Er zeigt sich als Reduktionist, der auch von seinen Schauspielern erwartet, sich auf das Nötigste zu beschränken, ihre Kunst auf den Punkt zu bringen. Alena Smith, Schöpferin der Serie, schafft mit ihrem Stab eine eher flirrende und unruhige Atmosphäre, ist opulent und deutlich. Der Spielfilm wirkt wie ein Album beinah malerisch komponierter Bilder, die Serie prangt mit historischer Ausstattung, die nicht immer getreu sein muss (so trägt Emily Dickinson ihr Haar in der Serie meistens offen bzw. nur am Hinterkopf leicht zusammengefasst). Hier die Andeutung, da die Auserzählung, hier das beständige Kreisen um Metaphysisches und Poesie, da der pralle Alltag mit Flecken von Menstruationsblut auf der Unterwäsche, gerupften Hühnern und wilden Partys.
Dickinson ist Comedy, A Quiet Passion Kunst – alte Schule, möchte man fast sagen, und das drückt sich nicht zuletzt in den vierzig Jahren Altersunterschied zwischen den beiden Machern aus. Davies ist 1945 geboren, Smith 1987. Er ist ein Vertreter der Alten Welt (so alt, dass ich nicht widerstehen konnte »Kunst« mit unkorrekt altertümelndem »C« zu schreiben), sie eine Vertreterin der Neuen, ja, aber wohin führt das?
Dickinson war für mich eine große Überraschung. Die attraktiven jungen Leute, die vielen Witze, die ganze Gegenwart in Sprache und Problemstellung, die sich wie leuchtende Fäden in diesem Gespinst breitmachen, erleichtern den Zugang enorm. Als Emily mit ihrer Familie in die Oper geht, ist es ein Fest für alle, und ihre menschlichen Schwächen, die den Musikgenuss marginalisieren, machen die Figuren sympathisch. Davies dreht eine entsprechende Szene in zwei Einstellungen, von denen eine fünf Familienmitglieder in Logen nebeneinander aufgereiht und in ein ernstes Gespräch vertieft zeigt. Die andere Einstellung zeigt die auftretende Sängerin neben dem Flügel, kein Opernspektakel. Der Spielfilm macht die puritanische Steifheit der neuenglischen Gesellschaft vor hundertsiebzig Jahren gut spürbar. Als ich sie ansah, empfand ich spontan Sehnsucht nach der sprudelnden Lebendigkeit in der Serie.
Wenn es darum geht, das Leben Dickinsons und ihre Gedankenwelt darzustellen, ist A Quiet Passion vermutlich getreuer, obwohl auch hier ein Wille zur Stilisierung und Reduktion unverkennbar bleibt. Dazu gesellt sich eine Lust am Spiel mit dem Licht. In einem langen Schwenk sehen wir die Dickinsons abends still in der Stube beisammensitzen und lesen oder sinnieren – was man so tun konnte, bevor es Streaming gab. Da flackern die Öllampen, lodert das Feuer, zucken die Kerzenlichter auf eine so lebendige Art, dass im Betrachter eine eigentümliche Unruhe entsteht. Das lässt sich ebenso als Widerspiel des dickinsonschen Schreibens auffassen wie die geschilderte Kutsche; gleichzeitig drückt sich darin der Kunstwille des Regisseurs aus.
Smith‘ Serie erschöpft sich auch nicht darin, in einem netten Vintage-Ambiente flotte Sprüche und eine erotisch aufgeheizte Atmosphäre zu verbreiten. Sie wirft nur einen ganz anderen Blick auf die Dichterin, der nach ihrer eigenen Aussage davon geleitet ist, was ein heutiges Publikum anspricht. Zeilen aus Dickinsons Gedichten platziert sie immer wieder als stilisierte Schreibschrift auf Objekten im Film, um den kreativen Prozess zu visualisieren. Manchmal schöpft sie ganze Figuren wie den ominösen »Niemand« aus den Texten der Dichterin.
Die Serie bringt dem noch jungen Apple TV+ viel Prestige und ragt meines Erachtens tatsächlich unter einigen sehr mittelmäßigen Produktionen dieses Kanals heraus. Alena Smith entwickelt nicht nur eine dritte Staffel; sie hat mit dem Konzern mittlerweile eine Art Generalvertrag geschlossen. Auch hierin zeigt sich ein Unterschied zu dem englischen Autorenfilmer, eine Erfolgsgeschichte von heute, Big Deal, gegen eine der vorigen Generation, Unabhängigkeit. Aber das ist natürlich nur ein äußerer Eindruck. Dem Schreiben, jedenfalls als Haltung und Attitüde, bringt die Serie ebenfalls Prestige. Es ist immer noch romantisch, wenn es nachts und heimlich, gegen (väterliche) Widerstände geschieht.
Sicher macht Dickinson die Dichterin einer neuen Generation bekannt. Allerdings darf man nicht übersehen, dass die Literatur und ihre großen Figuren in den USA niemals einen vergleichbaren Bedeutungsverlust erfahren haben wie in deutschen Landen, ein wenig sogar in Österreich. Wie lange wird es dauern, bis wir eine vergleichbare (gar vergleichbar gute) Serie über Bettina von Arnim oder (gewagt nah!) Franz Kafka zu sehen bekommen? Ich prognostiziere: sehr lange. Dass die filmischen Darstellungen ihres Lebens auch Dickinsons Gedichten eine neue Leserschaft gewinnen, bleibt nur zu hoffen. Allgemein geht der Trend ja dahin, eher über das Schreiben von jemandem informiert zu sein als es sich selbst anzueignen.
Kommen wir noch einmal auf das Vergleichen zurück. In der Serie backt Emily einen fünfstöckigen Kuchen für einen Wettbewerb. Um zu gewinnen (nachdem sie es nicht ertragen hat, im Jahr davor bloß zweite gewesen zu sein), stopft sie alles rein, was den Leuten gut schmeckt, so viel davon wie nie zuvor jemand. Bei Davies backt sie ein Brot. Als sie es aus dem Ofen holen will, hat sie eine Schmerzattacke und sinkt in der Küche hin. Hausangestellte erscheinen, um ihr zu helfen, sie pflaumt die drei an: »Ihr müsst ja wohl nicht zu blöd sein, um es aufzuheben!« Davies zeigt einen wichtigen Wendepunkt zur älteren Dickinson, die etwas moralisch Rigides hat und Besucher reihenweise brüskiert, etwa indem sie mit ihnen nur aus ihrem Zimmer im ersten Stock heraus spricht, während jene am Fuß der Treppe stehen.
Bei Smith brüskiert sie den Zeitungsherausgeber Bowles, als sie ihre Gedichte zurückerhalten will, mit aufgesetzt wirkender Barschheit. Die schwierige Seite ihres Charakters deutet sich in der Serie erst am Ende der zweiten Staffel an. Es fällt schwer, sie der Figur abzunehmen, nachdem Emily für neuneinhalb Stunden des Zuschauens so unendlich sympathisch war (und nach so vielen verfilmten Jahren immer noch so jung ist). Bei aller Frische und Gegenwartsattheit macht sich das Gesetz der Streamingserie hier nachteilig bemerkbar. Immer müssen wir ja die Protagonisten lieben, damit wir weiter und weiter schauen. Und immer sollen alle alles kapieren (können). Etwa nicht?
Das sind die beiden Planeten, die ich gesehen und betreten habe. Wie man von dem einen zum anderen gelangt, weiß ich nicht zu sagen. Nur manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass es sich in Wahrheit um ein und denselben Körper handelt, um zwei Seiten eines Mondes, die eine kühl der Sonne abgewandt, scheinbar stolz und abweisend, die andere im Permalicht leicht überhitzt. Was wäre nötig, um der Kugel einen Dreh zu geben? Ist das Anspruchsvolle wirklich der Feind des Populären und vice versa?
Dickinson selbst war in der Frage der Popularität sehr entschieden. Ihre gewählte Unsichtbarkeit – zu Lebzeiten erschienen rund zehn von vielen hundert Gedichten – gab ihr die Freiheit, zu denken und zu schreiben, was und wie sie wollte. Dass ein IT-Riese nun ausgerechnet aus einer Haltung Kapital schlägt, die der ständigen Forderung an uns, sichtbar zu sein und auf dem Aufmerksamkeitsmarkt schön die Beine breit zu machen, völlig zuwiderläuft, ist nicht ohne
Ironie.
Für Dickinson, ich will noch einmal daran erinnern, waren die Worte das wichtigste. Mit ihren, unmöglich adäquat zu übersetzenden Zeilen muss es an dieser Stelle enden:
»Fame is a fickle food
Upon a shifting plate
[…]
Whose crumbs the crows inspect
And with ironic claw
Flap past it to the
Farmer’s corn
Men eat of it and die«
Beide Staffeln von Dickinson sind auf Apple TV+ abfrufbar. A Quiet Passion – Das Leben der Emily Dickinson kann auf Youtube, Google Play und Amazon Prime ausgeliehen bzw. gekauft werden.