Die Aktualität der Schauprozesse |
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Blockade: beeindruckend als Realität und als Film. | ||
(Foto: Mubi) |
Eine Geschichtsstunde zur richtigen Zeit. Denn in weniger als einem Monat, am 22. Juni, jährt sich zum 80. Mal jenes Ereignis, das bis heute, und nicht nur in den Fernsehdokumentationen nach dem Muster Guido Knopps, in Begriffen wie aus dem Landser-Deutschen, nach Kinderspiel und Abenteuer klingenden »Überfall auf die Sowjetunion«, dem Nazipropagandaterminus des »Ostfeldzugs« oder gar der Mythisches anrufenden »Unternehmen Barbarossa« (ursprünglich die
OKW-Code-Bezeichnung für den Angriff) verniedlicht wird: Der Vernichtungskrieg gegen die UdSSR, ein im Europa der Haager Landkriegsordnung beispielloser Terrorakt. Ein Vernichtungskrieg war der ohne Kriegserklärung erfolgte Überraschungsangriff auf die neutrale, pro forma mit dem Deutschen Reich verbündete Sowjetunion deswegen, weil er von Anfang an auf die Ermordung möglichst großer Teile der Bevölkerung abzielte. Nicht allein der Juden, nicht allein der kommunistischen
Politkommissare, nicht allein der kämpfenden Truppen, sondern aller Menschen.
Kein zweites Kapitel dieses fast vierjährigen Krieges zeigt dieses Ziel mit ähnlicher Deutlichkeit wie die Belagerung von Leningrad. Eine 900-tägige Blockade, die in der UdSSR zum Mythos wurde, in der Erinnerung der Deutschen, soweit die Hirne tragen, verdrängt hinter den nationalen Melodramen Stalingrad, Winterkrieg, und Flucht.
Die deutsche Wehrmacht sollte Leningrad nicht erobern, sondern wollte die Stadt aushungern und ausbluten lassen; man ließ sie militärisch links liegen, während man sich 1941 Moskau, 1942 dem Kaukasus und dann Stalingrad zuwandte, und 1943 in letzten Angriffsversuchen den strategisch schon verlorenen Feldzug taktisch noch wenden, oder zumindest den Untergang aufhalten wollte.
Von alldem zeigt der Film Blockade so gut wie nichts.
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Die Belagerung von Leningrad dauerte vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. Während dieser Zeit war die Stadt von den Deutschen umzingelt, die sie fortwährend mit Artillerie bombardierten und deren Nachschubwege sie blockierten. Das Prinzip dieser Belagerung bestand also nicht darin, anzugreifen, sondern vor allem darin, zu warten. Abzuwarten bis der Gegner in der Stadt erschöpft und ausgehungert ist, und sich dann ergibt. Letzteres geschah allerdings nicht, im
Gegenteil: die Invasoren mussten schließlich aufgeben.
Doch dieser Sieg der Sowjetunion, ein Sieg mehr der Bevölkerung als der Roten Armee, und von unzähligen heldenhaften Episoden begleitet, kostete fast eine bis anderthalb Millionen Tote auf russischer Seite, zwei Drittel davon unter der Zivilbevölkerung. Der materielle Schaden in der Stadt belief sich auf fünfundvierzig Milliarden Rubel, fast eineinhalb Milliarden Euro. Etwa 1.000 Euro pro Toten. Wohl kein zu hoher
Preis für die Freiheit. Aber das sagt sich zu leicht...
Blockade zeigt Szenen dieser zweieinhalb Jahre. In diesem Film geht es nicht um die Kriegshandlungen, obwohl sie am Rande vorkommen, sondern hauptsächlich um die Folgen für die Stadt und ihre Bewohner. Der Film bedient sich dafür aus einer riesigen Fundgrube an historischem Archiv-Material von meist erstaunlich hoher Qualität, sowohl rein technisch als auch filmästhetisch. Alles
wurde tatsächlich während der Belagerung gedreht; es wurde dann vom Filmemacher zu einem Ganzen zusammengeschnitten und technisch bearbeitet. Dabei war nicht immer klar, in welcher Phase der Belagerung die gefilmten Ereignisse stattfanden und wie aus dem Berg von Material ein nachvollziehbarer Film gemacht werden konnte.
Zumindest fragwürdig ist die Tonspur unter den Bildern. Allzu »lebensecht«, aber von der Produktion den stummen Bildern hinzugefügt. Sehr gut gemacht,
aber doch in der Anmutung eines Radiohörspiels – und eben eine unhistorische, künstliche Tonkulisse zu den echten historischen Bildern.
Ohne konkrete Zeitangaben ist der wesentliche Ereignisablauf dennoch gut nachzuvollziehen: Vorbereitungen, Aufbau der Artillerie, tiefe Gruben und Gräben, die überall in der Stadt ausgehoben werden, Barrikaden, die überall aus schwerem Material errichtet werden, während das Leben fast wie gewohnt weitergeht. Anfangs sind die Straßen noch belebt, und das ziemliche Verkehrsaufkommen entspricht jeder anderen europäischen Stadt der damaligen Zeit.
Dann beginnen die ersten Bombardements, danach die Artillerieangriffe, Gebäude stehen in Flammen und die Menschen versuchen verzweifelt, zu löschen. Menschen versuchen mit aller Kraft, eine Bibliothek vor den Flammen zu retten. Wichtige Statuen werden vorsorglich abgebaut. Irgendwann müssen deutsche Kriegsgefangene durch die Stadt marschieren, bewacht von Soldaten auch vor der Bevölkerung. Die blickt neugierig; man sieht Angst wie Hass.
Einzelne Szenen sind kraftvoll und klar, die Chronologie allerdings hat das Kommando und bald wird Blockade zu einem einzigen Spektakel, einem Katastrophenfilm.
Ohne Dialog, ohne Erzähler, ohne Zeit- und Ortsangaben wird eine Geschichte erzählt, die für sich selbst spricht: Krieg ist die Hölle, auch wenn man ihn nicht selbst kämpfen muss. Und vor allem die Erkenntnis, dass dies kein Spielfilm ist, sondern alles, was wirklich passiert oder passiert ist, macht es unglaublich spannend. Blockade ist beeindruckend als Realität und als Film.
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Er begann als Dokumentarfilmer, seit einigen Jahren dreht er auch Spielfilme, aber immer wieder kehrt er zwischendurch zum Dokumentarfilm zurück: Sergeij Loznitsa. Als Dokumentarfilmregisseur bekam er schon früh viele Auszeichnungen, so in Leipzig bei der Dok.Leipzig, aber auch von der Russischen Republik – eben für den schönen, eindrucksvollen Blockade.
Jetzt zeigt der Streamingkanal Mubi gleich drei Dokumentarfilme Loznitsas in einem Schwerpunktprogramm. Neben Blockade laufen auch The Event über den schließlich fehlgeschlagenen Putsch gegen den letzten Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, sowie The Trial über einen der ersten stalinistischen Schauprozesse aus dem Jahr 1930.
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The Trial (2018) ist wie die beiden anderen Filme komplett aus Archivmaterial komponiert. Aber eben komponiert, also ausgewählt, arrangiert, kuratiert.
Wie das, was er zeigt.
Wenn man zum »Prozess gegen die Industriepartei« im Jahr 1930 recherchiert, findet man im Wesentlichen zwei Arten von Fakten und Bewertungen: Solche, die erklären, wie unschuldige Wissenschaftler zu Sündenböcken einer gescheiterten Wirtschaftspolitik in Stalins Sowjetunion gemacht wurden, und solche, die erklären, wie ein Verrat am sowjetischen Staat aufgedeckt wurde und wie diejenigen, die mit ausländischen Interessen kollidierten, um das sozialistische Projekt zu Fall zu bringen, für ihre Verbrechen bestraft wurden.
Nun wurde das Archivmaterial des 11-tägigen Prozesses, der dramatisiert, gefilmt, und so für die Öffentlichkeit zum »Schauprozess« aufbereitet wurde, neu montiert und zu einer knapp zweistündigen Erzählung zusammengestellt, wobei die dazugehörige Beschreibung die Perspektive von uns Zuschauern von Beginn an väterlich-autoritär, aber nur zu unserem Besten lenkt: »Das Drama ist echt, die Geschichte ist gefälscht«. Man kann sich fragen, was das soll, warum der Regisseur dies nötig hat? Oder ist der Prozess des Titels eigentlich der, den er der Geschichte und der Vergangenheit rückwirkend macht, nicht der, den er zeigt? Ein Hauch von archivarischem Katastrophentourismus liegt auch wieder über diesem Film.
Aber The Trial ist mehr. Loznitsa erinnert zur rechten Zeit an den autoritären Obskurantismus Stalins: In einer Epoche, in der der Moralismus und die moralistische Aufladung des Politischen in die politische Arena zurückkehrt, in der die Suche nach Schuldigen für was auch immer auch in unseren öffentlichen Diskursen allgegenwärtig ist, nach Komplizen des Bösen, nach »Volksfeinden« und nach denen, die nicht entlang des Mainstream, sondern quer zum verlautbarten Willen der Mehrheit stehen.
Zugleich ist dies eine Warnung an alle allzu Selbstgewissen unserer Gegenwart: Denn ironischerweise kamen einige der Angeklagten trotz aller später zurückgenommenen Todesurteile bei Säuberungen der nächsten Jahre besser weg als viele ihrer Richter und Staatsanwälte.
Der Film liefert allerdings keine Hintergründe und historischen Informationen, er informiert auch nicht darüber, dass manche der Angeklagten, die wir hier als Opfer sehen sollen, später rehabilitiert wurden, und einer es sogar zum sowjetischen Außenminister brachte. Er bietet überhaupt keine Hintergründe. Sondern zeigt Archivmaterial des eigentlichen Prozesses und von Demonstrationen auf der Straße, wo Massen skandieren: »Tod den Saboteuren«, »Tod den Feinden der proletarischen Revolution«, »Es leben die Bolschewiki«.
Was im Grunde ein Scheinprozess ist, in dem unschuldige Menschen beschuldigt werden, einen Putsch gegen die Regierung organisiert zu haben, wird zu einer echten Show, einem erschreckenden Spektakel. Es ging nur um Anerkennung der Macht, also der Willkür, und um Gehirnwäsche von Millionen durch Debüt und Gehorsam.
Der Titel zitiert Kafkas berühmten Roman und passt perfekt zu aktuellen Ereignissen von Weißrussland bis Russland von Ungarn bis zur Türkei, von xxx bis yyy – die Gesellschaft des Spektakels ist überall.