10.06.2021

Allein mit sich selbst

Orecchie
Ohrensausen von Alessandro Aronadio entstand bereits 2016. Das muss man wohl dazusagen…
(Foto: Circolo Cento Fiori / Ran Zag)

Die diesjährige Filmreihe des italienischen Circolo Cento Fiori zeigt an einem konzentrierten Wochenende in München Filme über die Einsamkeit

Von Elke Eckert

»Facetten der Einsam­keit«: So über­ti­telt der Circolo Cento Fiori, Mitglied der Filmstadt München e.V., seine dies­jäh­rige Filmreihe, die er in Koope­ra­tion mit der Münchner Stadt­bi­blio­thek am kommenden Woche­n­ende, dem 12. und 13. Juni 2021, zeigt. Damit widmet er sie einem Gefühl, das in den vergan­genen Monaten auch Menschen kennen­ge­lernt haben, die vor der Pandemie wenig bis gar nicht mit Einsam­keit konfron­tiert waren. Als plötzlich jede Menge Möglich­keiten der Zerstreuung wegge­bro­chen sind und Allein­le­bende vor allem als Ein-Personen-Haushalte wahr­ge­nommen wurden, spürten viele, wie wichtig der persön­liche Austausch mit anderen ist. Da helfen auch Gespräche am Telefon oder über den Bild­schirm nur bedingt. Mit den Enkeln ein Eis essen zu gehen oder sich mit Freunden in der Kneipe zu treffen ist etwas anderes, als am Rechner Memory zu spielen oder sich über Zoom zuzu­prosten. Doch auch das Gefühl, mit sich allein zu sein, erlebt jede oder jeder anders. Das hat nicht nur mit äußeren Umständen zu tun, sondern auch viel mit der aktuellen Lebens­si­tua­tion, dem eigenen Charakter und Alter. Die vier Filme aus Italien, die an verschie­denen Orten und in unter­schied­li­chen Milieus spielen, verdeut­li­chen das sehr gut.

Die Filmreihe startet mit der wahren Geschichte des Flücht­lings­mäd­chens Nour. Nour (2019) basiert auf dem Buch des Arztes Pietro Bartolo, der sich seit Jahren um Geflüch­tete kümmert, die auf der italie­ni­schen Insel Lampedusa landen. Die 10-jährige Nour hat bei ihrer Flucht aus Syrien einen Schiff­bruch auf dem Mittel­meer überlebt und ist in einem ihr fremden Land voll­kommen auf sich allein gestellt. Als Bartolo sie kennen­lernt, spürt er ihre Angst und Verzweif­lung. Aber er merkt auch, dass ihn die Art, wie Nour mit der Ausnah­me­si­tua­tion umgeht, besonders berührt und beschließt, ihr ein Zuhause auf Zeit zu geben. – Das Drama von Maurizio Zaccaro wurde am Origi­nal­schau­platz Lampedusa gedreht und ist mit Linda Mresy und Sergio Castel­litto in den Haupt­rollen stark besetzt. (Samstag, 12. Juni, 17 Uhr)

Der anschließende Film hat mit seinem Vorgänger nur den Namen des männ­li­chen Haupt­dar­stel­lers gemein. Dieser Pietro, ein viel­be­schäf­tigter Manager, verliert seine Frau von einem Tag auf den anderen, weil sie völlig über­ra­schend stirbt. Sein inneres Stilles Chaos (Caos calmo) versucht er in den Griff zu bekommen, indem er seinem Leben einen neuen Rahmen gibt. Er verbringt von nun an die meiste Zeit in einem römischen Park, auf einer Bank gegenüber der Schule seiner Tochter. Doch ganz geht sein Plan, Ruhe zu finden, nicht auf. Bald setzen sich Kollegen, Freunde und Verwandte neben ihn. Um ihn zu trösten, aber auch um über eigene Sorgen und Probleme zu sprechen. Dabei gelingt es auch Pietro immer mehr, seinen Schmerz zuzu­lassen. – Antonello Grimaldis Tragi­komödie ist trotz oder gerade aufgrund ihres traurigen Themas eine Ode an das Leben. Haupt­dar­steller Nanni Moretti, einer der Großen des italie­ni­schen Kinos, hat auch am Drehbuch mitge­schrieben. Der Film wurde 2008 bei den David di Donatello Awards in drei Kate­go­rien ausge­zeichnet und war bei der Berlinale für den Goldenen Bären nominiert. (Samstag, 12. Juni, 19.30 Uhr)

Den Silbernen Bären erhalten hat Elio Germano für seine Darstel­lung des psychisch kranken Künstlers Antonio Ligabue in Ich wollte mich verste­cken (Volevo nascon­dermi). Das Drama von Giorgio Diritti läuft als dritter Film der Reihe. Es erzählt vom Lebens- und Leidensweg Ligabues, der nach dem frühen Tod der Mutter von einem Schweizer Ehepaar adoptiert wird. Doch die Pfle­ge­el­tern kommen mit Antonios schwie­riger Art, die sich in Verhal­tens­auf­fäl­lig­keiten und Wutan­fällen äußert, nicht zurecht. Er landet im Waisen­haus und in der Psych­ia­trie, und wird schließ­lich gegen seinen Willen nach Italien ausge­wiesen, in die Gegend, aus der sein leib­li­cher Vater stammt. Arm und allein lebt der Sonder­ling jahrelang am Po-Ufer. Um seine Ängste und seine Einsam­keit wenigs­tens zeitweise zu mildern, beginnt er zu zeichnen. Als er den Maler und Bildhauer Renato Marino Mazz­a­cu­rati kennen­lernt, entdeckt dieser sein Talent und fördert es. – Antonio Ligabues Leben wurde bereits zwölf Jahre nach seinem Tod zum ersten Mal verfilmt. Der Fern­seh­drei­teiler mit Flavio Bucci in der Titel­rolle entstand 1977, Giorgio Dirittis Biopic wurde im Februar 2020, bei der 70. Berlinale, urauf­ge­führt. (Sonntag, 13. Juni, 17 Uhr)

Der vierte und letzte Beitrag vereint alle Tona­li­täten der Reihe. Antonello Aronadios Ohrensausen (Orecchie) ist tragisch, komisch, surreal und sehr skurril. Ein Mann ohne Namen wacht eines nicht ganz so schönen Tages mit einem lästigen Geräusch im Ohr auf. Kurz darauf entdeckt er am Kühl­schrank eine Notiz, der er entnimmt, dass einer seiner Freunde gestorben ist. Dummer­weise hat er dessen Namen noch nie gehört. Um den Dingen auf den Grund zu gehen, verlässt er seine Wohnung und gerät von einer seltsamen Situation in die nächste. Alle Begeg­nungen, die er in der italie­ni­schen Haupt­stadt macht, verstärken sein Gefühl, ein Außen­seiter zu sein, und lassen ihn immer mehr an sich und seiner Umwelt zweifeln. – Antonello Aronadios Film von 2016 ist ein schwarz-weißer Alltags­alb­traum, der viel über mangelnde Anteil­nahme und miss­glückte Kommu­ni­ka­tion erzählt. Und Daniele Parisi die Ideal­be­set­zung des anonymen Anti­helden, der auch auf die absur­deste Ange­le­gen­heit bevorzugt mit ungläu­biger Mini­mal­mimik reagiert. (Sonntag, 13. Juni, 20 Uhr)

Facetten der Einsam­keit – Sfacet­ta­ture di Soli­tu­dine Filmreihe von Circolo Cento Fiori

Carl-Amery-Saal im Gasteig
Vorver­kauf: Ticktes unter 089/54 81 81 81 und www.muen­chen­ti­cket.de oder Abend­kasse