Eine Unterkunft oder der nächste Schuss |
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Echt fertig | ||
(Foto: Koch Media) |
Von Tim Abele
Zu Beginn liegen sich Harley und der von ihr vergötterte Ilya in den nadellöchrigen Armen, ihre geröteten und schmutzigen Hände fahren über ihre Gesichter, die Münder liegen ineinander. So sieht Harleys Himmel aus, so muss es wieder sein, wen kümmert der Rest?
Zuletzt drehten die New Yorker Brüder Josh und Ben Safdie Good Time mit Robert Pattinson und Uncut Gems mit Adam Sandler in der Hauptrolle. Ihren an New Hollywood geschulten Kamerablick werfen sie stets auf Menschen außerhalb aller stabilen Ordnung. Mit ihrem stilisierten Realismus und der energischen Montage haben sie Stress zur Kunstform erhoben.
Ihr dritter Langspielfilm Mad Love in New York von 2014, wie üblich mitgeschrieben und geschnitten von Ronald Bronstein, nahm bei den Recherchen zu Uncut Gems Gestalt an. Josh Safdie lernte damals Arielle Holmes kennen, seit mehreren Jahren obdachlos und drogenabhängig. Gegen ein Honorar schrieb sie ihre Biografie auf, die unveröffentlicht blieb und nun als Vorlage für den Film dient. Dort spielt Holmes jetzt ihr Alter Ego Harley. Auch für einige andere im Cast ist der Film teilweise ein Reenactment ihres tatsächlichen Lebens. Viele Szenen machen sie sich mit bloßen Blicken und Sätzen zu eigen, und die Regie nimmt es dankbar auf.
Harleys Geschichte hat kaum einen Anfang und kein Ende, aber viel Gegenwart. Nicht Pläne, Wünsche oder Ideen tragen die Handlung, sondern die schiere Notwendigkeit: eine Unterkunft, der nächste Schuss und Ilya. Ilya, dieser rücksichtslose, hinterlistige Junge mit dem Ledermantel, für Harley ist er der Fixpunkt im Leben. Caleb Landry Jones spielt ihn mit einer hässlichen Verletzlichkeit, die den Junkie und den Übermenschen, den Harley in ihm sieht, gleichermaßen sichtbar macht. Die Beziehungen in Harleys Welt sind destruktiv und gleichzeitig das Wenige, das Halt gibt. All das ist mit großer inszenatorischer Unmittelbarkeit versehen. Da sind nur wenige – und dadurch umso kraftvollere – Augenblicke, in denen die Kamera Harley etwas Ruhe und Privatsphäre gönnt. Weit im Hintergrund bleiben dann New York und die New Yorker, deren Kinderwägen und Handtaschen Harley nichts zu sagen haben und nichts bieten.
Ein zynischer Humor unterlegt den Film, trocken und zurückhaltend. Wenn nach zwei Stunden Schlaf in irgendeiner Wohnung beim Schusssetzen die Spritze herunterfällt und der Satz »That was almost a tragedy« fällt oder wenn ein Motorrad als Einstiegsdroge zum Rollstuhl bezeichnet wird, gehört das noch zu den heitersten Momenten. Die Tragödie muss nicht erst in Gang gesetzt werden, sie ist immer schon da.
Harley wird selten greifbar, ihre Impulse überraschen noch das Publikum, sie selbst aber nicht mehr. Mit wem sie abhängt, wen sie hängen lässt, was sie sucht und was sie findet, kann sich schlagartig ändern. Holmes gelingt es, sehr viel Leben in leere Blicke und ihr Grinsen mit dem Überbiss zu legen.
Die meisten Menschen – genauer: Männer – in Harleys Leben tauchen auf und wieder ab, man gewöhnt sich an diese Unverbindlichkeit. Ob einer es gut meint mit ihr oder da ist, weil Harley noch jung und schön ist, scheint weniger wichtig als die Frage, ob einer gerade Stoff, ein Dach oder ein Motorrad hat. Alles Feste zerrinnt in Momente. Will Harley einmal Ilyas Jacke flicken, konzentriert der Film sich ganz auf diesen Faden, der durch das Nadelöhr gehen soll. Da kündigt sich dumpfer Hardstyle an, bevor er die Szene ganz überwältigt und ein Rave jedes Nadelöhr vergessen macht. So bestimmt die zwischen gespenstisch, energetisch und sakral changierende Elektromusik den Rhythmus.
Mad Love in New York bricht aus den Erzählmustern vieler Drogenfilme aus. Nicht Milieustudie oder Elendsporno will er sein, weder den mitleidigen noch den pädagogischen Blickwinkel einnehmen. Der Film ist vor allem ein kompromissloses Ernstnehmen der Menschen, von denen er handelt. Dabei gönnt er sich nicht die Distanziertheit einer Analyse oder die Emotionalität der Subjektive, sondern ist ganz Körperlichkeit, und Zeitlichkeit.