Still Loving the Alien |
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Gegenschuss der Subalternen: Vampires of Poverty | ||
(Foto: Carlos Mayolos und Luis Ospinas) |
Von Dunja Bialas
Berlin ist unangefochtene Diskurshauptstadt. Seit der pandemiebedingten Pause findet seit Juni dort wieder, teils als Open Air, teils im Haus der Statistik, die fortlaufende Film-mit-Diskurs-Reihe von SİNEMA TRANSTOPIA statt, die noch bis September das Thema »Decolonizing the Screen« beleuchtet. Filmraritäten sollen den eurozentristischen Blick aushebeln und Denkmuster freilegen, zugunsten des früher »drittes« Kino genannten Filmschaffens, mit Filmen, die beispielsweise die Migration von ihrem Ursprungsland oder den »Kulturschock« von der »fremden« Kultur her denken. Eine Umkehrung der Perspektive, die allemal erkenntnisgewinnend ist und verborgenen Filmographien zur Geltung verhilft.
»Transtopia« zielt, von Foucaults Heterotopie-Konzept eines Kinos (oder eines ähnlich abgeschlossenen Raums) als »Andersort« hergeleitet, auf einen Ort, an dem, nach dem Kölner Soziologen und Migrationsforscher Erol Yıldız, »grenzüberschreitende Bindungen und Verbindungen zusammenlaufen, neu interpretiert werden und sich zu Alltagskontexten verdichten«. Dem Film kommt als Transtopie besondere Bedeutung zu, ist er selbst doch eine in viele Länder migrationsfähige Kunstform, die dialogstiftend wirken kann und Vielstimmigkeit zu erzeugen vermag. Im Zentrum stehen »transnationale Narrative, Migrations- und Mobilitätsdiskurse«, so die Macher von SİNEMA TRANSTOPIA, Malve Lippmann und Can Sungu.
Das Programm will bewusst machen und vielleicht auch hinter sich lassen, dass seit Beginn der Filmgeschichte der »Andere« auch immer ein Fremder oder gar Alien war, unmöglich zu begreifen und mit Andacht angestaunt, aber ohne dem »Subalternen« je Subjektivität und eine Stimme gegeben zu haben (vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: »Can the Subaltern Speak?«, 2007).
»Poverty Porn« nennt man in ironiebegabten Fachkreisen, wenn der Blick auf die Armut mit einem Lustgewinn aus der filmischen Darbietung verbunden wird. Das ist gar nicht so selten, allein die Beschreibung eines zerfallenen Dorfes als »pittoresk« kann als Poverty Porn gelten. Die Grenze freilich ist nicht immer leicht zu ziehen. War es zynisch und »Poverty Porn«, wenn beispielsweise Luis Buñuel in seinem Dokumentarfilm Las Hurdes (1933) der Wirklichkeit nachhalf, um das Leiden der Bevölkerung im sich selbst überlassenen spanischen Hinterland deutlicher zum Vorschein zu bringen?
Die kolumbianischen Filmemacher Carlos Mayolos und Luis Ospinas bringen den Zynismus des Gutgemeinten in ihrem Poverty-Porn-Mockumentary Agarrando Pueblo (The Vampires of Poverty, 1977) zum Vorschein. Gnadenlos lassen sie Armutszenen für die Kamera entstehen – jetzt bitte noch ein bisschen effektvoller mit der Geldbüchse betteln – das soll »respektvoll« passieren, zitieren sie den angeblich ethischen Anspruch von Filmemachern auf der Jagd nach ergreifenden Szenen. Das ist entlarvend und komisch zugleich und ein harter Gegenschuss der Kolonialisierten auf die Blicke, die auf sie geworfen werden. (Alle, die nicht in Berlin sind, können den Film auf Youtube sehen.)
Stellt man ein Dokumentarfilmprogramm zusammen, sollte aus Gründen des schnell »kolonial« wirkenden eurozentristischen Blicks darauf geachtet werden, dass die Filmemacher*innen der Kultur entstammen, die sie dokumentieren – ohne jedoch dies im falsch verstandenen identitären Sinne zu meinen. Die Kategorien »von innen« / »von außen« bedeuten mehr als nur die handelnde Subjekthaftigkeit oder die passiv wirkende Vergegenständlichung einer Ethnie. In der eigenen Sprache und mit der eigenen Stimme zu sprechen ist seit der bahnbrechenden Streitschrift »Nur Stämme können überleben« (1969) des indianisch-amerikanischen Aktivisten Vine Deloria seit gut fünfzig Jahren ein wichtiger Indikator für die Selbstbestimmung.
Die postkoloniale Differenz-Theoretikerin und Filmemacherin Trinh T. Minh-ha (»Woman, Native, Other«,1989) zeigt in ihrem Essay Surname Viet Given Name Nam (1989) die auch nach der Entkolonialisierung noch anhaltende Mechanik der Unterdrückung. In der machistischen Gesellschaft trifft dies freilich nur noch die Frauen, familiär, privat und gesellschaftlich. Archivmaterial zeigt die überlieferte Aufgabe der Frau, »schön« zu sein, in Tänzen und Gesang. Die Frau, so scheint es, steht für Tradition und ethnische Identität, ist ganz wörtlich als Bäuerin dem Boden verhaftet. Trinh hat Frauen in den USA und der Heimat Vietnam befragt, gibt ihnen eine Stimme, damit sie ihre Sichtweise auf die vietnamesische Gesellschaft kundtun können. Ein historisches Dokument in Sachen Feminismus, aber auch darüber, wie formal befreit das politische Filmemachen einmal war.
Der kanadische Regisseur Denis Villeneuve hat sich, ganz in der Antizipation seiner Alien-Ethnologie von Arrival (2016), in seinem Debüt dem Kulturschock als differenzerzeugendem Moment gewidmet. REW-FFWD (1994) heißt sein Kurzdokumentarfilm, in dem er einen Fotografen nach Jamaika reisen lässt, der angesichts der entfesselten Kultur mit ihren eigenen Codes ordentlich ins Straucheln gerät. Der Titel enthält, für alle, die nicht mehr mit der Tape-Kultur vertraut sind, die Akronyme fürs Zurück- und Vorspulen. Etwas, was man sich angesichts präsentischer Wirklichkeitsbegegnung bisweilen wünschen würde. (Der Film ist ebenfalls auf Youtube zu sehen.)
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Decolonizing the Screen (4.8. – 22.9.)
SİNEMA TRANSTOPIA im Haus der Statistik
Otto-Braun-Straße 72, Berlin
Programm