04.11.2021

Zarte Macheten im Diskurs-Dickicht

REVÜ - Flugblatt für Cinephilie
Findet neue Wege der Filmbesprechung: REVÜ
(Foto: REVÜ 3/2021)

REVÜ, die neue Zeitschrift für Cinephilie, sucht neue Zugänge zu (meist) alten Filmen und zelebriert die Liebe zum Kino

Von Dunja Bialas

»In welchen Räumen lassen wir Film und Bewegt­bild heute wirken und was bedeutet das?« Diese Frage stellte sich eine Gruppe Studie­render der HFF München zur Zeit von Corona, während der Rest der Welt im Couch-Koma-Binge-Watching versank. Carlotta Wachotsch und Sarah Ellers­dorfer, beide Regie-Studen­tinnen, hatten während des Shutdowns die Idee für eine neue Kino-Zeit­schrift, nannten sie »REVÜ« und unter­ti­telten sie mit »Flugblatt für Cine­philie«. Flugblatt! Cine­philie! Bäng! In einer Zeit des Nieder­gangs nicht nur des Kinos, sondern auch des gedruckten Papiers wagten sie das eigent­lich Unmög­liche an einer Film­hoch­schule, die bislang weniger für ihre Liebe zum Kino als für die Liebe zum Fernsehen bekannt war und sich mitunter den Ruf als Kader­schule für formataf­fines Drehen einge­han­delt hat – im Gegensatz zur ungleich aufre­gen­deren dffb in Berlin. So denkt man jeden­falls.

Und jetzt das. Über 150 Seiten stark präsen­tiert sich die dritte Ausgabe der REVÜ, die am 1. November im Kino Neues Maxim in München vorge­stellt wurde. Darin: »Kurze Liebes­er­klärungen« von Filme­ma­cher*innen an das Kino, ganz und gar subjektiv. Warum beschäf­tigen uns bestimmte Szenen oder Figuren der Film­ge­schichte so lange? Warum kehrt unser Denken immer zu gewissen Stories zurück? Warum sind wir mit Emotionen erfüllt, wenn wir einen Film sehen? Das Kino: ist die Proust'sche Madeleine und Trig­ger­an­stalt unserer Gefühle.

Against inter­pre­ta­tion

Dieses Fühlen beim Sehen wollen die Film­stu­die­renden in ihren Texten fest­halten und nach­voll­ziehbar machen. Ihnen geht es weder um Film­ana­lyse noch um Film­kritik, und das macht die Lektüre so uner­wartet, auch in der sprach­li­chen Verfasst­heit. Sie sind radikal subjektiv, scheuen auch nicht vor der Erleb­nis­ebene zurück und verleihen den Filmen Einzig­ar­tig­keit und das uns nicht mehr loslas­sende Barthes’sche punctum, in dem sich der Blick beim Betrachten des Bildes verfängt. Die Allge­gen­wär­tig­keit der Bilder machte Susan Sontag in »The Decay of Cinema« (1996) verant­wort­lich dafür, dass »cine­philia has no role in the era of hyper­in­dus­trial films«. REVÜ will den Film­bil­dern die Einzig­ar­tig­keit zurück­geben.

»Heute geht es darum, dass wir unsere Sinne wieder­erlangen. Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen«, so Carlotta Wachotsch im Vorwort. »Es ist nicht unsere Aufgabe, mehr Inhalt aus einem Werk heraus­zu­pressen, als darin enthalten ist. Unsere Aufgabe ist vielmehr, den Inhalt zurück­zu­schneiden, damit die Sache selbst zum Vorschein kommt.«

Wachotsch zitiert hier Susan Sontags Essay »Against Inter­pre­ta­tion« (1966) und könnte auch zu einem anderen, viel­leicht werks­ge­treueren, aber auch subjek­ti­veren Schreiben über Film führen. Der Film­kri­tiker Daniel Kothen­schulte definiert beispiels­weise eine gute Film­kritik als »Text, der das Gefühl wieder­gibt, einen Film gesehen zu haben« – mit der Betonung auf Gefühl. Der also auf Deutungs­ho­heit und Films­plai­ning erst einmal verzichtet, um die innere Synapsen-Anspan­nung, wenn sich das Werk sinnlich Eindruck verschafft, diese psycho-physische Achtern­bahn­fahrt der Film­re­zep­tion begreifbar zu machen. Dies vermag die gestal­tete Form des Films, und um darüber zu schreiben, braucht es ein »beschrei­bendes und kein vorschrei­bendes Vokabular«, so Sontag.

Eine Atmo­sphäre der Aufmerk­sam­keit

Elf Texte versam­melt die REVÜ in ihrer dritten Ausgabe. Beim Lesen fällt auf: Erstens: Die Texte sind Dialoge mit dem jewei­ligen Film, oft als persön­liche Ausein­an­der­set­zung. Zweitens: Sie doku­men­tieren das Zusam­men­treffen einer jungen mit einer älteren Gene­ra­tion von Filme­ma­chern. Drittens: Sie nähern sich den Filmen mit Sprache an, wie es der Film­kri­tiker Helmut Färber, der lange an der HFF München unter­richtet hat, immer postu­liert hat. Herzu­stellen sei eine »Atmo­sphäre der Aufmerk­sam­keit« am Schnei­de­tisch. Bild für Bild geht man dann eine Sequenz durch. Eine Art des »Close Watching«, in dem Struk­turen zutage treten, ästhe­ti­sche Entschei­dungen begreif­lich werden, das Werk durch­drungen wird. Wenn man dann über den Film schreibt, sollte man die Syntax an die Sprache des Films anlehnen, so Färber, der auch als Film­essayist tätig war.

Die Färber’sche Methode ruft Emil Klat­ten­hoff in seinem Text zu Jacques Nolots Hinter­land (1998) in Erin­ne­rung, tradiert wurde sie vom Färber-Schüler Gerhard Friedl. REVÜ kann so auch als wunder­bare Rückkehr zu dieser umtrie­bigen Gene­ra­tion um Christoph Hoch­häusler und Benjamin Heisen­berg gedeutet werden, die die Zeit­schrift »Revolver« 1998 gegründet hatten, an die REVÜ immer wieder erinnert.

»Da schaut man und schaut man, und plötzlich trifft es einen. Wie ein Schlag oder eben ein punctum.« Emil Klat­ten­hoff hat in Hinter­land eine »Geste der Haupt­figur dermaßen irritiert, dass ich mich entschieden habe, die Sequenz um den Moment herum genauer zu betrachten und im Folgenden zu beschreiben. Bilder mit Worten einkreisen, um so das Gesehene zu ordnen und hoffent­lich auch besser zu verstehen, ja sogar viel­leicht etwas zuvor Verbor­genes zu entdecken.«

Kreative Verun­si­che­rung

Das Fragen und Hinter­fragen, das Zaudern statt des Urteilens, das Benennen der eigenen Irri­ta­tion und das Nicht-schon-immer-alles-Wissen – die Unsi­cher­heiten und Verun­si­che­rungen spielen auch in anderen Texten eine Rolle. Camille Tricaud lässt Leos Carax’ Annette (2021) wegen des dort insze­nierten Femizids ratlos zurück, Justina Jürgensen denkt bei François Ozons Jung & schön (2013) allgemein an die Mädchen­jahre, in denen die weibliche Sexua­lität auf einmal allen zu gehören scheint. Berthold Wahjudi wiederum prangert in seiner Bespre­chung von Usmar Ismails Lewat Djam Malam (1954) als rares Beispiel der Restau­rie­rung eines indo­ne­si­schen Filmerbes die Unge­rech­tig­keit der Ressour­cen­ver­tei­lung an, als Perp­etu­ie­rung der Kolo­nia­li­sie­rung. Den Gene­ra­tio­nen­blick enthält bereits Sandra Wollners Das unmög­liche Bild (2016). Sarah Ellers­dorfer findet in ihrem Text zu einem mehr­schich­tigen Dialog zwischen sich, der Filme­ma­cherin jenseits der Leinwand, und dem Mädchen, das dem Vater im Film die Kamera entreißt.

Die Vielfalt der Texte spricht für die Vielfalt der persön­li­chen Sicht­weisen, die sich den Weg durchs Diskurs-Dickicht bahnen und auch mitunter zerschlagen. Genauer hinsehen, wieder neugierig werden und die Filme mit den ganz eigenen Gedanken durch­dringen, führt hier auch zu einer neuen Form des Nach­den­kens und Schrei­bens über Filme. Welch ein Glücks­fall.

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REVÜ – Flugblatt für Cine­philie
Ausgabe 3, München, November 2021. 154 Seiten, 8€

Zu beziehen in folgenden Kinos in München: Neues Maxim, Theatiner Filmkunst, Werk­statt­kino, oder über den Buch­handel: ISBN 978-3-9823086-1-6