Zarte Macheten im Diskurs-Dickicht |
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Findet neue Wege der Filmbesprechung: REVÜ | ||
(Foto: REVÜ 3/2021) |
Von Dunja Bialas
»In welchen Räumen lassen wir Film und Bewegtbild heute wirken und was bedeutet das?« Diese Frage stellte sich eine Gruppe Studierender der HFF München zur Zeit von Corona, während der Rest der Welt im Couch-Koma-Binge-Watching versank. Carlotta Wachotsch und Sarah Ellersdorfer, beide Regie-Studentinnen, hatten während des Shutdowns die Idee für eine neue Kino-Zeitschrift, nannten sie »REVÜ« und untertitelten sie mit »Flugblatt für Cinephilie«. Flugblatt! Cinephilie! Bäng! In einer Zeit des Niedergangs nicht nur des Kinos, sondern auch des gedruckten Papiers wagten sie das eigentlich Unmögliche an einer Filmhochschule, die bislang weniger für ihre Liebe zum Kino als für die Liebe zum Fernsehen bekannt war und sich mitunter den Ruf als Kaderschule für formataffines Drehen eingehandelt hat – im Gegensatz zur ungleich aufregenderen dffb in Berlin. So denkt man jedenfalls.
Und jetzt das. Über 150 Seiten stark präsentiert sich die dritte Ausgabe der REVÜ, die am 1. November im Kino Neues Maxim in München vorgestellt wurde. Darin: »Kurze Liebeserklärungen« von Filmemacher*innen an das Kino, ganz und gar subjektiv. Warum beschäftigen uns bestimmte Szenen oder Figuren der Filmgeschichte so lange? Warum kehrt unser Denken immer zu gewissen Stories zurück? Warum sind wir mit Emotionen erfüllt, wenn wir einen Film sehen? Das Kino: ist die Proust'sche Madeleine und Triggeranstalt unserer Gefühle.
Dieses Fühlen beim Sehen wollen die Filmstudierenden in ihren Texten festhalten und nachvollziehbar machen. Ihnen geht es weder um Filmanalyse noch um Filmkritik, und das macht die Lektüre so unerwartet, auch in der sprachlichen Verfasstheit. Sie sind radikal subjektiv, scheuen auch nicht vor der Erlebnisebene zurück und verleihen den Filmen Einzigartigkeit und das uns nicht mehr loslassende Barthes’sche punctum, in dem sich der Blick beim Betrachten des Bildes verfängt. Die Allgegenwärtigkeit der Bilder machte Susan Sontag in »The Decay of Cinema« (1996) verantwortlich dafür, dass »cinephilia has no role in the era of hyperindustrial films«. REVÜ will den Filmbildern die Einzigartigkeit zurückgeben.
»Heute geht es darum, dass wir unsere Sinne wiedererlangen. Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen«, so Carlotta Wachotsch im Vorwort. »Es ist nicht unsere Aufgabe, mehr Inhalt aus einem Werk herauszupressen, als darin enthalten ist. Unsere Aufgabe ist vielmehr, den Inhalt zurückzuschneiden, damit die Sache selbst zum Vorschein kommt.«
Wachotsch zitiert hier Susan Sontags Essay »Against Interpretation« (1966) und könnte auch zu einem anderen, vielleicht werksgetreueren, aber auch subjektiveren Schreiben über Film führen. Der Filmkritiker Daniel Kothenschulte definiert beispielsweise eine gute Filmkritik als »Text, der das Gefühl wiedergibt, einen Film gesehen zu haben« – mit der Betonung auf Gefühl. Der also auf Deutungshoheit und Filmsplaining erst einmal verzichtet, um die innere Synapsen-Anspannung, wenn sich das Werk sinnlich Eindruck verschafft, diese psycho-physische Achternbahnfahrt der Filmrezeption begreifbar zu machen. Dies vermag die gestaltete Form des Films, und um darüber zu schreiben, braucht es ein »beschreibendes und kein vorschreibendes Vokabular«, so Sontag.
Elf Texte versammelt die REVÜ in ihrer dritten Ausgabe. Beim Lesen fällt auf: Erstens: Die Texte sind Dialoge mit dem jeweiligen Film, oft als persönliche Auseinandersetzung. Zweitens: Sie dokumentieren das Zusammentreffen einer jungen mit einer älteren Generation von Filmemachern. Drittens: Sie nähern sich den Filmen mit Sprache an, wie es der Filmkritiker Helmut Färber, der lange an der HFF München unterrichtet hat, immer postuliert hat. Herzustellen sei eine »Atmosphäre der Aufmerksamkeit« am Schneidetisch. Bild für Bild geht man dann eine Sequenz durch. Eine Art des »Close Watching«, in dem Strukturen zutage treten, ästhetische Entscheidungen begreiflich werden, das Werk durchdrungen wird. Wenn man dann über den Film schreibt, sollte man die Syntax an die Sprache des Films anlehnen, so Färber, der auch als Filmessayist tätig war.
Die Färber’sche Methode ruft Emil Klattenhoff in seinem Text zu Jacques Nolots Hinterland (1998) in Erinnerung, tradiert wurde sie vom Färber-Schüler Gerhard Friedl. REVÜ kann so auch als wunderbare Rückkehr zu dieser umtriebigen Generation um Christoph Hochhäusler und Benjamin Heisenberg gedeutet werden, die die Zeitschrift »Revolver« 1998 gegründet hatten, an die REVÜ immer wieder erinnert.
»Da schaut man und schaut man, und plötzlich trifft es einen. Wie ein Schlag oder eben ein punctum.« Emil Klattenhoff hat in Hinterland eine »Geste der Hauptfigur dermaßen irritiert, dass ich mich entschieden habe, die Sequenz um den Moment herum genauer zu betrachten und im Folgenden zu beschreiben. Bilder mit Worten einkreisen, um so das Gesehene zu ordnen und hoffentlich auch besser zu verstehen, ja sogar vielleicht etwas zuvor Verborgenes zu entdecken.«
Das Fragen und Hinterfragen, das Zaudern statt des Urteilens, das Benennen der eigenen Irritation und das Nicht-schon-immer-alles-Wissen – die Unsicherheiten und Verunsicherungen spielen auch in anderen Texten eine Rolle. Camille Tricaud lässt Leos Carax’ Annette (2021) wegen des dort inszenierten Femizids ratlos zurück, Justina Jürgensen denkt bei François Ozons Jung & schön (2013) allgemein an die Mädchenjahre, in denen die weibliche Sexualität auf einmal allen zu gehören scheint. Berthold Wahjudi wiederum prangert in seiner Besprechung von Usmar Ismails Lewat Djam Malam (1954) als rares Beispiel der Restaurierung eines indonesischen Filmerbes die Ungerechtigkeit der Ressourcenverteilung an, als Perpetuierung der Kolonialisierung. Den Generationenblick enthält bereits Sandra Wollners Das unmögliche Bild (2016). Sarah Ellersdorfer findet in ihrem Text zu einem mehrschichtigen Dialog zwischen sich, der Filmemacherin jenseits der Leinwand, und dem Mädchen, das dem Vater im Film die Kamera entreißt.
Die Vielfalt der Texte spricht für die Vielfalt der persönlichen Sichtweisen, die sich den Weg durchs Diskurs-Dickicht bahnen und auch mitunter zerschlagen. Genauer hinsehen, wieder neugierig werden und die Filme mit den ganz eigenen Gedanken durchdringen, führt hier auch zu einer neuen Form des Nachdenkens und Schreibens über Filme. Welch ein Glücksfall.
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REVÜ – Flugblatt für Cinephilie
Ausgabe 3, München, November 2021. 154 Seiten, 8€
Zu beziehen in folgenden Kinos in München: Neues Maxim, Theatiner Filmkunst, Werkstattkino, oder über den Buchhandel: ISBN 978-3-9823086-1-6