Das Schweigen der Pythia |
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Haben in der Welt der Plattformen kaum noch Platz: Star-Regisseure wie Pedro Almodóvar (hier: Parallele Mütter) | ||
(Foto: Studiocanal) |
Von Roland Zag
Seit Jahren macht man sich Sorgen ums Kino. Mit der Coronakrise haben sich diese massivst verstärkt. Die Aussichten fürs Jahr 2022 scheinen trübe. Nun sind aber Sorgen um künstlerische Medien generell nichts Neues. Mit Erfindung der Fotografie hatte man Angst um die Malerei, mit dem Film um das Theater, mit den Schallplatten um die Konzertmusik und so weiter. Üblicherweise enden solche Diskussionen in der Einsicht, dass totgesagte Medien dann letztlich doch länger leben. Warten wir also am besten doch nur das Ende der Pandemie ab und kehren danach zur Tagesordnung zurück?
Vielleicht greift eine solche Haltung doch zu kurz. Was, wenn sich ein viel umfassenderer gesellschaftlicher Paradigmenwechsel abzeichnet, in dem sich die kulturelle Kommunikation insgesamt – und damit auch der Stellenwert des Kinos – grundlegend ändert? Ist womöglich ein viel radikalerer Umbruch im Gange? Um diese vielleicht gewagte These zu erläutern, soll hier kurz sehr weit ausgeholt werden.
Nicht nur die gegenwärtige Drehbuchtheorie geht auf Aristoteles zurück; auch die Situation des kulturellen Austauschs, wie wir ihr im Kino begegnen, gründet auf antiken Mustern. Bekanntlich dienten Dramen und Satyrspiele in der Athenischen Polis der 'Katharsis'. Diese seelische Reinigung durch Erschütterung setzte ein gemeinsames Erleben im Theater voraus. So wurde die 'Polis', also das Gemeinwesen (= der männliche Teil der Bürgerschaft) durch die Kunst gleichsam immer wieder neu geordnet und zentriert. Das Zusammenleben bekam so einen dunkel zu ahnenden 'Sinn'.
Noch archaischer, noch bildkräftiger wirkte das Orakel von Delphi. Dort saß angeblich die sagenhafte Pythia auf einer Erdspalte, aus welcher der Sage nach berauschende Dämpfe strömten, welche der Priesterin unverständliche Laute entlockten. Diese mussten vom 'Publikum' – in diesem Fall der sie umgebenden Priesterschar – erst in menschliche Dimensionen übersetzt werden. Zugrunde lag die Vorstellung eines Schicksals, welches sich leider nur in Rätseln offenbart. Auch diese Nuss war nur im Kollektiv zu knacken.
Auf dieser uralten Grundsituation beruht(e) die performative Kultur im Grunde, stark vereinfacht betrachtet, teilweise noch bis heute: Auf den Bühnen dieser Welt vermittel(te)n Künstler entweder live oder, wie im Fall des Kinos, technisch reproduziert, Botschaften, die vom Publikum kollektiv verarbeitet und entschlüsselt werden müssen bzw. mussten. Künstler, aber auch Kinofilme sind (oder waren?) demnach immer noch im weitesten Sinne Medien, Verkünder, Orakel. Auch das Bild des/der Künstlers/in als vom Kuss der Muse berauschten Genies, welches sich vieles erlauben kann, wenn nur das Werk möglichst stark ist, passt in dieses Bild.
Immer noch steht diffus die Idee im Raum, dass da ein ominöses, ungreifbares, nur künstlerisch zu fassendes Etwas existiert, welches im künstlerischen Akt immer neu zu decodieren ist und die Gesellschaft auf gemeinsame Erfahrungen einschwört. So organisiert(e) sich die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens um einen imaginären gedachten kulturellen Kern, den jeder irgendwie ahnt, aber niemand genau benennen kann.
Gleichgültig wie sehr die Denker und Denkerinnen der Moderne und Post-Moderne an der Idee des Sinnhaften (dem 'grand récit') gerüttelt haben mögen – bis vor kurzem schien all dies noch fester Bestandteil des kulturellen Lebens. Insbesondere die staatliche Förderung der Hochkultur (Theater, Oper, aber auch der künstlerisch wertvolle Film) kreiste beständig um einen imaginären Kern schützenswerter geistiger Werte, welche der Gesellschaft (...doch welcher genau? muss man sich immer mehr fragen...) inneren Halt gaben. Diese Situation wird angesichts der fortschreitenden Digitalisierung immer fragwürdiger.
Vorläufig scheint die Beobachtung entscheidend, dass GLEICHZEITIGKEIT des Erlebens in der Gemeinschaft von zentraler Bedeutung war bzw. ist. Aus dem synchronen Lachen, Erschrecken, Staunen, Rätseln entstand und entsteht im Publikum ein Band der Zugehörigkeit. Dieses multipliziert das Erleben. Daraus entsteht Verbundenheit und Verbindlichkeit. Ohne sozialen Resonanzraum keine Erschütterung, keine gesellschaftliche Konsequenz. Wie selbstverständlich ging man lang genug davon aus, dass sich künstlerisch-geistige Kommunikation auch im Kino auf diesem Weg vollzieht.
All dem war allerdings auch – und das sollte nicht vergessen werden – ein Aspekt des Autoritären eingeschrieben. In der Frage, was, wann und warum auf der Bühne oder der Leinwand gespielt wird, hat(te) das Publikum wenig Mitspracherecht. Kultur war analog zur Religion die längste Zeit in der Hand von Eliten: in erster Linie natürlich der Künstler, aber auch der Kritik, der Eingeweihten, Kuratoren, Redakteure, Programmgestalter usw., welche darüber bestimm(t)en, was der Verbreitung würdig ist und was nicht.
All das gilt oder galt wenigstens zum Teil auch noch fürs Kino: Es setzt(e) immer noch die hierarchisch geordnete Situation einer Menge von Menschen voraus, die bereit sind (waren), sich mit kollektiven Erlebnissen zu konfrontieren, auf die sie keinen Einfluss haben (hatten); nur wurde im Kino die Rolle der Verkünder durch die mechanische Reproduktionen ersetzt. Auf diese Art kam dem Kino jahrzehntelang eine gesellschaftlich prägende Rolle zu – mit populären Reihen à la »Star Wars« oder »James Bond« bis hin den stilbildenden Arthouse-Filmen auf den einschlägigen Festivals ging stets eine Art Identitätsbildung einher: Man war sich einig, was 'man' gesehen oder diskutiert haben musste. Das Kino hatte Teil an einer Sinnbestimmung im Kollektiv.
Dieses Modell war schon lange vor Corona brüchig geworden. Spätestens mit der Einführung der Streaming-Plattformen. Und darin liegt zunächst unbezweifelbar ein Gewinn: Zuschauerinnen und Zuschauer der Gegenwart sind selbstbestimmtere Wesen als früher. Sie können nach Lust und Laune die Herrschaft über das kulturelle Angebot selbst übernehmen. Die autoritäre Trennung zwischen Bühne, aber auch zwischen Programmmachern, Redakteuren und Kuratoren einerseits und dem Publikum andererseits entfällt. Niemand schreibt den Nutzern mehr irgendetwas vor. Soziale Barrieren des kulturellen Lebens wie Eintrittspreise, Kleidervorschriften oder soziale Hierarchien spielen keine Rolle. Die Plattformen gleichen Lagerhäusern, in deren Regalen sich Waren aller Arten und Genres stapeln: Jeder nimmt, worauf er oder sie Lust hat.
Streamingdienste leisten so einen Beitrag zu Diversität und Egalität. Sie unterscheiden nicht zwischen arm und reich, klug und beschränkt, Hochkultur oder Popkultur, männlich, weiblich, schwul, lesbisch, trans, divers. Die Frage, was »funktioniert« und also in Zukunft produziert wird, bestimmen nicht Eliten, sondern – vereinfacht ausgedrückt – Algorithmen nach Maßgabe der Logik des Weltmarktes. Vor dem W-Lan Router sind alle Menschen gleich.
Insofern wird auch die Frage nach der gesellschaftlichen Identität überflüssig. Das Internet kreiert so viele Parallel-Gesellschaften, dass sich die Idee der nationalstaatlichen Einheit erledigt. Jeder wählt aus, zu welcher Community er/sie sich zählen will. Es existiert nicht mehr 'die' eine Gesellschaft, sondern es gibt unzählige. Wozu dann also noch kollektive Sinngebung?
All dies kann als Gewinn an Autonomie verbucht werden – geht aber auch mit Verlusten einher. Wer heute zuhause beim Frühstück, im Bett, am Home-Trainer, in der U-Bahn oder auf der Toilette Filme konsumiert, ist jeder Gemeinschaft entbunden. Bestenfalls schaut man noch zu zweit. Emotionale Verstärkung durch kollektives Erleben ist kaum noch vorgesehen. Das soll nicht heißen, dass man nicht auch im stillen Kämmerlein kathartische Prozesse erleben kann. Doch mit der Gleichzeitigkeit des Erlebens entfällt das Moment der gemeinsam geteilten Erschütterung bis hin zu einem veränderten Verständnis von Gesellschaft.
Es ist nun keineswegs so, dass all dies ganz neu wäre. Die Digitalisierung vollendet vielmehr eine bereits viel länger dauernde Emanzipation: Schon seit Jahrhunderten, letztlich seit Erfindung des Buchdrucks fördern Technologien die Selbstbestimmung des gemeinen Volkes auf Kosten der Privilegien von Eliten. Religion, Musik, Literatur, bildende Kunst kamen durch die Jahrhunderte immer mehr unters Volk. Die Gleichberechtigung nahm zu, und zugleich auch die Einebnung von Hochkultur und Unterhaltung, von Elitärem und Trivialem. Dieser Prozess der Ent-Hierarchisierung setzt sich nun im digitalen Raum radikaler denn je fort.
Und das hat Konsequenzen: Das Verlangen, durch Live-Performances oder eben auch durch das Kino so etwas wie einen kollektiven Sinn zu suchen, könnte nach Ende der Pandemie (falls ein solches wirklich kommt) stark nachgelassen haben. Möglicherweise kommt der Kultur, und mit ihr auch dem Kino, die Kraft des Kollektiven abhanden. Das bedeutet nicht nur, dass das Verlangen nach Gemeinsamkeit schwindet, sondern auch die Idee, durch (Film)-Kunst so etwas wie 'Sinn' im altgriechischen Sinne zu erfahren. Wie und wo dann eine Filmkunst, die diesen Namen noch verdient, ihren Platz finden könnte, bleibt gegenwärtig offen. Bei den jetzt gegenwärtigen Streamingdiensten ist dieser Platz wohl eher nicht zu suchen.
Eine wenig diskutierte Auswirkung der Herrschaft der Streaming-Dienste liegt in einem veränderten öffentlichen Bild der Künstler und Künstlerinnen selbst. Zum Kino gehörte selbstverständlich immer auch der Glamour nicht nur der Darstellerinnen, sondern auch ihrer (meist männlichen) Schöpfer. Das Bild des Star-Regisseurs wurde durch 'Genies' wie Fassbinder, Godard, Spielberg, Scorsese, Almodóvar, Lars von Trier usw. geprägt. Diese haben in der Welt der Plattformen kaum noch Platz. Die Floskel 'Ein Film von...' hat im Titel-Vorspann ihre Magie verloren. Die öffentliche Ausstrahlung der Schöpfer verschwindet, oder sie verlagert sich in den digitalen Raum (wie etwa im Fall der Serien-Creatorin Shonda Rhimes, die auf Instagram Millionen Follower hat, aber im traditionellen Feuilleton kaum eine Rolle spielt). Auch insofern ist eine Veränderung im Gange, die am Ende das Verhältnis zum Kino, aber letztlich noch mehr zu seinen Machern und Macherinnen in Frage stellen könnte. Der Star ist heute die Plattform.
Ob und wie sich also das Kino erholen wird, hängt vermutlich von weit mehr Faktoren, als nur von hygienischen Abstandsregeln, staatlichen Fördermaßnahmen und attraktiven Blockbustern ab. Wesentlich wichtiger scheint die Frage, wie weit und wie nachhaltig die Digitalisierung die Gewohnheiten und Bedürfnisse der Menschen verändert.
Letztendlich stehen sich hier zusammenfassend zwei Modelle gegenüber:
Das altgediente 'Verkündigungsmodell' verlangt vom Kinopublikum einen hohen Aufwand an Geld, Zeit und Commitment; es belohnt aber nicht nur mit überlegener Bild-und Tonqualität, sondern vor allem einem Gemeinschaftsgefühl, das im besten Fall aristotelische Katharsis-Erfahrungen im Kollektiv ermöglicht. Während Kinobesucher sich oft noch jahrelang erinnern können, wann sie was gesehen haben, lässt der soziale Raum heimischen Konsumierens nur noch wenig solcher Unverwechselbarkeit zu. Der innerste Kern dieses Erlebens kreist im Kino um Werte wie Sinnbildung, Verbindlichkeit oder gesellschaftliche Relevanz.
Das digitalisierte Modell hingegen offeriert ein ungleich selbstbestimmteres, bequemeres, gleichberechtigteres und auch billigeres Angebot. Auf der Strecke bleibt allerdings die Idee der kollektiven Erschütterung und Läuterung. Die Vorstellung, dass sich eine imaginäre 'Polis' an gemeinsamen Erfahrungen vor dem heimischen Bildschirm orientiert, hat hier keinen Ort mehr. Das Schicksal hat in der digitalisierten Welt nichts mehr zu melden. Die Pythia schweigt.
Einfache Prognosen, was sich durchsetzen wird, verbieten sich. Vermutlich kommt es wie so oft nicht zum Entweder-Oder, sondern zu einem neuen Verhältnis im Sowohl-als-Auch. Aber die Vorstellung, dass alles irgendwann wieder so wird, wie es mal war, scheint naiv.
Es kann zwar durchaus sein, dass sich das Publikum der Zukunft gleichsam ausgehungert wieder auf altbekannte Vergnügungen stürzt. Aber es spricht doch ebenso viel dafür, dass auch aus älteren Kinozuschauern in Zukunft ganz einfach digitale User geworden sein könnten, für die gesellschaftliche Kraft des Kinos unwiederbringlich dahin ist.
Entscheidend wird sein, wie mutig sich Kreative – also vor allem alle an den Stoffentwicklungen Beteiligten – der Aufgabe stellen, spannende, aufregende und wirklich zeitgemäße Inhalte zu kreieren, die dem Erfahrungshorizont eines heutigen Publikums standhalten.
Wenn Menschen künftig verführt werden sollen, nochmals den altmodischen Weg ins Dunkel des Kinosaals auf sich zu nehmen, müssen wahrhaft unerhörte Ereignisse auf sie warten. Wir sind aufgerufen, nach
ihnen zu suchen.
Roland Zag ist Autor, Dramaturg, Lektor und Drehbuchberater. In diesen Funktionen ist er an vielen Dutzend Filmen beteiligt, die uns allen bekannt sind; ebenso auch an manchen Arbeiten, die bisher (noch) unverfilmt blieben. Seit Jahren denkt er auch über das Medium Kino als Ganzes nach.
Dieser Gastbeitrag erschien als Erstveröffentlichung in Wendepunkt' #48 VeDRA