18.02.2022
72. Berlinale 2022

Weniger sind manchmal mehr

Claudia Roth
Die, die man nicht sieht, ist Claudia Roth
(Foto: Dunja Bialas)

Keine Bildzeitungsschlagzeile weit und breit: die Berlinale war tiefenentspannt und securitysicher, aber nicht inklusiv und irgendwie blöd zu bedienen. Ein Praxisbericht

Von Dunja Bialas

Berlinale-Leiter Carlo Chatrian und sein Chef-Programmer Mark Peranson schreiten zum Berlinale-Palast. Es ist der letzte, stür­mi­sche Tag des Festivals, für den Abend stehen nicht nur die Preis­ver­lei­hungen auf dem Programm, sondern auch heftige Orkan-Böen. Am Nadelöhr, das am Zugang zum VIP-Bereich eine Passage für alle Geboos­terten und obendrein Getes­teten lässt – die spezielle Berlinale-Corona-Security-Maßnahme für die Presse und Profes­sio­nals – wird auch der Berlinale-Direktor nach seiner Akkre­di­tie­rung gefragt. Das wäre Kosslick nie passiert, der hätte auch die Wach­dienst­leute bespaßt und wäre bei ihnen bekannt gewesen wie, naja, wie ein bunter Hund halt.

Es herrscht jetzt ein anderer Esprit in der Leitungs­etage. Einige der Kritiker-Kollegen befanden sogar, dass sich Chatrian zu sehr zurück­nimmt, geradezu aus dem Raum verschwindet, keine Kino-Vorfüh­rungen besucht, bis sie darauf hinge­wiesen wurden, dass sie es ja fast ausschließ­lich mit nüch­ternen Pres­se­vor­füh­rungen zu tun hatten. Die Begegnung mit Chatrian bleibt aber exklusiv, ein Ereignis geradezu, das er dem roten Teppich vorbehält, wo er mit seiner Co-Leiterin Mariette Rissen­beek ein unspek­ta­kuläres Empfangs­ko­mitee für die Film­branche bildet. Alles ist weniger staats­tra­gend als unter Kosslick und Grütters, denn mit der neuen Regierung erklimmen auch neue Prot­ago­nis­tinnen mit anderem Life-Style den Berlinale-Palast. So die bestens gelaunte Kultur­staats­mi­nis­terin Claudia Roth, die in ihrem roten Strick­pulli und ausla­denden roten Glitzer-Rock das passende Camou­flage-Outfit für den roten Teppich gewählt hat. Sie fällt natürlich trotzdem auf – durch spit­zen­mäßige Laune.

Auf dem Potsdamer Platz hatten sich dieses Jahr besonders viele Security-Leute aufgebaut. Wenn sie sich einem in den Weg stellten, rief das immer ein kurzes Gefühl der Beklem­mung hervor, eine große Zen-Übung war es dann, den Ball flach zu halten, was nicht allen und nicht immer gelang. Von diesen wenigen, vorher­seh­baren Zwischen­fällen einmal abgesehen, ging das Stress-Potential der unter Corona-Einschrän­kungen durch­ge­führten Berlinale gegen Null. Keine Schlangen an den beiden Test­bussen auf dem Potsdamer Platz, das Tages­bänd­chen, was einem das ständige Zücken von Impf- und Test­nach­weis ersparte, erhielt man im Nu. Nur am Café am Platz ergaben sich mangels Alter­na­tiven lange Warte­zeiten, damit aber auch Zeit zum Plausch. Summa summarum: Die Berlinale 2022 fand ohne Aufreger und ohne Skan­da­li­sie­rung statt. Das war fast schon ein bisschen lang­weilig: keine Potsdamer Seuche, keine Presse-Gängelung, keine Bild­zei­tungs­schlag­zeile, weit und breit nur reibungs­loser Ablauf. So konnten die Filme hervor­treten, wenn auch nicht immer zu ihren Gunsten, denn das Programm war insgesamt dann doch recht durch­wachsen.

Selbst die empörten Kollegen, die sich im Vorfeld darüber aufgeregt hatten, dass man sich bei der Online-Buchung den Sitzplatz nicht selbst wählen konnte, hatten sich beruhigt. In den Sälen gab es keine herri­schen Platz­an­weiser, die über­wachten, dass man auch ja dort zu sitzen kam, wo einen das System auto­ma­tisch hinge­wiesen hatte. In den immer wieder auch eher leeren Sälen konnte man sich problemlos in das vordere Drittel setzen und alle anderen hinter sich lassen: es wurde von oben nach unten belegt. Das verschaffte mir bei Hong Sangsoo den Eindruck, ganz allein im Kino zu sitzen. Niemand war zwischen mir und dem Film, weit und breit keine Stör­geräu­sche. Was für ein beglü­ckendes Gefühl! Aber natürlich nicht das Gemeinsam-Gefühl, mit dem die Berlinale die physische Ausgabe ange­priesen hatte: »Weil Kino­kultur ganz stark vom gemein­samen Kino­er­lebnis profi­tiert«, so hatte es Pres­se­spre­cherin Frauke Greiner formu­liert. Die Einsam­keit im Kinosaal, so wurde berichtet, gab es stel­len­weise auch bei Publi­kums­vor­füh­rungen.

Man stelle sich das einmal vor: Die Berlinale hatte ein Online-Ticketing! Sicher­lich benötigt das System noch Fein­tu­ning. Aber es erledigte sich alles mit dem Smart­phone in der Hand: Ticket reser­vieren, Ticket stor­nieren. In Sekun­den­schnelle, so schnell sogar, dass spontane Umbu­chungen verhin­derten, am Ende doch die meisten der Preis­trä­ger­filme gesehen zu haben, für die man eigent­lich eine Karte gehabt hätte: Kollegen rieten ab. Sehr nervig aller­dings war, dass die Website kaum zu bedienen war. Nach einem bestimmten Film zu suchen, ist dort ein aufwen­diges Recherche-Unter­nehmen. Dass es keine gedruckten Programm­hefte gab, ging vor allem zu Lasten des Forums, dessen Filme früher von den umfas­senden Begleit­texten eindeutig profi­tiert hatten. Die Notwen­dig­keit von Smart­phones könnte man als Einzug in das digitale Zeitalter bejubeln. Inklusiv aber war das nicht, wie sich die Berlinale gerne selbst darstellt, und so reisten die Kriti­ke­rinnen H. und K. mit dem Kommentar »Wir sind zwar alt, aber nicht blöd!« wieder ab, weil sie technisch abgehängt waren. Zur Inklusion gehört also zwingend eine Analog-Ergänzung, wie ausge­druckte Tickets – wenn man die will oder braucht.

Von vielen wurde am meisten kriti­siert, dass die Berlinale dieses Jahr in nur sechs Tagen den Turbo-Gang eingelegt hatte. Kollege D. ächzte unter der Zeitraum-Verknap­pung und warf den Berlinern, die seit Januar in den Genuss von Pres­se­vor­füh­rungen kommen, vor, eindeutig im Vorteil zu sein. Heraus­for­dernd war es außerdem, im zur »Magic Mike«-Kulisse umge­stal­teten Berlinale-Palast-Unter­schoss ernsthaft Texte zu schreiben, während einen die Klima­an­lage von oben anbläst und einen ein weißes Einhorn anglotzt. Ein Wunder, dass man sich nicht eine mittel­schwere Erkältung einge­fangen hat, wie sonst bei der Berlinale. Und auch keinen Virus: weder Magen-Darm, noch Grippe, noch Corona. Viel­leicht sollte man im Kino einfach immer Masken tragen?

All jene, die aus Angst vor Anste­ckung im Vorfeld gar gefordert hatten, die Berlinale solle ausfallen, lautstark »unver­ant­wort­lich« riefen und sich gleich von der Berlinale fern­ge­halten haben, haben natürlich recht. Wer weiß, wie es gewesen wäre, wenn sie alle gekommen wären und mit ihrer Nervo­sität den Berlinale-Campus zum unsi­cheren Terrain gemacht hätten? Weniger sind manchmal mehr, für diese Berlinale hat das sicher zuge­troffen. Wir sind gespannt, was vom Ausnah­me­zu­stand bleibt.