72. Berlinale 2022
Weniger sind manchmal mehr |
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Die, die man nicht sieht, ist Claudia Roth | ||
(Foto: Dunja Bialas) |
Von Dunja Bialas
Berlinale-Leiter Carlo Chatrian und sein Chef-Programmer Mark Peranson schreiten zum Berlinale-Palast. Es ist der letzte, stürmische Tag des Festivals, für den Abend stehen nicht nur die Preisverleihungen auf dem Programm, sondern auch heftige Orkan-Böen. Am Nadelöhr, das am Zugang zum VIP-Bereich eine Passage für alle Geboosterten und obendrein Getesteten lässt – die spezielle Berlinale-Corona-Security-Maßnahme für die Presse und Professionals – wird auch der Berlinale-Direktor nach seiner Akkreditierung gefragt. Das wäre Kosslick nie passiert, der hätte auch die Wachdienstleute bespaßt und wäre bei ihnen bekannt gewesen wie, naja, wie ein bunter Hund halt.
Es herrscht jetzt ein anderer Esprit in der Leitungsetage. Einige der Kritiker-Kollegen befanden sogar, dass sich Chatrian zu sehr zurücknimmt, geradezu aus dem Raum verschwindet, keine Kino-Vorführungen besucht, bis sie darauf hingewiesen wurden, dass sie es ja fast ausschließlich mit nüchternen Pressevorführungen zu tun hatten. Die Begegnung mit Chatrian bleibt aber exklusiv, ein Ereignis geradezu, das er dem roten Teppich vorbehält, wo er mit seiner Co-Leiterin Mariette Rissenbeek ein unspektakuläres Empfangskomitee für die Filmbranche bildet. Alles ist weniger staatstragend als unter Kosslick und Grütters, denn mit der neuen Regierung erklimmen auch neue Protagonistinnen mit anderem Life-Style den Berlinale-Palast. So die bestens gelaunte Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die in ihrem roten Strickpulli und ausladenden roten Glitzer-Rock das passende Camouflage-Outfit für den roten Teppich gewählt hat. Sie fällt natürlich trotzdem auf – durch spitzenmäßige Laune.
Auf dem Potsdamer Platz hatten sich dieses Jahr besonders viele Security-Leute aufgebaut. Wenn sie sich einem in den Weg stellten, rief das immer ein kurzes Gefühl der Beklemmung hervor, eine große Zen-Übung war es dann, den Ball flach zu halten, was nicht allen und nicht immer gelang. Von diesen wenigen, vorhersehbaren Zwischenfällen einmal abgesehen, ging das Stress-Potential der unter Corona-Einschränkungen durchgeführten Berlinale gegen Null. Keine Schlangen an den beiden Testbussen auf dem Potsdamer Platz, das Tagesbändchen, was einem das ständige Zücken von Impf- und Testnachweis ersparte, erhielt man im Nu. Nur am Café am Platz ergaben sich mangels Alternativen lange Wartezeiten, damit aber auch Zeit zum Plausch. Summa summarum: Die Berlinale 2022 fand ohne Aufreger und ohne Skandalisierung statt. Das war fast schon ein bisschen langweilig: keine Potsdamer Seuche, keine Presse-Gängelung, keine Bildzeitungsschlagzeile, weit und breit nur reibungsloser Ablauf. So konnten die Filme hervortreten, wenn auch nicht immer zu ihren Gunsten, denn das Programm war insgesamt dann doch recht durchwachsen.
Selbst die empörten Kollegen, die sich im Vorfeld darüber aufgeregt hatten, dass man sich bei der Online-Buchung den Sitzplatz nicht selbst wählen konnte, hatten sich beruhigt. In den Sälen gab es keine herrischen Platzanweiser, die überwachten, dass man auch ja dort zu sitzen kam, wo einen das System automatisch hingewiesen hatte. In den immer wieder auch eher leeren Sälen konnte man sich problemlos in das vordere Drittel setzen und alle anderen hinter sich lassen: es wurde von oben nach unten belegt. Das verschaffte mir bei Hong Sangsoo den Eindruck, ganz allein im Kino zu sitzen. Niemand war zwischen mir und dem Film, weit und breit keine Störgeräusche. Was für ein beglückendes Gefühl! Aber natürlich nicht das Gemeinsam-Gefühl, mit dem die Berlinale die physische Ausgabe angepriesen hatte: »Weil Kinokultur ganz stark vom gemeinsamen Kinoerlebnis profitiert«, so hatte es Pressesprecherin Frauke Greiner formuliert. Die Einsamkeit im Kinosaal, so wurde berichtet, gab es stellenweise auch bei Publikumsvorführungen.
Man stelle sich das einmal vor: Die Berlinale hatte ein Online-Ticketing! Sicherlich benötigt das System noch Feintuning. Aber es erledigte sich alles mit dem Smartphone in der Hand: Ticket reservieren, Ticket stornieren. In Sekundenschnelle, so schnell sogar, dass spontane Umbuchungen verhinderten, am Ende doch die meisten der Preisträgerfilme gesehen zu haben, für die man eigentlich eine Karte gehabt hätte: Kollegen rieten ab. Sehr nervig allerdings war, dass die Website kaum zu bedienen war. Nach einem bestimmten Film zu suchen, ist dort ein aufwendiges Recherche-Unternehmen. Dass es keine gedruckten Programmhefte gab, ging vor allem zu Lasten des Forums, dessen Filme früher von den umfassenden Begleittexten eindeutig profitiert hatten. Die Notwendigkeit von Smartphones könnte man als Einzug in das digitale Zeitalter bejubeln. Inklusiv aber war das nicht, wie sich die Berlinale gerne selbst darstellt, und so reisten die Kritikerinnen H. und K. mit dem Kommentar »Wir sind zwar alt, aber nicht blöd!« wieder ab, weil sie technisch abgehängt waren. Zur Inklusion gehört also zwingend eine Analog-Ergänzung, wie ausgedruckte Tickets – wenn man die will oder braucht.
Von vielen wurde am meisten kritisiert, dass die Berlinale dieses Jahr in nur sechs Tagen den Turbo-Gang eingelegt hatte. Kollege D. ächzte unter der Zeitraum-Verknappung und warf den Berlinern, die seit Januar in den Genuss von Pressevorführungen kommen, vor, eindeutig im Vorteil zu sein. Herausfordernd war es außerdem, im zur »Magic Mike«-Kulisse umgestalteten Berlinale-Palast-Unterschoss ernsthaft Texte zu schreiben, während einen die Klimaanlage von oben anbläst und einen ein weißes Einhorn anglotzt. Ein Wunder, dass man sich nicht eine mittelschwere Erkältung eingefangen hat, wie sonst bei der Berlinale. Und auch keinen Virus: weder Magen-Darm, noch Grippe, noch Corona. Vielleicht sollte man im Kino einfach immer Masken tragen?
All jene, die aus Angst vor Ansteckung im Vorfeld gar gefordert hatten, die Berlinale solle ausfallen, lautstark »unverantwortlich« riefen und sich gleich von der Berlinale ferngehalten haben, haben natürlich recht. Wer weiß, wie es gewesen wäre, wenn sie alle gekommen wären und mit ihrer Nervosität den Berlinale-Campus zum unsicheren Terrain gemacht hätten? Weniger sind manchmal mehr, für diese Berlinale hat das sicher zugetroffen. Wir sind gespannt, was vom Ausnahmezustand bleibt.