Brutstätten des Bösen |
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Hier wird was ausgebrütet... (Siiri Solalinna in Hatching) | ||
(Foto: capelight) |
Von Thomas Willmann
Sag mir, wo die Monster sind... Ja, sie waren und sind freilich schon immer unsere dunklen Spiegelungen, sind Fratzen unseres tieferen Selbst. Doch war das Horrorgenre auch stets zu großem Teil getragen von der (mal mehr, mal weniger selbstreflexiven) Hoffnung, dass man das »Andere«, Fremde in uns äußerlich machen und besiegen kann.
Im Schnappschuss-Panorama des gegenwärtigen Genres aber, den die Fantasy Filmfest Nights 2022 boten, gab’s kaum die Creatures und Aliens, die leibhafte Bedrohung von außen. Da ging’s immer wieder, über alle Grenzen der Subgenres und kulturellen Herkunft hinweg, um das Fremde in uns selbst, um das Böse, das in uns schlummert oder als Besessenheit über uns kommt.
Nun braucht man keinen höheren Abschluss in Küchenpsychologie, um zu ahnen, warum derzeit Verinnerlichung, die Auseinandersetzung mit dem Selbst, das Unheimliche des Heims ein Thema ist. Aber es war doch faszinierend, das so konzentriert in solch vielfältiger Ausführung zu erleben.
Hing den Fantasy Filmfest Nights in den ersten Jahren mitunter ein Hauch an von um zwei, drei Highlights gruppierter Restverwertung, haben sie sich vollends gemausert zu einer Kompaktversion des FFF. Diesmal gelang ihnen, was schon das verkürzte »große« Fantasy Filmfest im Herbst auszeichnete: Eine Erweiterung der Bandbreite, die aber innerhalb des knapperen Rahmens just zu einer schärferen Fokussierung führt. Eine größere Vielfalt der abgesteckten Positionen, vertreten durch jeweils nur ein, zwei markante Filme.
Das ist (zumindest auf Festivalebene) wohl auch ein unerwartet positiver Aspekt der Franchise-Homogenisierung und in jeder Hinsicht immer konservativeren Wendung des US Mainstream-Genrekinos: Je abgestorbener der ganze Blockbuster-Zweig ist, und je weniger präsent im Festivalbetrieb, je lebendiger scheinen die Independent-Ableger zu sprießen.
Und das nicht zuletzt, weil Genrekino generell, insbesondere aber Horror, international eine lingua franca für Filmdebüts ist: Auch mit geringen Budgets publikumswirksam und gut vermarktbar; von einer reichen Tradition getragen, voller archetypischer Muster, die offen sind für endlose Variation; und inhärent das filmischste aller Genres – Spielplatz fürs technische Handwerk, aber zugleich dem Dämonischen, Unheimlichen des Kinos, den Wurzeln der ganzen Apparatur im Spiritismus, dem voyeuristischen Akt am nähesten.
Auch als bloßer, selbstsüchtiger Eklektiker kann man da sehr evident beobachten, wie heilsam Diversität ist: Je größer die Vielfalt der Menschen, je eigener die Stimmen, welche sich die alten Geschichten aneignen und neu erzählen, je frischer wirkt auch die Gesamtheit eines Genres. Selbst das FFF Stamm-Dauerkartenpublikum, sehr lange treu traditionsbewahrend und -bewachend, scheint inzwischen vom Immergleichen ermüdet, ist neugierig geworden auf andere Blickwinkel und Ästhetiken.
Das diesjährige »Nights«-Wochenende, wie gesagt, bestätigte und verstärkte den Eindruck, dass nach einer Dürreperiode das Horrorkino gerade wieder jünger, weiblicher, bunter, queerer wird – und damit so vital wie länger nicht mehr. (Das ist kein neuartiger Fortschritt – die Blütephasen des Genres gingen fast immer einher mit Aufbruch, Befreiung, Subversion, oft gerade in konservativen Zeiten.)
Selbst der einstige Großmeister des barocken Giallo, Dario Argento, scheint auf seine alten Tage noch eine neue Art der Selbstreflexivität zu entwickeln. Nicht mehr allein das brillante Kunst-Spiel mit dem Voyeurismus, der Schau-Angstlust des Mediums Kino. Sondern ein empathischeres Hinterfragen der Täter-Opfer-Perspektive. Der Killer hat nichts Verführerisches mehr in Occhiali neri (Dark Glasses), auch nichts Androgynes, wie so oft bei Argento. Er ist ein mieser, halbanonymer Typ, der daheim das misogyne MANIAC-Remake guckt und hasserfüllt Frauen massakriert. Dafür empfindet man das Leid seiner Opfer ungewohnt heftig, unangenehm.
Einen wirklich großartigen Film sollte man von Argento wohl ebensowenig noch erwarten wie eine filmische Wandlung zum Vorzeige-Feministen – doch Occhiali neri ist zumindest eine versöhnlichere Variante des Spätwerks als seine unfreiwilligen Selbstdemontagen zuletzt. Und eben der Beweis, dass sich der Mann tatsächlich in seinem Blick auf die Welt und die Kunst nochmal ein bisserl bewegt hat.
Vor allem aber bei den jungen Genre-Schaffenden hat man derzeit wahrhaft das Gefühl: Da brütet sich was aus. Die nehmen nicht einfach nur das Erbe an, tragen es weiter. Die sind wirklich die nächste Generation.
Noch am ehesten ein Monster im traditionellen Sinn schlüpfte in Hanna Bergholms Pahanhautoja (Hatching) aus dem Maxi-Ei, das die grad vor der Pubertät stehende Tinja findet und in ihrem Bett hütet. Doch selbst da wandelt sich die groteske Vogelkreatur dann zusehends zum Zwilling Tinjas, entpuppt sich das Ganze als Jekyll & Hyde-Geschichte. Das Wesen verkörpert die Ausgeburt aller aufgestauten Aggression, die Tinja stets unterdrücken musste, weil ihre Mutter für den Influencerinnen-Channel das komplette Familienleben als beige Design-Idylle inszeniert. Das eigentliche Grauen ist diese verlogene »Heile Welt«, sind der Leistungsdruck und Perfektionismus, den die Mutter ihrer Tochter überstülpt.
Solche Familienaufstellungen des Schreckens waren im Programm nicht selten, ein Konflikt der Generationen öfters zumindest Teil des psychologischen Hintergrundrauschens. Den explizitesten Ausbruch aber hatten sie in Otorvi i vybros (No Looking Back – Ohne Rücksicht auf Verluste) – und da offenbar weniger als autobiographische Traumabewältigung, sondern als Psychogramm einer Nation.
Das Fantasy Filmfest hatte sich gegen ein künstlerisches Geoblocking allein aufgrund des Herkunftslands entschieden. Und niemand wird ernsthaft behaupten können, dass Kirill Sokolovs pechschwarze Komödie ein staatstragendes Bild Russlands verbreitet. Man muss ihr subversives Potential nicht überbewerten – aber angesichts des aktuellen politischen Geschehens drängte sich da schon die Erkenntnis auf, dass nicht erst eben, und nicht nur im Kopf des Präsidenten was schiefläuft in jener Gesellschaft. Eine Mutter kommt aus dem Gefängnis, will ihre zehnjährige Tochter zurück von der sehr traditionell eingestellten Oma – doch die denkt nicht dran, die Kleine »dem schlechten Einfluss« zu überlassen. Das hat allerlei blutige Folgen, und ist bevölkert von Figuren, die feststecken in stumpfen, gewalttätigen Existenzen, aber nicht anders können, als das an ihre Nachfahren als vermeintlich einzige Option weiterzureichen.
Es scheint gar nicht anders als apokalyptisch enden zu können. Doch dann fantasiert sich der Film einfach die Hoffnung hin, dass irgendwann – und sei’s, weil sonst niemand mehr übrig ist – die kommende Generation das Steuer übernimmt und den ganzen geschissenen Endloskreislauf der Gewalt hinter sich lässt.
Die Bedrohung des eigenen Heims durch das Unheimliche ist nun wahrlich nichts Neues im Horrorfilm. Und hier waren im Programm der FFF Nights auch die vergleichsweise geringsten Variationen des Etablierten zu sehen.
Aber mitunter macht’s ja auch der kleine, aber feine Unterschied. Barbarians von Charles Dorfman ist nicht der erste Home Invasion Thriller, bei dem die Bewohner des trauten Eigenheims keine strahlenden Helden sind. Hier aber ist man fast erleichtert, wenn endlich die Invasoren ankommen – weil unangenehmer als in der geladenen Abendgesellschaft kann der Dinnerabend kaum noch werden. Und es ist das Heim selbst, von Immobilienspekulanten in die Landschaft gepflanzt, das seine eigene, umgekehrte Form der »Home invasion« darstellt. Dorfman findet tatsächlich einen Weg, den Film in etwas andere Bahnen zu lenken als rein die übliche (oft sexualisierte) Gewalteskalation. Die Enthüllung der wahren Motive der Eindringlinge macht die ganze Sache ein bisschen komplexer und interessanter – und ließe sich durchaus als moderne Replik auf Peckinpahs Straw Dogs lesen.
Leider ist bei Barbarians das Konzept oft gelungener als die Umsetzung im TV-Look. Und offensichtlich hat man bei der Besetzung sehr geflissentlich bedacht, dass die Darstellung der maskierten, schweigenden Eindringlinge eine besondere Expressivität der Gestik braucht, um das Fehlen von Mimik und Dialog zu kompensieren. Das führt hier im Resultat dann zeitweise zum Verdacht, die Abendgesellschaft würde von einer gewalttätigen Truppe für modernen Ausdruckstanz heimgesucht.
Mit Inexorable kann Fabrice du Welz einmal mehr nicht ans Verstörungspotential seines Debüts Calvaire anknüpfen. Was vielleicht erklärt, was ihn gereizt hat an der recht ausgelatschten Geschichte um den Autor eines unerreichten Erstlings in der Schaffenskrise. Dessen Frau und Verlegerin zieht mit ihm in ihren feudalen Familien-Stammsitz. Woselbst sich dann eine Psychopathin (oder ist sie’s...?) als Hausmädchen einschleicht und dem Mann das Leben schwer macht.
Es ist hier kein dezidiertes Statement, ist halt eine der handelsüblichen Plotmechanik-Optionen, dass die unausweichliche Eskalation dann manch Unangenehmes über den Herrn Autor zu Tage fördert. Aber doch im filmischen Umfeld der FFF Nights bezeichnend, dass selbst Inexorable aus dem Katalog der Standardlösungen jene wählt, bei der das Grundübel ausdrücklich im Protagonisten selbst beheimatet ist.
Und immerhin schaut man Benoît Poelvoorde immer gern zu, und das ganze Ding fantastisch aus (»Shot on glorious 16mm Kodak motion picture film«). Außerdem gibt es eine (im Tonfall zum Rest des Films ganz unverbundene) Szene, bei der die kleine Tochter des Hauses zu ihrem Geburtstag vor versammelter Schnösel-Gesellschaft auf Blümchenbühne einen Death-Metal-Ausdruckstanz zum Besten gibt. Die kann man als Existenzberechtigung für den Film durchgehen lassen.
Selbst der Familienbetrieb ist nicht, was er mal war. Die kleine Metzgerei in Barbaque (Some Like It Rare, demnächst in hiesigen Kinos als Veganer schmecken besser) ist freilich nicht die erste der Filmgeschichte, in der zunächst durch Un- und Zufall, dann aufgrund der Nachfrage, der ahnungslosen Kundschaft Menschenfleisch als exotische Delikatesse untergejubelt wird. Man kann auch nicht behaupten, dass der französische Komiker Fabrice Eboué, in Personalunion Regisseur, Autor und Star, wirklich wüsste, was er mit dieser Grundidee dann Originelles, Stimmiges anfangen soll. Der Film ist von großer Unentschlossenheit, findet keine Haltung zu Figuren und Geschehen, kennt kein Erzählprinzip außer: »Haben wir schon über 80 Minuten Laufzeit? Nein? Na gut, dann passiert jetzt noch was. Irgendwas!«
Er karikiert Veganer ebenso wie rassistische Großfleischer – wobei sein »Ha, aber die andere Seite fei schon auch, gell?!« weniger eine Sicht auf die Dinge ist als ein feiges Abwehren von möglichen Einwänden. Aber auf gewisse Weise treten durch diese fehlende Kontrolle über den Film grade die inneren Spannungen stärker hervor, die dann doch plausibel machen, warum jemand diese alte Mär derzeit wieder auftischt, in einem Land, wo fast die Hälfte der Wählerschaft ernsthaft mit veritablen Faschisten liebäugelt.
Das ist in seiner Blutigkeit und Verwirrung immerhin ehrlicher als all die üblichen Culture Clash-Komödien des französischen Mainstreams mit ihrer verlogenen Versöhnung, ihrer Zementierung eines überkommenen Status quo, der nur mildlächelnd ein wenig hinzulernen muss über »Das Fremde«, sich aber nicht wirklich vom Fleck bewegen.
Wenn das Protagonisten-Paar in Barbaque unfreiwillig eine kannibalistische Obsession für den Geschmack von Menschenfleisch entwickelt, dann war das Variante eines Hauptthemas dieser FFF Nights: Der Besessenheit – des Besessenseins im dämonischen Sinne.
Dass fremde Mächte über uns Kontrolle gewinnen können, etwas in uns einfährt, das uns dann aus tiefem Inneren unweigerlich zum Bösen treibt, scheint eine grade sehr präsente Angstphantasie.
Auch hier war wieder die recht traditionelle, satanistische Ausprägung vertreten – in Gestalt von Brendan Muldowneys The Cellar, der auf seinem Kurzfilm The Ten Steps basiert. Und der beweist (wie etwa einst auch Lights Out), dass Zehnminüter, die ganz auf einen einzigen Effekt, eine einzige Pointe abzielen, nichts gewinnen, wenn man sie zu anderthalb Stunden ausspinnt. Der clevere Schlussgag der Kurzversion bleibt auch hier der Höhepunkt – dem dann aber noch sehr viel Film folgt.
Dabei hätte die Gruselgeschichte von der Kellertreppe, die in infernalische Dimensionen führt, in dieser Langfassung anfangs einen durchaus netten, neuen Ansatz: Das Monster ist hier Mathe. Das Zählen und die höheren Gleichungen führen ins Verderben. Aber leider gibt The Cellar das dann zu Gunsten zusehends klischeehaften Höllenspuks auf.
Von The Cellar abgesehen, war es aber ausgerechnet das altgediente Horror-Motiv der Besessenheit – das in den CONJURING & Co.-Franchises immer unverhohlener den fundamentalistischen »The Devil made me do it!«-Drall bekommt – welches im Programm der FFF Nights die interessantesten, innovativsten Verwandlungen erfuhr.
Selbst in Jean Luc Herbulots senegalesischem Gangster-Western Saloum spukte es herum, nehmen Voodoo-Geister von den Figuren Besitz und heben die Geschichte um Goldraub und Staatsstreich auf eine transzendente Ebene.
Die Rachegeister, die in Veronica (Alice Krige) einfahren, die Protagonistin von She Will – nach einer doppelten Brustamputation auf Reha in einem seltsamen Wald-Resort –, sind Manifestationen eines nicht allein persönlichen, sondern Generationen zurückreichenden Traumas. Der Film spinnt assoziativ, halluzinierend die Verbindung von Hexenverfolgung zu Me Too, macht Veronicas Leib zu einer Verkörperung weiblichen Erleidens und weiblichen Widerstands. Überraschenderweise entpuppte sich Charlotte Colberts Debüt als vielbeklatschter Publikumsfavorit – unerwartet für einen kaum narrativen, reichlich surrealen Film, der mitunter wirkt, als arbeite er eine Checkliste feministischen Diskurses ab.
»Sie ist von bösen Geistern besessen« ist für den in der geistigen Entwicklung hängengebliebenen Sohn die einzig fassbare Erklärung für den Zustand seiner Mutter in Luzifer. Ein selbstgebasteltes Exorzismus-Ritual ist freilich nicht die ideale Therapie für Trauma und Suchtkrankheit. Aber es zeichnet Peter Brunners Film aus, wie tief er sich einlässt auf die seltsame Welt der beiden, in ihrer einsamen Berghütte, vor archaischem Panorama, bedroht von den Kameradrohnen eines Skigebiet-Großprojekts.
Mangelnden Kunstwillen kann man Luzifer nicht vorwerfen, er kippelt schon öfters zwischen grandios und unerträglich. Es ist allemal stimmig, dass Ulrich Seidl den Film produziert hat – von dessen typischer, kühler Distanz aber hat er nichts. Er schmeißt sich mit Vehemenz in die Situation. Doch so sehr er Momente in ihrer Intensität ausreizt, hält er sie doch knapp, überdehnt sie nicht in ihrer Dauer. Und was ihn trägt – neben Tim Heckers (!) Musik – ist eine unreduzierbare Wahrhaftigkeit der Besetzung: Weniger Franz Rogowski, auch wenn der gern bereit ist, in solchen Rollen abzutauchen, sich solchen Figuren auszuliefern. Sondern Susanne Jensen als Mutter, die nicht Schauspielerin ist, sondern Missbrauchsopfer-Aktivistin, Pastorin, Künstlerin – mit ihrem Leib und ihrer Geschichte in diesem Film präsent, nicht darstellend sondern daseiend.
Der iranische Beitrag Zalava schließlich ist die bisher vielleicht überzeugendste Antwort auf die Frage, wie man einen säkularen Horrorfilm über satanische Besessenheit machen kann. Da wird ein Provinzpolizist in ein Kurdendorf geschickt, wo angeblich Leute vom Teufel besessen werden und ein selbsternannter Exorzist Dämonen im Einweckglas fängt. Arsalan Amiri lässt lange gekonnt in der Schwebe, ob da wirklich etwas Übernatürliches seine Finger im Spiel hat. Aber von Anfang an hat sein Blick auf die Rituale der Dorfgemeinschaft einen trockenen (nie plump verspottenden) Humor. Und immer deutlicher wird, dass nicht der Teufel die wahre Bedrohung ist, sondern der Aberglaube. Klar, dass die kurz vor der iranischen Revolution spielende Geschichte sehr bewusst heutige Echos hat, mit ihrem Ringen eines aufgeklärten, rationalen Staatsdieners gegen fanatische, gemeingefährliche Religiosität.
Zwei der stärksten Beiträge aber handelten – auf extrem unterschiedliche Weise – vom allgegenwärtigsten wie unerbittlichsten Feind im eigenen Körper: Der Vergänglichkeit.
X von Ti West klingt auf dem Papier zunächst wie eine Etüde über Genre: Er schließt die zwei Underground-Traditionen kurz, die in den 1970ern unerwartet zu Mainstream-Phänomenen wurden – Hardcore Horror- und Pornofilme. Er stellt quasi die Frage: Was wäre, wenn in dem VW-Bus in Texas Chainsaw Massacre keine Collegeleute gesessen hätten, sondern das Drehteam von Deep Throat?
Und das funktioniert an der Oberfläche durchaus sehr effektiv rein als geradliniger Splatter-Thriller – setzt selbst Jump Scares so, dass sie einen erwischen, auch wenn man dagegen gewöhnlich immun ist. Aber eigentlich geht es ihm um etwas anderes, Tieferes, Seltsameres.
Seine visuellen Zitate sind kein pawlowsches Knöpfchendrücken zum Auslösen eines Nostalgie-Reizes. Es geht in X um das Verhältnis von Körpern, Bildern und Zeit. Geht um das Einfangen von Leiblichkeit und Jugend auf Film – und was das Vergehen der Jahre mit all dem dann anstellt.
Die »Monster« sind eine andere Art von Leatherface, Ledergesicht: Sind ein altes Paar, dessen Neid auf die virile Jugend extreme Auswüchse treibt. Wenn’s dabei noch eines Beweises der »Die Monster sind wir«-These braucht: Mia Goth, die Darstellerin des Final Girls, ist auch – unter ziemlich überzeugendem Alters-Make-up – die der mörderischen Vettel.
Es ist inzwischen schon kein richtiges Fantasy Filmfest mehr, und nichtmal richtige Nights, ohne ein neues Werk von Quentin Dupieux – den man hier schon lang vor dem Feuilleton und dem Cannes-Wettbewerb entdeckt hatte und seither stetig auf seinem Weg von »Mr. Oizo« zu einem der eigenwilligsten Filmemacher Frankreichs begleitet.
Incroyable mais vrai (Incredible But True) ist merklich ein Lockdown-Projekt. Aber was für eins! Dupieux braucht für einen großartigen Film nicht mehr als ein Einfamilienhaus, ein famoses Ensemble – und eine Idee. Auch hier nimmt man im Keller eine unerwartete Abzweigung in der Raumzeit – anders als in The Cellar aber nicht ins Vorzimmer von Höllenfürsten. Sondern just a step to the left – and then a jump to the right...
Mit LoFi-Zeitsprung-Komödien hatte das Fantasy Filmfest ja schon im Herbst Glück, mit dem Publikumsfavoriten Droste no hate de bokuar (Beyond The Infinite Two Minutes). Dupieux ist aber weniger interessiert an einem gewitzten Ausspinnen der Zeitparadox-Mechanik, an dem, was seine Figuren mit den Mini-Zeitsprüngen treiben – sondern was sie dazu treibt, das private Wurmloch zu nutzen.
Auf seine Vorort-Science-Fiction-Weise und Dupieuxs typisch verschrobene, verschobene Art (wir haben noch nichtmal die elektronischen Penisprothesen erwähnt...) ist das insgeheim ein wunderbarer Film über das Altern und den Umgang mit dessen Unausweichlichkeit.
Was braucht man Monster, wenn die natürliche Fäulnis in allen von uns sitzt und sich früher oder später an die Oberfläche frisst...?