21.04.2022

Brutstätten des Bösen

Hatching
Hier wird was ausgebrütet... (Siiri Solalinna in Hatching)
(Foto: capelight)

Natürlicher Horror kommt von innen bei den Fantasy Filmfest Nights 2022

Von Thomas Willmann

Sag mir, wo die Monster sind... Ja, sie waren und sind freilich schon immer unsere dunklen Spie­ge­lungen, sind Fratzen unseres tieferen Selbst. Doch war das Horror­genre auch stets zu großem Teil getragen von der (mal mehr, mal weniger selbst­re­fle­xiven) Hoffnung, dass man das »Andere«, Fremde in uns äußerlich machen und besiegen kann.

Im Schnapp­schuss-Panorama des gegen­wär­tigen Genres aber, den die Fantasy Filmfest Nights 2022 boten, gab’s kaum die Creatures und Aliens, die leibhafte Bedrohung von außen. Da ging’s immer wieder, über alle Grenzen der Subgenres und kultu­rellen Herkunft hinweg, um das Fremde in uns selbst, um das Böse, das in uns schlum­mert oder als Beses­sen­heit über uns kommt.

Nun braucht man keinen höheren Abschluss in Küchen­psy­cho­logie, um zu ahnen, warum derzeit Verin­ner­li­chung, die Ausein­an­der­set­zung mit dem Selbst, das Unheim­liche des Heims ein Thema ist. Aber es war doch faszi­nie­rend, das so konzen­triert in solch viel­fäl­tiger Ausfüh­rung zu erleben.

Hing den Fantasy Filmfest Nights in den ersten Jahren mitunter ein Hauch an von um zwei, drei High­lights grup­pierter Rest­ver­wer­tung, haben sie sich vollends gemausert zu einer Kompakt­ver­sion des FFF. Diesmal gelang ihnen, was schon das verkürzte »große« Fantasy Filmfest im Herbst auszeich­nete: Eine Erwei­te­rung der Band­breite, die aber innerhalb des knapperen Rahmens just zu einer schär­feren Fokus­sie­rung führt. Eine größere Vielfalt der abge­steckten Posi­tionen, vertreten durch jeweils nur ein, zwei markante Filme.

Das ist (zumindest auf Festi­val­ebene) wohl auch ein uner­wartet positiver Aspekt der Franchise-Homo­ge­ni­sie­rung und in jeder Hinsicht immer konser­va­ti­veren Wendung des US Main­stream-Genre­kinos: Je abge­stor­bener der ganze Block­buster-Zweig ist, und je weniger präsent im Festi­val­be­trieb, je leben­diger scheinen die Inde­pen­dent-Ableger zu sprießen.

Und das nicht zuletzt, weil Genrekino generell, insbe­son­dere aber Horror, inter­na­tional eine lingua franca für Film­de­büts ist: Auch mit geringen Budgets publi­kums­wirksam und gut vermarktbar; von einer reichen Tradition getragen, voller arche­ty­pi­scher Muster, die offen sind für endlose Variation; und inhärent das filmischste aller Genres – Spiel­platz fürs tech­ni­sche Handwerk, aber zugleich dem Dämo­ni­schen, Unheim­li­chen des Kinos, den Wurzeln der ganzen Apparatur im Spiri­tismus, dem voyeu­ris­ti­schen Akt am nähesten.

Auch als bloßer, selbst­süch­tiger Eklek­tiker kann man da sehr evident beob­achten, wie heilsam Diver­sität ist: Je größer die Vielfalt der Menschen, je eigener die Stimmen, welche sich die alten Geschichten aneignen und neu erzählen, je frischer wirkt auch die Gesamt­heit eines Genres. Selbst das FFF Stamm-Dauer­kar­ten­pu­blikum, sehr lange treu tradi­ti­ons­be­wah­rend und -bewachend, scheint inzwi­schen vom Immer­glei­chen ermüdet, ist neugierig geworden auf andere Blick­winkel und Ästhe­tiken.

Das dies­jäh­rige »Nights«-Wochen­ende, wie gesagt, bestä­tigte und vers­tärkte den Eindruck, dass nach einer Dürre­pe­riode das Horror­kino gerade wieder jünger, weib­li­cher, bunter, queerer wird – und damit so vital wie länger nicht mehr. (Das ist kein neuar­tiger Fort­schritt – die Blüte­phasen des Genres gingen fast immer einher mit Aufbruch, Befreiung, Subver­sion, oft gerade in konser­va­tiven Zeiten.)

Selbst der einstige Groß­meister des barocken Giallo, Dario Argento, scheint auf seine alten Tage noch eine neue Art der Selbst­re­fle­xi­vität zu entwi­ckeln. Nicht mehr allein das brillante Kunst-Spiel mit dem Voyeu­rismus, der Schau-Angstlust des Mediums Kino. Sondern ein empa­thi­scheres Hinter­fragen der Täter-Opfer-Perspek­tive. Der Killer hat nichts Verfüh­re­ri­sches mehr in Occhiali neri (Dark Glasses), auch nichts Andro­gynes, wie so oft bei Argento. Er ist ein mieser, halban­onymer Typ, der daheim das misogyne MANIAC-Remake guckt und hass­erfüllt Frauen massa­kriert. Dafür empfindet man das Leid seiner Opfer ungewohnt heftig, unan­ge­nehm.

Einen wirklich groß­ar­tigen Film sollte man von Argento wohl eben­so­wenig noch erwarten wie eine filmische Wandlung zum Vorzeige-Femi­nisten – doch Occhiali neri ist zumindest eine versöhn­li­chere Variante des Spätwerks als seine unfrei­wil­ligen Selbst­de­mon­tagen zuletzt. Und eben der Beweis, dass sich der Mann tatsäch­lich in seinem Blick auf die Welt und die Kunst nochmal ein bisserl bewegt hat.

Vor allem aber bei den jungen Genre-Schaf­fenden hat man derzeit wahrhaft das Gefühl: Da brütet sich was aus. Die nehmen nicht einfach nur das Erbe an, tragen es weiter. Die sind wirklich die nächste Gene­ra­tion.

Talkin' 'bout my Gene­ra­tion

Noch am ehesten ein Monster im tradi­tio­nellen Sinn schlüpfte in Hanna Bergholms Pahan­hau­toja (Hatching) aus dem Maxi-Ei, das die grad vor der Pubertät stehende Tinja findet und in ihrem Bett hütet. Doch selbst da wandelt sich die groteske Vogel­kreatur dann zusehends zum Zwilling Tinjas, entpuppt sich das Ganze als Jekyll & Hyde-Geschichte. Das Wesen verkör­pert die Ausgeburt aller aufge­stauten Aggres­sion, die Tinja stets unter­drü­cken musste, weil ihre Mutter für den Influen­ce­rinnen-Channel das komplette Fami­li­en­leben als beige Design-Idylle insze­niert. Das eigent­liche Grauen ist diese verlogene »Heile Welt«, sind der Leis­tungs­druck und Perfek­tio­nismus, den die Mutter ihrer Tochter über­s­tülpt.

Solche Fami­li­en­auf­stel­lungen des Schre­ckens waren im Programm nicht selten, ein Konflikt der Gene­ra­tionen öfters zumindest Teil des psycho­lo­gi­schen Hinter­grund­rau­schens. Den expli­zi­testen Ausbruch aber hatten sie in Otorvi i vybros (No Looking Back – Ohne Rücksicht auf Verluste) – und da offenbar weniger als auto­bio­gra­phi­sche Trau­ma­be­wäl­ti­gung, sondern als Psycho­gramm einer Nation.

Das Fantasy Filmfest hatte sich gegen ein künst­le­ri­sches Geoblo­cking allein aufgrund des Herkunfts­lands entschieden. Und niemand wird ernsthaft behaupten können, dass Kirill Sokolovs pech­schwarze Komödie ein staats­tra­gendes Bild Russlands verbreitet. Man muss ihr subver­sives Potential nicht über­be­werten – aber ange­sichts des aktuellen poli­ti­schen Gesche­hens drängte sich da schon die Erkenntnis auf, dass nicht erst eben, und nicht nur im Kopf des Präsi­denten was schief­läuft in jener Gesell­schaft. Eine Mutter kommt aus dem Gefängnis, will ihre zehn­jäh­rige Tochter zurück von der sehr tradi­tio­nell einge­stellten Oma – doch die denkt nicht dran, die Kleine »dem schlechten Einfluss« zu über­lassen. Das hat allerlei blutige Folgen, und ist bevölkert von Figuren, die fest­ste­cken in stumpfen, gewalt­tä­tigen Exis­tenzen, aber nicht anders können, als das an ihre Nach­fahren als vermeint­lich einzige Option weiter­zu­rei­chen.

Es scheint gar nicht anders als apoka­lyp­tisch enden zu können. Doch dann fanta­siert sich der Film einfach die Hoffnung hin, dass irgend­wann – und sei’s, weil sonst niemand mehr übrig ist – die kommende Gene­ra­tion das Steuer übernimmt und den ganzen geschis­senen Endlos­kreis­lauf der Gewalt hinter sich lässt.

Home is where Hell is

Die Bedrohung des eigenen Heims durch das Unheim­liche ist nun wahrlich nichts Neues im Horror­film. Und hier waren im Programm der FFF Nights auch die vergleichs­weise geringsten Varia­tionen des Etablierten zu sehen.

Aber mitunter macht’s ja auch der kleine, aber feine Unter­schied. Barba­rians von Charles Dorfman ist nicht der erste Home Invasion Thriller, bei dem die Bewohner des trauten Eigen­heims keine strah­lenden Helden sind. Hier aber ist man fast erleich­tert, wenn endlich die Invasoren ankommen – weil unan­ge­nehmer als in der geladenen Abend­ge­sell­schaft kann der Dinner­abend kaum noch werden. Und es ist das Heim selbst, von Immo­bi­li­en­spe­ku­lanten in die Land­schaft gepflanzt, das seine eigene, umge­kehrte Form der »Home invasion« darstellt. Dorfman findet tatsäch­lich einen Weg, den Film in etwas andere Bahnen zu lenken als rein die übliche (oft sexua­li­sierte) Gewalt­es­ka­la­tion. Die Enthül­lung der wahren Motive der Eindring­linge macht die ganze Sache ein bisschen komplexer und inter­es­santer – und ließe sich durchaus als moderne Replik auf Peckin­pahs Straw Dogs lesen.

Leider ist bei Barba­rians das Konzept oft gelun­gener als die Umsetzung im TV-Look. Und offen­sicht­lich hat man bei der Besetzung sehr geflis­sent­lich bedacht, dass die Darstel­lung der maskierten, schwei­genden Eindring­linge eine besondere Expres­si­vität der Gestik braucht, um das Fehlen von Mimik und Dialog zu kompen­sieren. Das führt hier im Resultat dann zeitweise zum Verdacht, die Abend­ge­sell­schaft würde von einer gewalt­tä­tigen Truppe für modernen Ausdrucks­tanz heim­ge­sucht.

Mit Inex­orable kann Fabrice du Welz einmal mehr nicht ans Vers­törungs­po­ten­tial seines Debüts Calvaire anknüpfen. Was viel­leicht erklärt, was ihn gereizt hat an der recht ausge­latschten Geschichte um den Autor eines uner­reichten Erstlings in der Schaf­fens­krise. Dessen Frau und Verle­gerin zieht mit ihm in ihren feudalen Familien-Stammsitz. Woselbst sich dann eine Psycho­pathin (oder ist sie’s...?) als Haus­mäd­chen einschleicht und dem Mann das Leben schwer macht.

Es ist hier kein dezi­diertes Statement, ist halt eine der handelsüb­li­chen Plot­me­chanik-Optionen, dass die unaus­weich­liche Eska­la­tion dann manch Unan­ge­nehmes über den Herrn Autor zu Tage fördert. Aber doch im filmi­schen Umfeld der FFF Nights bezeich­nend, dass selbst Inex­orable aus dem Katalog der Stan­dard­lö­sungen jene wählt, bei der das Grundübel ausdrück­lich im Prot­ago­nisten selbst behei­matet ist.

Und immerhin schaut man Benoît Poel­vo­orde immer gern zu, und das ganze Ding fantas­tisch aus (»Shot on glorious 16mm Kodak motion picture film«). Außerdem gibt es eine (im Tonfall zum Rest des Films ganz unver­bun­dene) Szene, bei der die kleine Tochter des Hauses zu ihrem Geburtstag vor versam­melter Schnösel-Gesell­schaft auf Blüm­chen­bühne einen Death-Metal-Ausdrucks­tanz zum Besten gibt. Die kann man als Exis­tenz­be­rech­ti­gung für den Film durch­gehen lassen.

Selbst der Fami­li­en­be­trieb ist nicht, was er mal war. Die kleine Metzgerei in Barbaque (Some Like It Rare, demnächst in hiesigen Kinos als Veganer schmecken besser) ist freilich nicht die erste der Film­ge­schichte, in der zunächst durch Un- und Zufall, dann aufgrund der Nachfrage, der ahnungs­losen Kund­schaft Menschen­fleisch als exotische Deli­ka­tesse unter­ge­ju­belt wird. Man kann auch nicht behaupten, dass der fran­zö­si­sche Komiker Fabrice Eboué, in Perso­nal­union Regisseur, Autor und Star, wirklich wüsste, was er mit dieser Grundidee dann Origi­nelles, Stimmiges anfangen soll. Der Film ist von großer Unent­schlos­sen­heit, findet keine Haltung zu Figuren und Geschehen, kennt kein Erzähl­prinzip außer: »Haben wir schon über 80 Minuten Laufzeit? Nein? Na gut, dann passiert jetzt noch was. Irgendwas!«

Er karikiert Veganer ebenso wie rassis­ti­sche Großf­lei­scher – wobei sein »Ha, aber die andere Seite fei schon auch, gell?!« weniger eine Sicht auf die Dinge ist als ein feiges Abwehren von möglichen Einwänden. Aber auf gewisse Weise treten durch diese fehlende Kontrolle über den Film grade die inneren Span­nungen stärker hervor, die dann doch plausibel machen, warum jemand diese alte Mär derzeit wieder auftischt, in einem Land, wo fast die Hälfte der Wähler­schaft ernsthaft mit veri­ta­blen Faschisten liebäu­gelt.

Das ist in seiner Blutig­keit und Verwir­rung immerhin ehrlicher als all die üblichen Culture Clash-Komödien des fran­zö­si­schen Main­streams mit ihrer verlo­genen Versöh­nung, ihrer Zemen­tie­rung eines über­kom­menen Status quo, der nur mild­lächelnd ein wenig hinzu­lernen muss über »Das Fremde«, sich aber nicht wirklich vom Fleck bewegen.

The Devil Inside

Wenn das Prot­ago­nisten-Paar in Barbaque unfrei­willig eine kanni­ba­lis­ti­sche Obsession für den Geschmack von Menschen­fleisch entwi­ckelt, dann war das Variante eines Haupt­themas dieser FFF Nights: Der Beses­sen­heit – des Beses­sen­seins im dämo­ni­schen Sinne.

Dass fremde Mächte über uns Kontrolle gewinnen können, etwas in uns einfährt, das uns dann aus tiefem Inneren unwei­ger­lich zum Bösen treibt, scheint eine grade sehr präsente Angst­phan­tasie.

Auch hier war wieder die recht tradi­tio­nelle, sata­nis­ti­sche Ausprä­gung vertreten – in Gestalt von Brendan Muldow­neys The Cellar, der auf seinem Kurzfilm The Ten Steps basiert. Und der beweist (wie etwa einst auch Lights Out), dass Zehn­minüter, die ganz auf einen einzigen Effekt, eine einzige Pointe abzielen, nichts gewinnen, wenn man sie zu andert­halb Stunden ausspinnt. Der clevere Schlussgag der Kurz­ver­sion bleibt auch hier der Höhepunkt – dem dann aber noch sehr viel Film folgt.

Dabei hätte die Grusel­ge­schichte von der Keller­treppe, die in infer­na­li­sche Dimen­sionen führt, in dieser Lang­fas­sung anfangs einen durchaus netten, neuen Ansatz: Das Monster ist hier Mathe. Das Zählen und die höheren Glei­chungen führen ins Verderben. Aber leider gibt The Cellar das dann zu Gunsten zusehends klischee­haften Höllen­spuks auf.

Von The Cellar abgesehen, war es aber ausge­rechnet das altge­diente Horror-Motiv der Beses­sen­heit – das in den CONJURING & Co.-Fran­chises immer unver­hoh­lener den funda­men­ta­lis­ti­schen »The Devil made me do it!«-Drall bekommt – welches im Programm der FFF Nights die inter­es­san­testen, inno­va­tivsten Verwand­lungen erfuhr.

Selbst in Jean Luc Herbulots sene­ga­le­si­schem Gangster-Western Saloum spukte es herum, nehmen Voodoo-Geister von den Figuren Besitz und heben die Geschichte um Goldraub und Staats­streich auf eine tran­szen­dente Ebene.

Die Rache­geister, die in Veronica (Alice Krige) einfahren, die Prot­ago­nistin von She Will – nach einer doppelten Brust­am­pu­ta­tion auf Reha in einem seltsamen Wald-Resort –, sind Mani­fes­ta­tionen eines nicht allein persön­li­chen, sondern Gene­ra­tionen zurück­rei­chenden Traumas. Der Film spinnt asso­ziativ, hallu­zi­nie­rend die Verbin­dung von Hexen­ver­fol­gung zu Me Too, macht Veronicas Leib zu einer Verkör­pe­rung weib­li­chen Erleidens und weib­li­chen Wider­stands. Über­ra­schen­der­weise entpuppte sich Charlotte Colberts Debüt als viel­be­klatschter Publi­kums­fa­vorit – uner­wartet für einen kaum narra­tiven, reichlich surrealen Film, der mitunter wirkt, als arbeite er eine Check­liste femi­nis­ti­schen Diskurses ab.

»Sie ist von bösen Geistern besessen« ist für den in der geistigen Entwick­lung hängen­ge­blie­benen Sohn die einzig fassbare Erklärung für den Zustand seiner Mutter in Luzifer. Ein selbst­ge­bas­teltes Exor­zismus-Ritual ist freilich nicht die ideale Therapie für Trauma und Sucht­krank­heit. Aber es zeichnet Peter Brunners Film aus, wie tief er sich einlässt auf die seltsame Welt der beiden, in ihrer einsamen Berghütte, vor archai­schem Panorama, bedroht von den Kame­ra­drohnen eines Skigebiet-Groß­pro­jekts.

Mangelnden Kunst­willen kann man Luzifer nicht vorwerfen, er kippelt schon öfters zwischen grandios und uner­träg­lich. Es ist allemal stimmig, dass Ulrich Seidl den Film produ­ziert hat – von dessen typischer, kühler Distanz aber hat er nichts. Er schmeißt sich mit Vehemenz in die Situation. Doch so sehr er Momente in ihrer Inten­sität ausreizt, hält er sie doch knapp, überdehnt sie nicht in ihrer Dauer. Und was ihn trägt – neben Tim Heckers (!) Musik – ist eine unre­du­zier­bare Wahr­haf­tig­keit der Besetzung: Weniger Franz Rogowski, auch wenn der gern bereit ist, in solchen Rollen abzu­tau­chen, sich solchen Figuren auszu­lie­fern. Sondern Susanne Jensen als Mutter, die nicht Schau­spie­lerin ist, sondern Miss­brauchs­opfer-Akti­vistin, Pastorin, Künst­lerin – mit ihrem Leib und ihrer Geschichte in diesem Film präsent, nicht darstel­lend sondern daseiend.

Der iranische Beitrag Zalava schließ­lich ist die bisher viel­leicht über­zeu­gendste Antwort auf die Frage, wie man einen säkularen Horror­film über sata­ni­sche Beses­sen­heit machen kann. Da wird ein Provinz­po­li­zist in ein Kurden­dorf geschickt, wo angeblich Leute vom Teufel besessen werden und ein selbst­er­nannter Exorzist Dämonen im Einweck­glas fängt. Arsalan Amiri lässt lange gekonnt in der Schwebe, ob da wirklich etwas Über­na­tür­li­ches seine Finger im Spiel hat. Aber von Anfang an hat sein Blick auf die Rituale der Dorf­ge­mein­schaft einen trockenen (nie plump verspot­tenden) Humor. Und immer deut­li­cher wird, dass nicht der Teufel die wahre Bedrohung ist, sondern der Aber­glaube. Klar, dass die kurz vor der irani­schen Revo­lu­tion spielende Geschichte sehr bewusst heutige Echos hat, mit ihrem Ringen eines aufge­klärten, ratio­nalen Staats­die­ners gegen fana­ti­sche, gemein­ge­fähr­liche Reli­gio­sität.

When I’m Sixty-four

Zwei der stärksten Beiträge aber handelten – auf extrem unter­schied­liche Weise – vom allge­gen­wär­tigsten wie uner­bitt­lichsten Feind im eigenen Körper: Der Vergäng­lich­keit.

X von Ti West klingt auf dem Papier zunächst wie eine Etüde über Genre: Er schließt die zwei Under­ground-Tradi­tionen kurz, die in den 1970ern uner­wartet zu Main­stream-Phäno­menen wurden – Hardcore Horror- und Porno­filme. Er stellt quasi die Frage: Was wäre, wenn in dem VW-Bus in Texas Chainsaw Massacre keine Colle­ge­leute gesessen hätten, sondern das Drehteam von Deep Throat?

Und das funk­tio­niert an der Ober­fläche durchaus sehr effektiv rein als gerad­li­niger Splatter-Thriller – setzt selbst Jump Scares so, dass sie einen erwischen, auch wenn man dagegen gewöhn­lich immun ist. Aber eigent­lich geht es ihm um etwas anderes, Tieferes, Selt­sa­meres.

Seine visuellen Zitate sind kein pawlow­sches Knöpf­chen­drü­cken zum Auslösen eines Nostalgie-Reizes. Es geht in X um das Verhältnis von Körpern, Bildern und Zeit. Geht um das Einfangen von Leib­lich­keit und Jugend auf Film – und was das Vergehen der Jahre mit all dem dann anstellt.

Die »Monster« sind eine andere Art von Leather­face, Leder­ge­sicht: Sind ein altes Paar, dessen Neid auf die virile Jugend extreme Auswüchse treibt. Wenn’s dabei noch eines Beweises der »Die Monster sind wir«-These braucht: Mia Goth, die Darstel­lerin des Final Girls, ist auch – unter ziemlich über­zeu­gendem Alters-Make-up – die der mörde­ri­schen Vettel.

Es ist inzwi­schen schon kein richtiges Fantasy Filmfest mehr, und nichtmal richtige Nights, ohne ein neues Werk von Quentin Dupieux – den man hier schon lang vor dem Feuil­leton und dem Cannes-Wett­be­werb entdeckt hatte und seither stetig auf seinem Weg von »Mr. Oizo« zu einem der eigen­wil­ligsten Filme­ma­cher Frank­reichs begleitet.

Incroyable mais vrai (Incre­dible But True) ist merklich ein Lockdown-Projekt. Aber was für eins! Dupieux braucht für einen groß­ar­tigen Film nicht mehr als ein Einfa­mi­li­en­haus, ein famoses Ensemble – und eine Idee. Auch hier nimmt man im Keller eine uner­war­tete Abzwei­gung in der Raumzeit – anders als in The Cellar aber nicht ins Vorzimmer von Höllen­fürsten. Sondern just a step to the left – and then a jump to the right...

Mit LoFi-Zeit­sprung-Komödien hatte das Fantasy Filmfest ja schon im Herbst Glück, mit dem Publi­kums­fa­vo­riten Droste no hate de bokuar (Beyond The Infinite Two Minutes). Dupieux ist aber weniger inter­es­siert an einem gewitzten Ausspinnen der Zeit­pa­radox-Mechanik, an dem, was seine Figuren mit den Mini-Zeitsprüngen treiben – sondern was sie dazu treibt, das private Wurmloch zu nutzen.

Auf seine Vorort-Science-Fiction-Weise und Dupieuxs typisch verschro­bene, verscho­bene Art (wir haben noch nichtmal die elek­tro­ni­schen Penis­pro­thesen erwähnt...) ist das insgeheim ein wunder­barer Film über das Altern und den Umgang mit dessen Unaus­weich­lich­keit.

Was braucht man Monster, wenn die natür­liche Fäulnis in allen von uns sitzt und sich früher oder später an die Ober­fläche frisst...?