Universalität aus der genauen Beobachtung |
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Marco Kugels Die Karte der Schönheit | ||
(Foto: 19. Dokumentarfilmwoche Hamburg/SeinHain-Film) |
Von Eckhard Haschen
Seit bald 20 Jahren gibt die Dokumentarfilmwoche Hamburg dem künstlerisch anspruchsvollen Dokumentarfilm ein Forum, das dieser in der norddeutschen Kino- und Festivallandschaft sonst nicht hat, zumindest nicht in dieser Kompaktheit. Von Anfang an haben es die Veranstalter – ein zurzeit zwölfköpfiges Kollektiv – verstanden, Filme zu programmieren, die nicht nur inhaltlich, sondern auch formal und ästhetisch etwas wagen. Ich jedenfalls kann mich an kaum eine Vorstellung erinnern, wo ich mich nicht ernsthaft gefragt habe, wie denn ausgerechnet dieser Film seinen Weg ins Programm gefunden hat.
Damit ein Schubladendenken sich nicht einschleichen kann, wurden vor einigen Jahren sogar die Sektionen abgeschafft, darunter der Wettbewerb »direkt«, in dem von 2009 bis 2016 der Klaus-Wildenhahn-Preis verliehen wurde. Was es aber weiterhin gibt, ist die Retrospektive, die unter anderem schon Marcel Ophüls, Chantal Akerman, Wang Bing oder Peter Nestler gewidmet war. Diesmal konnte endlich die schon für 2020 geplante Retro zu Trinh T. Minh-hà nachgeholt werden. Überhaupt war dies die erste fast ganz »normale« Ausgabe des Festivals, das 2020 pandemiebedingt entfiel und dafür ein eintägiges Fenster im Herbst beim Filmfest Hamburg bekam und 2021 aus den gleichen Gründen einmalig im September stattfand.
Ob Premieren oder Filme, die schon auf anderen Festivals liefen – Entdeckungen gab es an den viereinhalb Tagen reichlich. So bietet etwa Marco Kugels Die Karte der Schönheit, der als Eröffnungsfilm lief, einen ebenso erhellenden wie vielschichtigen Einblick in das deutsche Planungswesen, geht er doch der Frage auf den Grund, wie die für den Netzausbau im Zuge der forcierten Energiewende zuständigen Institutionen die Schönheit der Landschaft bewerten, aufgrund dessen dann Entscheidungen treffen und diese schließlich den Menschen in den betroffenen Regionen zu vermitteln versuchen. Mit einer ähnlichen Beharrlichkeit spürt Serpil Turhan in Köy, der vorige Woche auch regulär im Kino gestartet ist, den Lebensgeschichten von drei in Berlin lebenden Kurdinnen nach. Eine von ihnen ist Turhans eigene Großmutter, die 1972 von ihrem Dorf nach Istanbul zog und später ihrem Mann nach Deutschland folgte.
Gleich mehrere Arbeiten waren als komplexe Gewebe aus unterschiedlichsten Materialien angelegt und legen so ihre Themen gleichsam Schicht für Schicht frei. So gibt Payal Kapadias A Night of Knowing Nothing ausgehend von studentischen Protesten aus dem Jahr 2010 eine Ahnung von den Repressionen durch das Klassensystem und der Diskriminierung religiöser Minderheiten in Indien unter Präsident Modi. Und so spürt Manque La Banca in Esqui unter der schönen Oberfläche von Bariloche, dem wichtigsten Skigebiet Argentiniens, die Geschichte von Gewalt und Vertreibung an der indigenen Bevölkerung auf.
Und dann gab es Filme, die ihre Universalität gerade aus der genauen Beobachtung und einer entsprechenden Anteilnahme eines sehr kleinen Ausschnitts aus der Welt gewannen. So zeichnet der in Österreich lebende Aleksey Lapin in Krai ein Bild vom Leben in einem kleinen Dorf in Russland nahe der ukrainischen Grenze, in das eines Sommers eine Filmcrew aus Wien kommt, unter dem Vorwand, dort einen »historischen Film« drehen zu wollen. Und so lässt sich Stefan Pavlovic in Looking for Horses, der als Abschlussfilm gezeigt wurde, ganz auf den Kriegsveteranen Zdravkro, ein, den er zufällig bei der Suche nach dem Haus seiner Großmutter in Bosnien kennenlernt und der buchstäblich 20 Jahre lang in seinem kleinen Boot auf dem benachbarten See gelebt hat.