28.04.2022

Universalität aus der genauen Beobachtung

Die Karte der Schönheit
Marco Kugels Die Karte der Schönheit
(Foto: 19. Dokumentarfilmwoche Hamburg/SeinHain-Film)

Auch die 19. Dokumentarfilmwoche Hamburg zeichnet sich dadurch aus, nicht nur inhaltlich, sondern auch formal und ästhetisch etwas zu wagen

Von Eckhard Haschen

Seit bald 20 Jahren gibt die Doku­men­tar­film­woche Hamburg dem künst­le­risch anspruchs­vollen Doku­men­tar­film ein Forum, das dieser in der nord­deut­schen Kino- und Festi­valland­schaft sonst nicht hat, zumindest nicht in dieser Kompakt­heit. Von Anfang an haben es die Veran­stalter – ein zurzeit zwölf­köp­figes Kollektiv – verstanden, Filme zu program­mieren, die nicht nur inhalt­lich, sondern auch formal und ästhe­tisch etwas wagen. Ich jeden­falls kann mich an kaum eine Vorstel­lung erinnern, wo ich mich nicht ernsthaft gefragt habe, wie denn ausge­rechnet dieser Film seinen Weg ins Programm gefunden hat.

Damit ein Schub­la­den­denken sich nicht einschlei­chen kann, wurden vor einigen Jahren sogar die Sektionen abge­schafft, darunter der Wett­be­werb »direkt«, in dem von 2009 bis 2016 der Klaus-Wilden­hahn-Preis verliehen wurde. Was es aber weiterhin gibt, ist die Retro­spek­tive, die unter anderem schon Marcel Ophüls, Chantal Akerman, Wang Bing oder Peter Nestler gewidmet war. Diesmal konnte endlich die schon für 2020 geplante Retro zu Trinh T. Minh-hà nach­ge­holt werden. Überhaupt war dies die erste fast ganz »normale« Ausgabe des Festivals, das 2020 pande­mie­be­dingt entfiel und dafür ein eintä­giges Fenster im Herbst beim Filmfest Hamburg bekam und 2021 aus den gleichen Gründen einmalig im September stattfand.

Ob Premieren oder Filme, die schon auf anderen Festivals liefen – Entde­ckungen gab es an den vier­ein­halb Tagen reichlich. So bietet etwa Marco Kugels Die Karte der Schönheit, der als Eröff­nungs­film lief, einen ebenso erhel­lenden wie viel­schich­tigen Einblick in das deutsche Planungs­wesen, geht er doch der Frage auf den Grund, wie die für den Netz­ausbau im Zuge der forcierten Ener­gie­wende zustän­digen Insti­tu­tionen die Schönheit der Land­schaft bewerten, aufgrund dessen dann Entschei­dungen treffen und diese schließ­lich den Menschen in den betrof­fenen Regionen zu vermit­teln versuchen. Mit einer ähnlichen Beharr­lich­keit spürt Serpil Turhan in Köy, der vorige Woche auch regulär im Kino gestartet ist, den Lebens­ge­schichten von drei in Berlin lebenden Kurdinnen nach. Eine von ihnen ist Turhans eigene Groß­mutter, die 1972 von ihrem Dorf nach Istanbul zog und später ihrem Mann nach Deutsch­land folgte.

Gleich mehrere Arbeiten waren als komplexe Gewebe aus unter­schied­lichsten Mate­ria­lien angelegt und legen so ihre Themen gleichsam Schicht für Schicht frei. So gibt Payal Kapadias A Night of Knowing Nothing ausgehend von studen­ti­schen Protesten aus dem Jahr 2010 eine Ahnung von den Repres­sionen durch das Klas­sen­system und der Diskri­mi­nie­rung reli­giöser Minder­heiten in Indien unter Präsident Modi. Und so spürt Manque La Banca in Esqui unter der schönen Ober­fläche von Bariloche, dem wich­tigsten Skigebiet Argen­ti­niens, die Geschichte von Gewalt und Vertrei­bung an der indigenen Bevöl­ke­rung auf.

Und dann gab es Filme, die ihre Univer­sa­lität gerade aus der genauen Beob­ach­tung und einer entspre­chenden Anteil­nahme eines sehr kleinen Ausschnitts aus der Welt gewannen. So zeichnet der in Öster­reich lebende Aleksey Lapin in Krai ein Bild vom Leben in einem kleinen Dorf in Russland nahe der ukrai­ni­schen Grenze, in das eines Sommers eine Filmcrew aus Wien kommt, unter dem Vorwand, dort einen »histo­ri­schen Film« drehen zu wollen. Und so lässt sich Stefan Pavlovic in Looking for Horses, der als Abschluss­film gezeigt wurde, ganz auf den Kriegs­ve­te­ranen Zdravkro, ein, den er zufällig bei der Suche nach dem Haus seiner Groß­mutter in Bosnien kennen­lernt und der buchs­täb­lich 20 Jahre lang in seinem kleinen Boot auf dem benach­barten See gelebt hat.