30.06.2022

Radikaler Kulturrebell

Peter Hartwig (Zeitsprung Pictures / Wild Bunch Germany)
Albrecht Schuch als Thomas Brasch
(Foto: Peter Hartwig (Zeitsprung Pictures / Wild Bunch Germany))

Lieber Thomas hat beim Deutschen Filmpreis mit neun Lolas abgeräumt. Eine Würdigung von Albrecht Schuch, Jella Haase, aber auch zuallererst von: Thomas Brasch

Von Peter Kremski

Der Preis­regen für Lieber Thomas ist in der Tat verdient. Eine verblüf­fend frei-fiktio­na­li­sie­rende Film­bio­gra­phie, die sich traut, imaginäre Sequenzen einzu­bauen, die das Biogra­phi­sche immer wieder ins Surreale kippen lassen. Hand­werk­liche Meis­ter­leis­tungen auf allen Ebenen. Absolut brillant die Kame­ra­ar­beit von Johann Feindt. Und vor der Kamera große Schau­spieler-Perfor­mances. Katharina Thalbach zu spielen, muss man erstmal hinkriegen, Jella Haase macht das mit Bravour. Und Albrecht Schuch ist als Thomas Brasch geradezu über­wäl­ti­gend. Spätes­tens hier begreift man, dass er sich inzwi­schen in die vorderste Reihe deutscher Schau­spiel­kunst gespielt hat. Vor zwei Jahren hatte er schon zwei Deutsche Film­preise auf einen Streich gewonnen.

Albrecht Schuch wirkt wie ein Instinkt-Schau­spieler, der aus dem Bauch heraus zu spielen scheint. Sein Thomas Brasch gewinnt dadurch eine fulmi­nante, immer wieder auch berser­ker­hafte körper­liche Präsenz. Eine Spiel­weise, wie man sie von Götz George kannte. Selbst die unkon­ven­tio­nelle Art zu sprechen, aus dem körper­li­chen Spiel heraus die Sätze zu vernu­scheln, lässt Schuch wie einen neuen George erscheinen. Von ihm wird viel noch zu erwarten sein. Denn hinter diesem impul­siven körper­li­chen Agieren mit dem Ausdruck schein­barer Unbe­wusst­heit steckt ein intel­lek­tu­elles Konzept, genauso eine sehr bewusste Schau­spiel-Methode. Einen in diese Richtung weisenden Einblick hat Schuch selbst gegeben in einem Werk­statt­ge­spräch anläss­lich seiner Auszeich­nung mit dem Inter­na­tional Actors Award des Film Festival Cologne im vorigen Jahr.

Thomas Brasch wiederum war im deutsch/deutschen Kultur­be­trieb der 68er-Ära so etwas wie der Wildeste unter Tausend, ein radikal-aufmüp­figer Kultur­re­bell, der gegen das kultu­relle Estab­lish­ment zu Felde zog und gegen die sozialen und poli­ti­schen Verfeh­lungen der Väter­ge­ne­ra­tion. Ein Enfant terrible in der DDR, so wie es als Pendant in der BRD auf seine Weise Rainer Werner Fass­binder gewesen ist. Beide sind bezeich­nen­der­weise im selben Jahr geboren, 1945, ein Jahr, das schon symbo­lisch eine Zeiten­wende markiert, und beide waren, noch eine Über­ein­stim­mung, charis­ma­ti­sche Leder­ja­cken­träger, für die die Leder­jacke als Emblem der Unan­ge­passt­heit Teil der persön­li­chen Aura war.

Brasch war mit seiner expli­ziten Protest­hal­tung (in dieser Hinsicht RWF viel­leicht noch über­tref­fend) eines der größten poeti­schen Talente, das diese Gene­ra­tion hervor­ge­bracht hat: als Dichter, Erzähler, Drama­tiker und Filme­ma­cher. 1980 habe ich im Schau­spiel­haus Bochum die Urauf­füh­rung seines Thea­ter­s­tücks »Lieber Georg« sehen können in einer mitreißenden Insze­nie­rung von Matthias Langhoff & Manfred Karge, das war während der Peymann-Intendanz. »Ein Eis-Kunst-Läufer-Drama aus dem Vorkrieg« nannte sich das Stück im Unter­titel.

Das Eiskunst­läu­fer­drama war eine Hommage an Georg Heym, den nicht weniger wilden Kultur­re­bellen und exzessiv-gran­diosen Dichter des Früh­ex­pres­sio­nismus, der 1912 mit 24 Jahren beim Eislaufen auf der Havel ums Leben kam, denn auch damals schon starben aus der Sicht von Brasch vor den Vätern die Söhne. Ein berser­ker­haftes Stück über einen berser­ker­haften Prot­ago­nisten in einer berser­ker­haften Insze­nie­rung, in der Co-Regisseur Manfred Karge selbst den Titel­helden spielte.

Ein Jahr später dann eine uner­war­tete Wieder­be­geg­nung mit Thomas Brasch im Kino: seine erste Film­in­sze­nie­rung Engel aus Eisen mit Katharina Thalbach in der weib­li­chen Haupt­rolle. Der große Kame­ra­mann Walter Lassally, ein Mitge­stalter der Free-Cinema-Bewegung und der daraus folgenden briti­schen Neuen Welle, zu dessen cine­ma­to­gra­phi­schem Oeuvre solche modernen Klassiker zählten wie Die Einsam­keit des Langstre­cken­läu­fers oder Alexis Sorbas, garan­tierte die Brillanz der Bild­ge­stal­tung. Da konnte man sehen, was für ein Potential Brasch auch als Filme­ma­cher besaß. Ein paar Jahre später stand ihm für die Haupt­rolle in seinem dritten und leider auch schon letzten Kinofilm Der Passagier kein Gerin­gerer als Tony Curtis zur Verfügung.

Das kommt in der Film­bio­gra­phie von Andreas Kleinert (Regie) & Thomas Wendrich (Buch) wenig oder auch gar nicht vor. Dass der Film Lieber Thomas heißt, ist aber ein nicht zu über­se­hender Rück­ver­weis auf Braschs frei-fiktio­na­li­sie­rendes Dich­ter­por­trät »Lieber Georg«, auch wenn im Film von diesem Thea­ter­werk von Thomas Brasch an keiner Stelle die Rede ist. Viel­leicht hat eine Referenz auf das Brasch-Stück ursprüng­lich einmal im Drehbuch eine Rolle gespielt oder gedrehtes Material ist hinterher dem Schnitt zum Opfer gefallen, wer weiß.

Erfreu­li­cher­weise gibt es eine ZDF/3sat-Aufzeich­nung der Bochumer Langhoff/Karge-Insze­nie­rung aus dem Jahre 1980, die auf YouTube hoch­ge­laden ist. Wer will, kann also nach Lieber Thomas, dieser furiosen biogra­phi­schen Fantasie über Thomas Brasch, wie ein Gegen­s­tück dazu auch »Lieber Georg« sehen, Braschs eigene ebenso furiose biogra­phi­sche Fantasie über den expres­sio­nis­ti­schen Dich­ter­re­bellen Georg Heym, den man wohl als Braschs Alter Ego verstehen durfte.