documenta 15: Stresstest im großen Graben |
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Der Flug über den großen Graben von Nord nach Süd in: Plakat von Isaac Godfrey Geoffrey Nabwanas Football Kommando | ||
(Foto: Axel Timo Purr) |
Von Axel Timo Purr
Der mediale Sturm, der nach dem Entdecken antisemitischer Bildbestandteile in einem auf der documenta 15 installierten Wimmelbild des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi entbrandet ist, scheint sich auch nach der Entlassung von Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann nicht zu legen. Noch jetzt und immer wieder kann man sich bei aller Berechtigung der Kritik nur wundern, dass die Kritik und selbstverständlich die über soziale Medien im gleichen Atemzug und dementsprechenden Tonfall multiplizierten Entlassungsforderungen an die Verantwortlichen von ganzen Redaktionen bis in die unterste Hierarchie geleistet wurden, von Journalisten und »Kennern«, die sehr oft weder Kunst-, Landes oder gar historische Expertise besaßen. Das entsprach in seiner reißerischen „documenta gleich antisemita“-Tonalität dem „Experten“-Verhalten, das etwa auch Franziska Davies in ihrem Text über Experten ohne Expertise im Fall des Angriffskriegs auf die Ukraine kritisiert. Moderatere, diesen Mediensturm hinterfragende, erklärende oder differenzierende Stimmen wie die von Eva Menasse im Spiegel , Nele Pollatschek in der SZ, Meron Mendel im FR-Interview und erst gestern A. Dirk Moses in Geschichte der Gegenwart gingen und gehen so wie in den ausschließlich auf Polarisierung und Durchlauferhitzung setzenden Talk Shows wie üblich unter.
In denen dann von Indonesien nicht mehr übrigblieb als die größte islamische und auch noch Palästina unterstützende Demokratie. Nachrichten wie jene, das trotz nicht existierender diplomatischer Beziehungen zwischen Indonesien und Israel, die indonesische Regierung der israelischen U-20-Fußballmannschaft auf der von Indonesien 2023 ausgetragenen U-20-WM mit kreativen Mitteln ihre Spiele dennoch ermöglichen will, bleiben in diesem Umfeld selbstredend unerwähnt. Und auch eine bei der am 6. Juli einberufenen Fragestunde des Kulturausschusses im deutschen Bundestag zur Sprache gekommene Randnotiz, dass wohl doch jüdische Künstler an der documenta fifteen teilnehmen, allerdings im namenlosen »Kollektivgewand«, hat die polarisierte Grundstimmung kaum entspannen können.
Und so ist es auch kaum verwunderlich, dass es nach der Wimmelbild-Demaskierung um die Kunst auf der documenta fifteen sehr still geworden ist, scheint es nach dem veritablen Shitstorm fast schon tabu zu sein, über die Kunst der documenta Worte zu verlieren. Dabei reichen eigentlich schon die Videoarbeiten von Hito Steyerl, Sebastián Diaz Morales und Isaac Godfrey Geoffrey Nabwana aus, um den Antisemitismus-Skandal einfach mal kurz auszublenden und über die Konzeption des kuratorischen Kollektiv begeistert zu sein.
Denn es ist ja nicht nur an sich schon toll, dass sich das 2009 gegründete spanische, und für sein Amalgam aus Kunst, Erforschung landwirtschaftlicher Räume und Strategien bekannte Kollektiv „INLAND“ für die documenta mit einer der bekanntesten, deutschen Videokünstler:innen zusammengetan hat, um so ironisch wie klug den Bitcoin mit einem Cheesecoin zu hinterfragen und mit dem Käse gleich auch noch viel mehr zu erzählen. Denn in »Animal Spirits – Cave art, mountain digital guerilla, and introduction to the Cheesecoin« erzählen Steyerl und INLAND auch von einer radikalen Instrumentalisierung der Natur durch den Menschen, exemplarisch an einer Spielart von „natürlicher“ Video-Game-isierung von Wölfen festgemacht und durch eine irre historische Kontextualisierung und die gegenwärtigen Biedermeier-Sehnsüchte nach Heim und Natur zu einer grotesken Kritik an unserer westlichen Wohlstandsgesellschaft verdichtet.
Diese grenzüberschreitende Arbeit ist auch formal-ästhetisch ein großer, assoziativer Spaß, der noch einmal mehr durch seine Verankerung in einer animierten Höhlenmalereiarchitektur seine gesellschaftsrelevante (und historische) Wirkung verstärkt, ganz so wie es auch dem israelischen Pavillon mit seiner Zahnarztbehandlungsstuhl-Videoarbeit Field Hospital auf der 58. Biennale kongenial gelang.
Leider ist diese Arbeit inzwischen abgebaut worden, denn die unter den Künstler:innen dieser documenta-Ausgabe wohl bekannteste Künstler:in im globalen Kunstbetrieb gab am 8. Juli bekannt, ihre Arbeit von der documenta 15 zurückziehen zu wollen. Nicht nur wegen der Vorwürfe von Antisemitismus und den Kommunikationspannen der Organisatoren, sondern auch wegen der unsicheren und unterbezahlten Arbeitsbedingungen für Teile des Personals, eine wie wohl jeder weiß im Kunst- und Kulturbereich generell grassierende UnART.
Der kuratorischen Idee tut dieser Weggang jedoch keinen Abbruch, denn diese entfaltet sich natürlich nicht allein in der Auswahl einer Arbeit, sondern vor allem auch in der Gegenüberstellung mit anderen Arbeiten. Im Fall von Steyerl bietet sich gerade wegen des von der documenta fifteen angestrebten Anspruchs dem globalen Süden eine Stimme zu geben, ein Dialog mit den Videoarbeiten des Argenteniers Sebastián Diaz Morales im Hübner-Areal an. Dort wird im Eingangsbereich Morales‘ Film „Smashing Monuments“ projiziert, in dem fünf Ruangrupa-Mitglieder aus ihrer Gruppenanonymität heraustreten und in Jakarta eine reflektierende Zwiesprache mit Monumenten aus den 1960erund 1970er-Jahren halten, in denen es nicht nur um Nationalismus und die verzehrenden, das ethnische Gleichgewicht des Vielvölkerstaats destabilisierende Machtkämpfe geht, wie sie auch der indonesische Regisseur, Schauspieler, Produzent und Drehbuchautor Slamet Rahardjo vor vier Jahren im artechock-Interview für den neuen indonesischen Autorenfilm konstatiert hat, sondern auch um eine architektonische Moderne und neokapitalistische Strukturen, die zu wuchernd städtischem Wildwuchs eskalieren, der auch noch die letzten Versuche, nationale Identität zu bewahren, zerstört.
Wirklichkeit wird hier jedoch nicht einfach dokumentarisch mit der Kamera abgefragt und Vergangenheit als paradiesischer Zustand einer verlorenen Heimat postuliert, sondern im Zusammenspiel mit einer epistemischen Kamera, die mal auf dem Boden den Schritten des Protagonisten folgt, dann wieder beim vom urbanen Beton bedrängten Denkmal verweilt und den Prozess des Dialogs mit immer neuen Perspektiven zu einer anderen, die gegenwärtige Realität multiperspektivisch hinterfragenden Meta-Realität transponiert.
Unterschiedlicher als in den Arbeiten von Steyerl und Morales lassen sich identifikatorische Befindlichkeiten von globalem Norden vs globalem Süden wohl kaum formulieren. Ist es bei Steyerl im Sinn von Arno Schmidt utopische Prosa als längeres, humorvolles, ironisches Gedankenspiel, sieht sich der Ansatz von Morales als bitterernster Abgesang auf eine verlorene Heimat an, in dem der Mensch so defragmentiert von sich wie von seinen Mitmenschen und seiner Vergangenheit existiert, ohne auch nur den kleinsten, utopisierenden Funken.
Dennoch, und das ist vielleicht die größte Überraschung beim Gegenüberstellen von Nord und Süd, ist der große Graben vielleicht kleiner als es die Kuratoren selbst wahrhaben wollen, liegt beiden Arbeiten und Weltsichten im Kern eine tiefe Sehnsucht nach Reformierung bestehender Verhältnisse inne und mehr als das: konstatieren beide eine unwiederbringlich verlorene Heimat, ohne zu wissen, wie eine neue aussehen könnte. Eine bessere Grundlage für einen Neustart gibt es eigentlich kaum.
Wie dieser „Neustart“ spielerisch aussehen könnte, zeigt die filmische Arbeit aus Wakaliwood in Uganda in der Documenta-Halle. Das in einem Slum am Rande von Kampala in Uganda gelegene Filmstudio Wakaliga Uganda macht im Grunde das, was vergleichbare Studios in Nairobi (Riverwood) oder Lagos (Nollywood) machen – schnelle und billige Filme für das Straßenpublikum produzieren, die manchmal wie die Meisterwerke von Eddie Ugbomah aussehen und dann wieder derartig jenseitig westlicher Rezeptionsästhetik flanieren, dass es einem schlichtweg den Atem verschlägt.
So ist es auch um die Arbeit von Wakaliga Uganda bestellt, die von Filmregisseur Isaac Godfrey Geoffrey Nabwana gemeinsam mit seinem Team in Szene gesetzt wurde, einem kurzen Spielfilm, in dem viel Blut fließt, und sowohl Knochen als auch Fußbälle fliegen, denn in Godfreys „Football Kommando“ geht es auch um die Urlaubsreise des deutschen Fußballstars „Rumenige“ mit seiner ugandischen Frau und seinem Sohn nach Uganda. Als dort der Sohn überraschend entführt wird, entpuppt sich seine Frau als Action-Star, der alles und jeden umhaut.
Das mag wie maximaler B-Film-Trash wirken, ist aber an sich eine so intelligente wie humorvolle Umkehrung aller hierarchisierenden Nord-Süd-Werte, die wir ja auch im kulturellen Bereich zur Genüge kennen. Darüber hinaus zeigt Wakali Uganda aber auch, dass es den globalen Süden in seiner Entität nicht gibt, und wohl auch nie gegeben hat, es immer ein gegenseitiges Geschichtenerzählen war, das auch von Lug und Trug geprägt war, um der Instrumentalisierung der anderen Kultur zu entgehen. Man denke dabei etwa an die Kontroverse um die Ethnologen Margret Mead und Derek Freeman, deren Ringen um Wahrheit und den „globalen Süden“ am Beispiel Samoa und die Folgen kultureller Aneignung exemplarisch auch für die Aufgaben stehen könnte, die sich die documenta fifteen zu Herzen genommen hat.