„Lieber Thomas“ revisited |
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Sinnbildlich und stereotyp für den Sexismus innerhalb der Kunstwelt unserer Kulturgeschichte... | ||
(Foto: Wildbunch) |
Von Ella Cieslinski & Felicitas Sonvilla
Das erste Mal haben wir Lieber Thomas an einem kalten Januartag in Berlin gesehen. Wir, Ella Cieslinski und Felicitas Sonvilla, sind zwei befreundete Filmemacherinnen. Während der Vorstellung haben wir uns immer wieder ungläubig angeschaut, konnten nicht so richtig fassen, was wir da sahen, waren empört, gelangweilt, fassungslos. Als der Film dann später für den deutschen Filmpreis
nominiert wurde und Ende Juni schließlich neun Lolas gewann und mit über einer halben Millionen Euro bedacht wurde, die aus deutschen Fördergeldern generiert werden, wich unsere Empörung vor allem einem Unverständnis. Hatten wir uns mit unserem ersten negativen Eindruck getäuscht? Also schauten wir den Film noch einmal.
Hier wollen wir unsere persönlichen Eindrücke teilen, die Eindrücke zweier Filmemacherinnen. Dies soll weder eine Polemik werden, noch ein moralischer Appell,
noch eine reine Filmkritik – viel mehr eine Auseinandersetzung mit dem Abgebildeten und Erzählten und dabei ein Versuch, die weit verbreitete positive Resonanz auf den Film zu verstehen. Was sagen die neun Lolas für „Lieber Thomas“ über den Film hinaus über die deutsche Filmbranche und die Fördergremien? Und wie passt das alles zusammen mit dem feministischen Diskurs in der Medienbranche der letzten Jahre, mit der Auseinandersetzung über die Darstellung
der Frau, dem »male gaze« und unserer Kulturgeschichte, durchdrungen von männlichen Helden mit Vernichtungsvisionen?
Es beginnt mit dem Bild eines nackten Frauenkörpers, der von Thomas Brasch, gespielt von Albrecht Schuch, nach und nach beschrieben wird. Die Kamera gleitet über Rücken, Brüste, Schamhaare – das Gesicht der Frau sehen wir nicht. Dazu hören wir aus dem Off eines von Braschs Gedichten. Als der Körper vollkommen beschrieben ist, Braschs Lyrik auf ihm eingeschrieben, sehen wir Brasch, nun ebenfalls nackt, wie er in den Armen seiner Geliebten endlich ruhen kann.
Die weibliche Muse und der geniale Künstler können sinnbildlich und stereotyp für den Sexismus innerhalb der Kunstwelt unserer Kulturgeschichte gelesen werden. Die Frau, die sich nackt dem Blick des Mannes hingibt, der Mann, der seine Fantasien auf sie projiziert und sie nutzt, um zu er-schaffen. Steiler Anfang, denken wir. Später im Film wird die Szene wieder aufgegriffen. Thomas reicht Katharina, in die er sich verliebt hat, ein Theaterstück – extra für sie: „er hat es ihr auf den Leib geschrieben“. Aha, also eine direkte Übersetzung von Text zu Bild. Dabei hätte es auch gereicht beim Text zu bleiben, denken wir. Oder man hätte noch einen Schritt weiter gehen und Katharina, die aktiv von Thomas fordert, ein Theaterstück für sie zu schreiben, in das Bild mit aufnehmen können. Hat man aber nicht.
Dafür hat man sich entschieden Katharina auf der Bühne des Berliner Ensembles einzuführen.
Das erste, was wir von ihr sehen ist ihre Hand in einem Netzhandschuh, dann ihr Bein in einer Netzstrumpfhose, später auch ihren Oberkörper in einem eng ansitzenden Bustier. Und ganz zum Schluss: ihr Lächeln. Was erzählt diese Figureneinführung? Sie macht Katharina zu einem Körper und Thomas zu einem, der den Körper begehrt. Man stellt sich vor, die beiden hätten sich erst in der
darauffolgenden Szene, an der Bar kennengelernt, im Gespräch. Was hätte das mit ihrem Begehren gemacht?
Aber stopp, wir springen.
Vor Katharina gibt es da noch Sanda und davor Jean und Bettina, mit denen Thomas eine Ménage à trois oder auch zu quatre lebt, bis Bettina schwanger wird und nicht mehr so richtig mit von der Partie ist. Schön und gut, denken wir. Hier soll uns also eine Welt gezeigt werden, in der Frauen selbstbestimmt leben und lieben, die unabhängig sind. Aber das reicht eben nicht. Vor allem nicht, wenn die dargestellten Szenen reine Abziehbilder und die Frauen reine Funktionen bleiben, nur dafür
benutzt werden, um etwas über die Hauptfigur zu erzählen. Wir verstehen: Der Brasch im Film ist charismatisch und ein Frauenheld, der die Frauen konsumiert und vor nichts Halt macht.
Auch wenn das so gewesen sein mag (?), geht es in einer künstlerischen Auseinandersetzung mit so einem Verhalten, aber eben auch darum, wie die Frauen und ihre Körper, ihr eigenes Begehren und ihr Eigenleben, von den Filmemachern dargestellt werden. Und da stellt sich dann schon die Frage, wie
man den Kameraschwenk von Sandas Beinen auf ihren Oberkörper lesen soll, als sie vor der Fabrik auf Thomas wartet. War das eine bewusste Entscheidung und wenn ja, welchen Mehrwert hat sie? Oder ist es einfach so passiert, weil es eben „gut aussieht“?
Aber zurück zu der ersten Begegnung zwischen Sanda und Thomas. Auch mit ihr war es nämlich, ähnlich wie später mit Katharina, Liebe auf den ersten Blick, nachdem Thomas sie auf einer WG-Party ein rumänisches Lied hat singen hören. Die Plumpheit dieser szenischen Idee mal beiseite. Was hat er eigentlich gemacht, um ihr Interesse zu wecken?: sie angeguckt, wie man das in Filmen halt so erzählt, in denen Frauen sich in Männer verlieben, weil diese sie begehren und dies mit einem langen
intensiven Blick kundtun. Spätestens in der Szene, in der Thomas und Sanda in die Ostsee springen und daraufhin Thomas Sanda bespringt – Pardon, aber man kann es eigentlich nicht anders nennen – und die beiden Körper sich im Sand wälzen, ganz eingedeckt davon, fühlt man sich unangenehm in eine Altherrenfantasie hineinkatapultiert.
Da irritiert es dann vielleicht auch gar nicht mehr besonders, dass älteren Freunden von uns, sowohl Männern als auch Frauen das
tatsächlich gar nicht aufzustoßen scheint. Haben wir es hier also mit einem generationsbedingten abweichenden Blick auf die Geschlechterdarstellung zu tun?
An dieser Stelle wollen wir noch über den Mädchenmörder Brunke sprechen, über den Thomas zuerst in der Zeitung liest – ein Mann, der behauptet von zwei Schwestern aufgefordert worden zu sein, sie umzubringen – bevor Thomas im Schreibexzess selbst zu ihm wird, in Form einer filmischen Ich-Erweiterung. Silvia, die Thomas in der Fabrik kennengelernt hat, taucht mit ihrer Schwester bei ihm auf, die beiden wollen, dass er sie umbringt, denn sie wollen nicht in einer Welt leben, in der es ihrem Vater möglich ist, sich an ihnen zu vergreifen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Diese Szene lässt sich im Film als Kritik am Staatsapparat der DDR lesen und zeigt damit die zunehmende Unmöglichkeit für Thomas, Staat und Ideale zusammenzubringen. So weit so gut. Wir bewegen uns hier auf der sich im Film wiederholenden Ebene: Direkte Übersetzung von Text in Bild. Aber wie kam es zu der Entscheidung die beiden Frauen barbusig vor Thomas zu setzen und sie im Folgenden blutüberströmt auf das weiße Laken zu legen? Was sollen diese Bilder für einen Assoziationsraum eröffnen, zu welchen Gedanken sollen sie anregen? Welchen Mehrwert haben sie? Am Ende bleibt diese Art der Inszenierung spießig. Um das Radikale, das Braschs Texten innewohnt, zu übersetzen, reicht das nicht.
In der filmischen Erzählung von Braschs Lebens und Werk werden wir mit der Glorifizierung einer Männlichkeit konfrontiert, mit dem Mythos des männlichen Genies, welches Wahn, Sucht, Misogynie und Todessehnsucht braucht, um gute Kunst zu machen und in denen die Frauen an seiner Seite nicht viel mehr sind als ästhetisches Beiwerk.
Thomas Brasch ist also Autor. In diversen hintereinander geschnittenen Sequenzen sehen wir ihn mit geöffnetem Hemd und Zigarette im Mund auf seine Schreibmaschine einhacken. Besessen ist er von den Worten und vom Schreiben, ohne das er nicht leben kann. Der Film legt nahe; er ist ein Genie. Und ein Wortheld noch dazu. Immer hat er eine schlagfertige Antwort parat, immer behält er das letzte Wort. Sei es an der Filmuniversität, wo er sich, umringt von einem Schwarm Mitstudenten
(vor allem gutaussehenden Mitstudentinnen), mit seiner Dozentin anlegt, die ihm natürlich bei weitem nicht das Wasser reicht oder mit seinen Freunden, mit denen er gemeinsam eine Flugblattaktion nach dem Panzereinmarsch in Prag beschließt oder im Streit mit seinem Vater oder mit dem Polizeibeamten; Thomas ist ein Rebell, einer, der sich nichts sagen lässt und keine Kompromisse macht. Spätestens nach der dritten Szene dieser Art, muss man sich als Zuschauerin dann doch ein Gähnen
unterdrücken. Ja, wir haben verstanden, will man sagen. Okay, danke. Man sehnt sich nach einer Szene, in der Thomas auch mal zur Ruhe kommt, einen Moment braucht, um einen Gedanken zu formulieren, eine Unsicherheit zeigt oder überhaupt mal mit einer Situation oder mit sich hadert. Der Brasch im Film hadert immer nur mit der Außenwelt, mit dem Vater, der sinnbildlich für den Staatsapparat steht (auch das hat man schon viel zu oft gesehen), mit dem Staatsapparat selbst und später mit
seiner Rolle als Dissident der DDR im Westen.
Dabei spielt es keine Rolle, wie Thomas Brasch jetzt im echten Leben war oder nicht. Der Thomas im Film ist ja immer eine Figur, eine Interpretation des Regisseurs und in dieser Interpretation trägt er, der Regisseur, die Verantwortung für die Erzählung. Der Brasch, der dann dem Rausch, dem Wahnsinn und dem Geniekult verfällt, ist in der Klischeehaftigkeit, in der das Ganze gezeigt wird, schlicht eindimensional. Der geniale
Künstler, der andere und sich selbst verletzt, Frauen konsumiert, am Koks und am Alkohol zugrunde geht, aber dabei immer noch glamourös wirkt, ist eine schon viel genutzte Trope. Das ist nicht nur abgeschmackt, das unterfordert auch uns als Zuschauerinnen. Außerdem ist die Stilisierung eben dieser Frauenhelden und Worthelden zu einem Symbol der Coolness ein strukturelles Problem. Weiberhelden dieser Art sollten out sein. Trotzdem sind das offensichtlich genau die Geschichten, die
sowohl ein Kinopublikum als auch die Förderanstalten, Jurys und Mitglieder der Filmakademie nach wie vor sehen wollen. Warum?
Zu oft hat man im Film das Gefühl Oberflächlichkeiten ausgesetzt zu sein. Das fängt schon in Braschs Kindheit an: Der junge Thomas wird in der Kadettenschule eingeführt, wo er sich fremd fühlt, nicht dazugehören will, mit den anderen Jungen aneinandergerät und sich nach seiner Familie sehnt. Schnell spüren wir, dass wir emotional manipuliert werden sollen, die Bilder einer so zusammengefassten „traumatischen“ Kindheit bleiben in ihrer Kürze und Vereinfachung
reine Funktion, sie entfalten in sich keinen eigenen Gedanken und schon gar nicht ein Verhältnis zu dem, um den es in den nächsten zwei Stunden gehen soll. An dieser Stelle wird eine Kausalität behauptet – nämlich, dass Thomas sich aufgrund seiner traumatischen Erfahrungen in eine Traumwelt flüchtet, die später zu seinem Schreiben führt – die mehr einer filmischen Dramaturgie zu entspringen, als sich aus der Biografie des Porträtierten selbst zu ergeben scheint.
Jetzt ist
das Genre Biopic per se kein Dankbares, soll man doch ein ganzes Leben in Spielfilmlänge erzählen, aber wer sagt denn, dass ein Biopic mit der Kindheit anfangen und mit dem Tod aufhören muss? Ist das Spannende an einer Biografie denn nicht gerade, dass wir ständig versuchen Kausalitäten zu finden, aber feststellen müssen, dass so viel dem Zufall entspringt, dass es so viel gibt, das wir nicht erklären können?
Filme wie Vor der Morgenröte (der sich ganz bescheiden auf die Jahre 1936-1942 im Leben von Stefan Zweig konzentriert), Saint Laurent von Bertrand Bonello (der von der Ambivalenz zwischen Genie und Wahnsinn eines Künstlers erzählt) und I’m Not
There (die nicht chronologisch zusammenhängenden Facetten aus dem Leben von Bob Dylan in sechs Handlungssträngen), um hier nur ein paar Beispiele zu nennen, zeigen, dass man dieser Mammutaufgabe der Annäherung an eine Persönlichkeit auf ganz unterschiedliche Weisen begegnen kann, ohne obligatorisch ein Leben von A-Z abzuklappern.
Später verzichtet der Film dann glücklicherweise auf diese Kausalitäten und springt elliptisch von Moment zu Moment auf der chronologischen Zeitachse, die man als das Leben von Thomas Brasch bezeichnen kann. Allerdings vermisst man in diesen Momenten, die nur angerissene Facetten bleiben, aber selten in die Tiefe gehen, leider eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem, um was es eigentlich geht. Denn in der Kürze sind die Rollen doch allzu schnell klar: Thomas – wild. Der Staat – einengend. Gerne würde man die Welt, in der Thomas lebt und mit der er sich schriftstellerisch auseinander setzt, genauer kennenlernen. Aber am Ende ist dann doch das, was zum Beispiel aus seiner Zeit als Fräser in der Fabrik, wo er auf Bewährung arbeiten muss, erzählt wird, das, dass es dort eine Arbeiterin gibt, die den Männern beim Sex die Knochen bricht. Okay. Und ganz beiläufig wird da auch ein Arbeitsunfall erzählt. Aber was das mit Thomas macht, in einer Fabrik als Fräser zu arbeiten und mit seinem Verhältnis zu dem Staat, in dem er lebt – das kommt leider zu kurz. Und dadurch können wir Thomas eigentlich immer nur von außen betrachten, seine Innenwelt nie emotional miterleben. Sein Verhalten hat keine Möglichkeit, von Innen zu wachsen, sondern wird von Außen aufgezwungen, wodurch wir als Zuschauerinnen das ständige Gefühl haben, in unserer Sichtweise manipuliert zu werden und damit nicht ein eigenes Verhältnis zu dem entwickeln können, was wir sehen. Wir rutschen an ihm ab, was in diesem Fall leider nicht zu einer distanzierten, intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Protagonisten, sondern vor allem zu Langeweile führt.
Womit wir bei einem grundsätzlichen Problem der deutschen Filmbranche angelangt wären. Zu einem großen Teil sehen wir uns mit Filmen konfrontiert, die sich sofort einordnen lassen, denen man ein gewisses Label aufdrücken, die man in einem kurzen, knackigen Pitch zusammenfassen kann. Filme, die nicht auf den ersten Blick ein-ortbar sind, die sich zwischen den Welten bewegen, sowohl das eine als auch das andere sind oder sich überhaupt nicht festlegen, keiner Schublade zugehörig sein wollen, die haben es schwer, die fallen zwischen die Stühle. Deswegen gibt es viel zu wenig Filme, die den Zuschauer, die Zuschauerin dazu einladen, sich selbst ein Bild zu schaffen, eine eigene Haltung zu dem Gesehenen zu entwickeln, selbst wenn sich das widerspricht, nicht stringent erzählt.
Thomas Brasch war auch Filmregisseur. Wie würde Thomas Brasch heute Filme machen, wenn er noch leben würde? Hat er sich in seinem künstlerischen Schaffen nicht auch genau mit diesen Fragen auseinandergesetzt? Denn Thomas Brasch wollte keine Biografie schreiben, er wollte sein Leben nicht verkaufen, er wollte Künstler sein, ohne seine Herkunft als Marke vor sich herzutragen. Seine politische Gesinnung, sein innerer Kampf, der schwang sowieso mit, in jeder Zeile, in seinen Gedanken, in seinem Schaffen. Er wollte sich nicht festnageln lassen. Leider findet sich dieser Konflikt nur im Ansatz im Film wieder. Denn der Film, der zwar versucht, den Künstler und seine Wahrnehmung der Welt hervorzuheben, hangelt sich am Ende doch entlang an biografischen Momenten und stellt dabei die Behauptung auf, dass da so etwas wäre wie Folgerichtigkeit und Kausalität. Damit stellt Andreas Kleinert die Herkunft und den politischen Kontext über die Kunst.
Trotzdem wollen wir an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, auch noch ein paar positive Aspekte des Films hervorzuheben: Gerne wollen wir über die Rolle der Mutter sprechen. Anja Schneider schafft es mit ihrem Spiel, der Mutter von Brasch Leben einzuhauchen, eine Figur mit einem Eigenleben entstehen zu lassen, die man spürt, zu der man sich verhalten kann. Hier entwickelt sich zum ersten Mal eine wirkliche Beziehung zwischen den Figuren, über den Protagonisten hinaus. Mutter und
Sohn lieben sich, auch wenn sie unterschiedliche Positionen haben, sie verhandeln etwas miteinander. Diese Art der Beziehung, der Auseinandersetzung, des Miteinanders hat eine Konsequenz, die einen Mehrwert produziert, weil sie etwas vom Leben erzählt, etwas über Eltern-Kinder-Beziehungen generell, etwas, das größer ist, als die singuläre Beziehung Brasch und Mutter. Besonders kommt das in zwei Szenen zur Geltung:
Wir denken an den Streit zwischen Brasch und seinem Vater
infolge der Flugblattaktion. Der Sohn freut sich, dass sich die Mutter auf seine Seite stellt, aber als der Vater im nächsten Moment raus geht, um Zigaretten zu holen, gibt sie ihm eine Ohrfeige. Diese Reaktion ist überraschend, spielt mit den Erwartungen der Zuschauer:innen und schafft deswegen einen für sich interessanten filmischen Moment. Für diese Momente gehen wir ins Kino!
Ein weiterer Moment ist das Fernsehinterview mit dem Fräser Brasch, das seine Mutter im Fernsehen
sieht. In diesem Betrachten ihres Sohnes in einer ihm fremden und ungewollten Rolle, entsteht ein Moment der Ambivalenz. Denn die Mutter empfindet hier eine Gleichzeitigkeit von sich widersprechenden Gefühlen: einmal eine gewisse Genugtuung über die milde ausgefallene Bestrafung, die ihren Sohn doch hoffentlich zur Vernunft bringen wird. Außerdem eine Spur Schmunzeln, weil sie natürlich sehr gut weiß, dass ihr Sohn sich nicht gerne in dieser Rolle sieht und Worte in den Mund
gelegt bekommt. Und über oder unter all dem liegt gleichzeitig ein Schmerz, darüber, dass Thomas in dieser Welt nicht die Möglichkeit hat, seine Persönlichkeit voll zu entfalten, sich nicht so äußern kann, wie er will. Die Vielschichtigkeit an Emotionen, die ja gerade die Schauspielkunst als solche ausmacht, würden wir im Film gerne mehr sehen!
Wie könnte ein Film über Brasch aussehen, der einen grundsätzlich anderen inhaltlichen und ästhetischen Zugang findet?
Liebeserklärung
Anders als der Staat das will (dieser jener jeder)
leben wir (du ich) unzufrieden in der kleinsten Zelle
die er uns bereitstellt und Familie nennt Anders
als der Staat das braucht lieben wir einander hastig
und betrügen eins das andere wie
der Staat das tut mit uns sagen wir einander Worte
unverständlich eins dem anderen wie Gesetze die der Staat
(dieser jener jeder) ausruft Anders
als der Staat das gern sieht leben wir (du ich) nicht in Frieden
miteinander und befriedigen einander ungleichzeitig
wenn wir zueinander fallen in der Abend-Dämmerung
der Geldzeit Anders
als der Staat das tut (dieser jener) spielen wir
in jeder Nacht das Spiel
Vereinigung Wieder und Wieder
hastig aufgerüstet schwer behängt mit Waffen
wie der Staat der uns doch ganz anders will wehrlos nämlich aber
der uns lehrt Mißtrauen blankes So
lieben wir einander weggeduckt unterm Blick wie
unter ausgeschriebener Fahndung Feinde (dieses jenes jedes) Staats
aber ähnlich ihm in der kleinsten Zelle angefressen schon
Krebs die Krankheit ist der Staat
(meiner nicht nicht deiner) anders als ers will
sterben wir ihm weggeduckt aus seinem großen kalten Bett- Thomas Brasch (aus „Der schöne 27. September“, 1980)
Mann stelle sich einen Film vor, der dieses Gedicht im Sinne des Textes und des Künstlers adaptiert. (...und der, wenn wir an dieser Stelle Rüdiger Suchsland zitieren dürfen, für »Staat« das »deutsche Filmsystem« einsetzt).