Abschied von einem Oberhausener Rebellen |
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Christian Doermer in Das Brot der frühen Jahre | ||
(Foto: picture alliance / Keystone/ Guth) |
Von Peter Kremski
Er war der jüngere, brave Bruder von Horst Buchholz 1956 im 50er-Jahre-Filmklassiker Die Halbstarken. Das machte ihn zum vielversprechenden Nachwuchstalent im deutschen Kino der Fünfzigerjahre und zu einer möglichen Identifikationsfigur für die junge Generation, da war er 21 Jahre alt. Den entscheidenden Sprung in seiner Karriere vollzog er aber erst fünf Jahre später, als er 1961 die Hauptrolle spielte in Herbert Veselys Das Brot der frühen Jahre, dem ersten Film nach einer Literaturvorlage von Heinrich Böll.
Bölls 1955 entstandene Erzählung war ein präzises Stimmungsbild der deutschen Nachkriegszeit, die gerade in den Wirtschaftswunderjahren angekommen war. Dem jungen Protagonisten, der mit leicht wölfischem Instinkt eine absehbare Aufsteigerkarriere einzuschlagen beginnt, die wohlfeil passen würde zu der seelenlosen Oberflächlichkeit einer vornehmlich an materiellen Werten orientierten neudeutschen Konsumgesellschaft, gelingt am Ende doch noch eine existentielle Abkehr von den vorgezeichneten Bahnen eines oberflächlich-konventionalisierten Lebens ohne Tiefgang durch die unverhoffte Wiederbegegnung mit einer Freundin aus der Schulzeit, durch die er wieder zu Gefühlen findet, die verschüttet waren.
Der Experimentalfilmer Vesely macht daraus in seiner Verfilmung etwas frappierend Eigenes, bricht mit der Linearität der Narration und setzt mit einer im deutschen Kino der damaligen Zeit ungekannten formalen Virtuosität die filmische Version dieser Geschichte aus wechselnden Perspektiven und dadurch strukturell verschachtelt neu zusammen, dabei den Jazz-Impulsen der Musik folgend. Damit markiert Das Brot der frühen Jahre den Anfang einer neuen Welle im deutschen Film, parallel zu der in Frankreich damals aktuellen Nouvelle Vague. Im Mai 1962 läuft der Film als deutscher Beitrag im Wettbewerb von Cannes, evoziert Vergleiche mit Resnais und Antonioni und wird anschließend von einer völlig verständnislosen deutschen Filmkritik in Grund und Boden versenkt, dann folgerichtig auch beim Publikum ein Misserfolg.
Drei Monate zuvor, im Februar 1962 gehörten der Regisseur, der Produzent, der Kameramann und der Hauptdarsteller von Das Brot der frühen Jahre zu den Mitunterzeichnern eines Manifests, mit dem bei den Kurzfilmtagen Oberhausen eine Gruppe von 26 Filmschaffenden verkündete, einen neuen deutschen Film kreieren zu wollen. Das Oberhausener Manifest wurde zur Geburtsstunde des Jungen deutschen Films der 1960er Jahre, und Das Brot der frühen Jahre sollte den Manifestanten als erster in ihrem Sinne fertiggestellter Spielfilm zur anschaulichen Untermauerung ihrer Forderungen als Referenzbeispiel dienen.
Mit 26 Jahren war Christian Doermer der Zweitjüngste der Unterzeichner, jünger war mit 24 Jahren nur Rob Houwer. Nach Oberhausen angereist war man aus München, denn die aktivistische Energie ging aus von einer in München gegründeten »Gruppe für Filmgestaltung«, die sich DOC 59 nannte und zu der auch Peter Schamoni gehörte. Unter Schamonis Regie spielte Christian Doermer 1965 dann noch einmal eine Hauptrolle in einem jetzt so proklamierten »Jungen deutschen Film«: Schonzeit für Füchse.
Heinrich Bölls Erzählung habe ich erst gelesen, nachdem ich die Verfilmung sah, die mich mit ihrer experimentellen Virtuosität beeindruckt hatte, das dürfte Anfang der 1980er Jahre gewesen sein. Und Christian Doermer bin ich persönlich 1987 zum ersten Mal begegnet, da war ich Pressereferent der Kurzfilmtage Oberhausen und auch kuratorisch mit den Festivalaktivitäten zum 25jährigen Jubiläum des Oberhausener Manifests befasst. Dazu gehörte, dass ich eine Fotoausstellung aus dem Archiv der Kurzfilmtage aufbaute, Filme für die Retrospektive beschaffte, die Frank Arnold von Berlin aus zusammenstellte, und die Manifestunterzeichner von damals alle noch einmal nach Oberhausen zu lotsen versuchte.
Die drei Erfolgsregisseure winkten ab. Edgar Reitz wäre gerne gekommen, konnte aber nicht, und Alexander Kluge und Peter Schamoni wollten schlichtweg nicht. Viele aber kamen, darunter auch die Manifestler von Das Brot der frühen Jahre. Produzent Hansjürgen Pohland war schon als Repräsentant der Gruppe in die Jubiläumsvorbereitungen einbezogen gewesen und saß jetzt mit Regisseur Vesely und Hauptdarsteller Doermer auf dem Podium. Die meisten der Manifestunterzeichner saßen jedoch undankbarerweise nur im Parkett und durften sich großzügigerweise einmal erheben und ins Publikum winken. Darunter auch Haro Senft, einstmals der charismatische Anführer der Gruppe, der 1962 im Oberhausener Februar seine Führungsposition in dem Moment verloren hatte, als er sich dazu entschied, dem eloquenten Alexander Kluge die Leitung der Pressekonferenz zu überlassen.
Auf dem Podium saßen auch Filmemacher aus jüngeren Generationen: der 37-jährige Christoph Böll und der 26-jährige Christoph Schlingensief, beide in der Region verwurzelt, Schlingensief in der Tat ein geborener Oberhausener und genauso jung wie Christian Doermer, als er 1962 das Filmgeschichte gewordene Manifest unterschrieb. Die Gesprächsleitung hatte der feine Wolf Donner, einer der besten Filmkritiker in Deutschland, früher mal Filmredakteur bei »Zeit« und »Spiegel«, zeitweise auch Leiter der Berliner Filmfestspiele, damals aber Starkritiker beim Berliner »Tip«-Magazin.
Einem der auf dem Podium versammelten Diskutanten konnte er allerdings nichts entlocken: Herbert Vesely starrte völlig desinteressiert in die Luft und sagte kein einziges Wort. Der redefreudige Christian Doermer fauchte ihn nach dem Podium aufgebracht an: »Und wo war der Herbert?« Doch Vesely wehrte nur missmutig ab, er hatte rundweg keine Lust, sich »von den Oberhausener Kulturfunktionären vor den Karren spannen zu lassen«. Aus seiner Verweigerungshaltung schimmerte auch Verbitterung durch über eine tragisch verlaufene Karriere, er drehte 1987 seinen letzten Film.
Christian Doermer war der einzige der eingeladenen Manifestunterzeichner, der über diese die eigene filmhistorische Leistung würdigende Veranstaltung hinaus auch für den Rest des Festivals in Oberhausen blieb, weil ihn die aktuellen Filme interessierten. Er war jetzt 51 Jahre alt, war nach dem Oberhausener Manifest zum Filmemacher geworden als Produzent, Regisseur und Autor sozialpolitisch engagierter Dokumentarfilme und wie kein anderer aus der Gruppe der Oberhausener Manifestunterzeichner dem Festival über die Jahre stets verbunden geblieben. Ich habe ihn als wachsam-kritischen, neugierig-aufgeschlossenen, auf uneitel-unkomplizierte Weise eigensinnigen Menschen in Erinnerung.
Unvergesslich bleiben mir sein verdutztes Gesicht und seine ungewohnte Sprachlosigkeit nach einem Interview, das er 1987 nach der Jubiläumsveranstaltung in Oberhausen der hochgeschätzten WDR-Kollegin Manuela Reichart gab, die ihm, so sein Eindruck, suggerieren wollte, dass die deutschen Filme der 50er Jahre, mit denen die Oberhausener Rebellen ja so radikal gebrochen hatten, eigentlich doch gar nicht so schlecht gewesen seien. Ein letztes Mal bin ich ihm dann 2016 begegnet, in Locarno bei einem Gala-Empfang für Mario Adorf, der damals mit einem Ehren-Leoparden für seine exorbitante Karriere ausgezeichnet wurde. Beide hatten ihre Karriere im deutschen Film im selben Jahr begonnen, der fünf Jahre ältere Adorf mit einer kleinen Rolle in 08/15 und Doermer mit einer kleinen Rolle in Geliebtes Fräulein Doktor, das war im Jahr 1954.
Auch Christian Doermer war ein Star des deutschen Films und hat in internationalen Filmen gespielt, hat sich dann aber aus dem Rampenlicht zurückgezogen, um selber Filme zu machen, die nicht die große Öffentlichkeit fanden. Vielleicht hätte er auch ähnlich wie Adorf eine große Starkarriere machen können, wenn er diesem Weg weiter gefolgt wäre, hat aber stattdessen eine Abkehr von den vorgezeichneten Bahnen vollzogen wie der Protagonist in Das Brot der frühen Jahre, den er gespielt hat – eine Rolle, die für ihn vielleicht auch in diesem Sinne wegweisend gewesen sein mag.